NEUNZEHN
Es war ein Tag wie aus dem Bilderbuch, dachte Geerd Sedersen, während er durch das Fenster auf das Meer hinausblickte. Das Wasser glitzerte im Licht der Sonne, und am Himmel waren viele Möwen, aber keine einzige Wolke zu sehen. Es wehte ein sanfter Wind oder, wie die Segler es nannten, eine leichte Brise. Diese war gerade richtig für die bevorstehende Regatta, die mit einer Bootsparade begann. Die Ersten verließen gerade den Yachthafen und segelten gemächlich am Kai des Montgomerydok entlang.
Sedersen blickte durch ein Opernglas und suchte van Houdebrincks Boot. Der Unternehmer stand selbst am Steuer, neben ihm war eine junge Frau, die Sedersen als seine Tochter identifizierte. Drei junge Männer bildeten den Rest der Besatzung.
Einer war der Sohn eines Geschäftspartners van Houdebrincks aus der Wallonie. Damit wollte der Industrielle ein Zeichen setzen, ebenso mit der großen schwarz-gelb-roten Fahne am Heck und den gleichfarbigen Bändern, die am Mast flatterten. Auch andere Teilnehmer der Regatta hatten die belgischen Farben aufgezogen, um Treue zu ihrem Heimatland zu bekunden. Im letzten Jahr hatten noch die Fahnen Flanderns das Bild geprägt. Sedersen war damals als Zwengels Gast hier gewesen und erinnerte sich noch gut daran, wie stolz der Nationalistenführer ihn auf diesen Umstand aufmerksam gemacht hatte.
An diesem Tag hockte Zwengel mit mühsam beherrschter Miene auf einem Sessel und würdigte das Geschehen draußen im Hafen und auf dem Meer keines Blickes. Dafür trank er bereits das dritte Glas Cognac, das ihm ein aufmerksamer Kellner serviert hatte.
Sie befanden sich in der obersten Etage des Europa-Centrums in einer Art Clubraum, der vor allem von flämischen Nationalisten benützt wurde. Hierher wurden nur Leute eingeladen, die der Flämischen Bewegung mindestens einhunderttausend Euro im Jahr spendeten. Auch Sedersen ließ diese Summe springen, holte das Geld aber doppelt und dreifach wieder heraus, indem er den radikalen Kräften in Flandern Waffen und Material verkaufte. Das Trauma, zwar die Unabhängigkeit gewinnen zu können, dabei aber große Teile Vlaams-Brabants an die Wallonen zu verlieren, motivierte nicht nur die radikalen Kräfte vom rechten Rand dazu, sich zu bewaffnen. Auch die gemäßigten Parteien stellten seit neuestem Milizen und Schutztruppen auf, und dadurch hatte Zwengel einiges an Einfluss verloren. Sedersen, der seine Fäden weiter spann als der Radikalenführer, hielt sich für den Einzigen, der das Schicksal Flanderns wirklich steuern konnte.
Sein Blick suchte erneut van Houdebrincks Boot, und dabei streichelte er das kleine Handy, das er von Jasten bekommen hatte. Er musste nur eine Taste drücken, dann war von Houdebrinck tot – und mit ihm dessen Tochter und die drei jungen Segler aus Flandern und der Wallonie.
Nun gesellte sich Giselle Vanderburg zu ihm, die zu den eifrigsten Befürwortern der flämischen Unabhängigkeit zählte, und wies auf das Meer hinaus. »Von hier oben hat man wirklich den besten Blick auf die Segelparade, finden Sie nicht auch?«
»Da haben Sie recht, Frau Vanderburg. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass es noch einen schöneren Platz gibt, diese Parade zu genießen, und zwar auf einem der Boote, die daran teilnehmen.« Sedersen lächelte freundlich, denn Giselle Vanderburg sah nicht nur gut aus, sondern war auch eine erfolgreiche Immobilienmaklerin, die ihm schon einige Filetstücke in Flandern besorgt hatte.
Die Frau strich ihr knappes rotes Kostüm glatt, damit ihre Figur noch besser zur Geltung kam, und nickte. »Da haben Sie recht, Herr Sedersen. Während meiner Ehe habe ich mit meinem Mann jedes Jahr an dieser Parade teilgenommen. Ich muss mich berichtigen: mit meinem Exmann. Wir sind seit drei Monaten geschieden. Er nimmt übrigens immer noch an der Parade teil. Doch diesmal hat er ein dummes Huhn an Bord, für das nichts anderes spricht als Silikon im Busen und Botox im Gesicht.«
Sedersen betrachtete Giselle Vanderburg genauer und schätzte sie auf etwa fünfunddreißig. Ihr passte es ganz offensichtlich nicht, dass sie von einer Jüngeren ausgebootet worden war, und so hielt sie nach einem Mann Ausschau, der ihren Exgatten an Bedeutung und Vermögen noch übertraf. Er überlegte, ob die Frau nicht die richtige Partnerin für ihn wäre. Sie kannte in Flandern Gott und die Welt, und eine Ehe mit ihr würde seinen Status in diesem Land erhöhen.
Da er nicht gleich Antwort gab, rümpfte die Frau ein wenig die Nase. Ihr gefiel der schlanke, sportliche Mann, und das nicht nur, weil er reich war. Ihn umgab eine Aura, die ihm etwas Besonderes verlieh, etwas, was sie bisher noch bei keinem gespürt hatte. Es war eine gewisse Härte an ihm und der unbedingte Wille, sein Ziel zu erreichen. Außerdem war er ein bekennender Anhänger eines freien Flanderns und hatte Freunde und Verbündete in den verschiedensten Gruppierungen und Parteien.
Lächelnd lehnte sie sich an ihn und bemerkte zufrieden, wie seine Augen begehrlich aufblitzten. Giselle Vanderburg wusste, wie attraktiv sie war, das verstand sie bei ihren Geschäften durchaus zu nutzen. Allerdings war sie nur selten mit einem ihrer Geschäftspartner im Bett gelandet. Heute aber schien der richtige Tag dafür zu sein.
»Ich hätte einige schöne Angebote für Sie, Herr Sedersen. Vielleicht können wir am Abend darüber reden?«
Er begriff, dass sie damit nicht nur Sex meinte, obwohl es ihn im Augenblick mehr reizte, mit ihr zu schlafen, als Geschäfte abzuschließen. Trotzdem durfte er ihren Einfluss nicht außer Acht lassen. An ihrer Seite konnte er vielleicht selbst in die Politik gehen und sich einen Posten angeln, durch den er noch mächtiger wurde.
Dann aber schüttelte er den Kopf. Obwohl einer seiner Großväter Flame gewesen war, würde ihm seine deutsche Abstammung immer nachhängen. Da war es besser, die Frau vorzuschicken. Giselle Vanderburg würde gewiss eine ausgezeichnete Ministerpräsidentin abgeben. Mit diesem Gedanken legte er ihr den linken Arm um die Schulter und lächelte. »Entschuldigen Sie, ich war eben nicht ganz bei der Sache. Aber noch einmal zu der Parade. Ich würde wirklich zu gerne einmal mitsegeln, doch leider verstehe ich zu wenig davon. Ich bräuchte jemanden, der die Sache in die Hand nehmen kann.«
»Ich verfüge über sämtliche Segelpatente, um eine größere Yacht steuern zu können. Für mich wäre selbst van Houdebrincks Zilvermeeuw nur ein kleines Boot«, sagte Giselle Vanderburg mit einem gewissen Stolz und versäumte es nicht hinzuzufügen, dass ihr Exmann es nicht so weit gebracht habe wie sie. »Er ist über den Küstensegelschein nicht hinausgekommen. Aber so war es bei den meisten seiner Projekte. Er ist immer an seiner Unzulänglichkeit gescheitert, sogar bei unserer Scheidung. Als wir geheiratet haben, fürchtete er, er könne für Verluste bei meinen Immobiliengeschäften haftbar gemacht werden, und hat streng auf Gütertrennung bestanden. Jetzt ist mein Vermögen mehr als zehnmal so groß wie das seine, und er bekommt keinen lumpigen Cent von mir!«
Während der nächsten Viertelstunde enthüllte Giselle Vanderburg etliche Einzelheiten aus ihrer Ehe und ihrem Geschäftsleben, teils, um sich für Sedersen interessant zu machen, teils auch, weil sie froh war, endlich mit jemandem über all das reden zu können. Die meisten ihrer Freundinnen verübelten ihr die Scheidung, weil sie ihren gut aussehenden, charmanten Ehemann angeblich so schofelig behandelt habe, und der Rest interessierte sich mehr für Kosmetik und Mode als für die Gefühle, die in ihr tobten.
Sedersen spürte, dass es ihm leichtfallen würde, diese Frau für seine Pläne einzuspannen. Sie war ehrgeizig und sehnte sich gleichzeitig nach Aufmerksamkeit. Das war genau die Kombination, die er schätzte. Bei all den Überlegungen vergaß er nicht, aus welchem Grund er nach Oostende gekommen war. Er verfolgte van Houdebrincks Boot, das an der Spitze der Parade fuhr und dessen große belgische Fahne herausfordernd zu ihm heraufleuchtete. Wieder streichelte er das kleine Handy in seiner rechten Hosentasche und verspürte eine sexuelle Anspannung, die nach Entladung schrie. Ähnlich hatte er sich gefühlt, wenn er das SG21 auf ein Opfer angelegt hatte. Nun aber wurden diese Gefühle durch die Anwesenheit einer ebenso attraktiven wie willigen Frau verstärkt.
Der Wunsch, den Handyknopf zu drücken und dann mit Giselle Vanderburg in der für ihn reservierten Hotelsuite zu verschwinden, wurde immer mächtiger. Doch noch war van Houdebrinck samt seinem Boot zu nahe am Ufer, und zu viele Segler waren in seiner Nähe, die ihm bei einer Explosion zu Hilfe eilen konnten. Er hatte nichts davon, wenn sein Opfer zwar schwerverletzt, aber noch lebend geborgen und in eine Klinik gebracht wurde. Van Houdebrinck musste sterben. Überlebte der Mann, würde er die flämischen Nationalisten für diesen Anschlag verantwortlich machen und diese mit aller Kraft bekämpfen. Mit dem Nimbus des Märtyrers behaftet, konnte er bei einer Volksabstimmung vielleicht sogar die Mehrheit der Flamen für den Verbleib bei Belgien gewinnen.
Sedersen knurrte bei der Vorstellung und irritierte die Frau neben ihm. »Was haben Sie?«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Auf die Dauer wird es mir langweilig, auf die Boote und das Meer zu starren. Wollen wir nicht an die Bar gehen?«
»Gerne!« Giselle Vanderburg hakte sich bei ihm unter und ließ sich zur Bar führen, die im vorderen Bereich des Clubzimmers eingerichtet worden war. Dort entdeckte Sedersen seinen Fahrer. Er hatte nicht nur Jasten, sondern auch Rechmann in Balen zurückgelassen, damit sie nicht durch einen dummen Zufall in Oostende wiedererkannt wurden. Stattdessen hatte er einen von Lutz Dunkers Kumpanen als Chauffeur mitgenommen. Allerdings war der Kerl kein guter Griff gewesen, wie die Kreuze auf dem Bierdeckel bewiesen.
»Sie sollten jetzt mit dem Trinken aufhören«, sagte er eisig.
Der Bursche starrte auf sein noch halbvolles Glas und streckte die Hand aus, um wenigstens das noch zu leeren. Sedersen war jedoch schneller als er, packte das Gefäß und goss den Inhalt in das kleine Spülbecken hinter der Theke. Dann winkte er den Barkeeper zu sich.
»Dieser Mann hier«, er deutete mit dem Daumen auf seinen Chauffeur, »bekommt heute keine alkoholischen Getränke mehr, verstanden? Ich selbst hätte gerne einen Pierre Ferrand und Sie, liebste Giselle?«
»Ein Glas Veuve Clicquot!« Die Frau lächelte erfreut, als Sedersen zu seinem Cognac auch ein Glas davon bestellte, um mit ihr anstoßen zu können.
Das Gespräch mit der Immobilienmaklerin half Sedersen, seine Anspannung unter Kontrolle zu halten. Giselle wusste intelligent zu plaudern und hielt ihm zwischendurch einige ausgewählte Immobilien wie einen Köder hin. Doch schon bald war sie es leid, nur von Geschäften zu reden, und sah den Mann über den Rand ihres Glases hinweg an.
»Vor dem späten Nachmittag werden die ersten Boote nicht zurück sein. Sollten wir diese Zeit nicht besser für uns verwenden? «
»Das sollten wir!« Sedersen atmete tief durch und zog die Rechte, mit der er Jastens Handy umklammert hatte, aus der Hosentasche.
Für Giselle Vanderburg hatte es so ausgesehen, als würde er sich vor Erregung in den Schritt greifen. Zufrieden lächelnd leerte sie ihr Glas Champagner mit einem anzüglichen Züngeln und schritt anschließend beschwingt auf den Ausgang des Clublokals zu.
Sedersen wollte ihr folgen, doch da hielt sein Chauffeur ihn auf. »Was soll ich jetzt tun?«
Dem Mann war anzusehen, dass es ihm nicht passte, hier auf dem Trockenen zu sitzen. Doch Sedersen war die Gefahr zu groß, dass er in der Stadt weitersaufen würde.
»Sie warten hier auf mich, bis ich zurückkomme«, sagte er und bemerkte zufrieden, wie der andere vor Enttäuschung schluckte. Das nächste Mal werde ich mich wieder von Rechmann fahren lassen, nahm er sich vor und folgte der Frau.
Sein Fahrer stierte ihm neidisch nach. Der Chef konnte trinken, was und so viel er wollte, und jetzt verschwand er auch noch mit einem heißen Feger, an den keine seiner bisherigen Freundinnen heranreichte. Aber so ist nun einmal das Leben, dachte er. Ein Mann wie Sedersen konnte sich alles leisten, während er selbst sich mit einem Glas Bier und irgendeinem Dorftrampel zufriedengeben musste, der bereit war, unter ihm zu zappeln.
»Es wird Zeit, dass wir hier die Macht übernehmen«, sagte er, aber zu seinem Glück leise genug, dass keiner der Anwesenden um ihn herum es hörte. Die Männer und Frauen, die hier versammelt waren, hielten sich für gute Flamen und träumten von dem Tag, an dem sie ihre Fahne am höchsten Mast aufziehen konnten. Mit Männern vom Schlage Zwengels wollten sie jedoch, obwohl viele von ihnen seine Bewegung finanzierten, nicht in einen Topf geworfen werden.