NEUN

Kurz nach Mitternacht brachen sie auf. Mirko Gans durfte sich frei bewegen, seiner Schwester aber blieben die Hände gefesselt, und der Mund war immer noch mit weißem Isolierband verklebt. Damit das aus der Ferne nicht auffiel, hatte Rechmann mit einem im Badezimmer gefundenen Lippenstift einen Mund darauf gemalt.

Auf ihrem Weg nach unten begegneten sie jedoch keinem Menschen. Rechmann und Jasten führten ihre Gefangenen zum Kastenwagen, schoben sie ins Innere und befahlen ihnen, sich hinzulegen. Jasten fuchtelte ihnen dabei mit seiner Pistole vor der Nase herum, so dass es selbst Rechmann zu viel wurde. »Pass auf, dass du nicht aus Versehen damit herumballerst. Und schraub gefälligst den Schalldämpfer auf.« Nachdem sie losgefahren waren, ließ Rechmann das Seitenfenster ein wenig herunter und lauschte auf die Geräusche, die aus der Innenstadt zu ihnen drangen. Anscheinend lieferten sich Dunkers Gesinnungsfreunde immer noch Straßenschlachten mit den Polizeikommandos. Ein Einsatzfahrzeug der Polizei raste so scharf an ihnen vorbei, dass Rechmann instinktiv auf die Bremse trat. Gleichzeitig schlug er Jastens Rechte nach unten, der im ersten Schreck mit der Pistole auf den Polizeiwagen gezielt hatte.

»Idiot! Was wäre, wenn einer von denen die Knarre gesehen hätte?«

»Hat aber keiner! Wie du siehst, fahren sie weiter, ohne sich um uns zu kümmern«, giftete Jasten, obwohl der Tadel seines Kumpans berechtigt gewesen war.

»Dein Glück!« Rechmann gab wieder Gas. Auf Umwegen fuhr er zur Waffenfabrik seines Chefs. Dort ließ er den Wagen ausrollen und zog die Handbremse an. Als er die Fahrertür öffnete, war von den Unruhen in der Stadt nichts mehr zu hören und zu sehen. Zufrieden stieg er aus und bedeutete Mirko Gans, ihm zu folgen.

»Du wartest hier. Pass aber gut auf! Ich werde dich bald brauchen«, sagte er zu Jasten und schob Gans auf das Werkstor zu. Mit der einen Hand hatte er seinen Gefangenen gepackt, und in der anderen hielt er seine mit einem Schalldämpfer versehene Pistole.

Zwei Männer – einer in der dunkelblauen Dienstkleidung von Sedersens Werkschutz, der andere in einem Bundeswehrkampfanzug – kamen von innen auf das Tor zu. Beide hielten ihre Waffen schussbereit, senkten sie aber, als sie im Licht der Außenbeleuchtung Mirko Gans erkannten.

»Frag die beiden, ob hier alles in Ordnung ist«, soufflierte Rechmann seinem Gefangenen.

Der Ingenieur befeuchtete sich nervös die Lippen mit der Zunge und begann dann mit rauer Stimme zu sprechen. »Ist bei euch alles in Ordnung?«

Der Wachmann winkte lachend ab. »Keine Sorge, Herr Gans. Wir haben alles im Griff.«

»Wie viele Leute sind hier und bewachen das Gelände?«, ergriff nun Rechmann selbst das Wort.

Der Wachmann sah ihn misstrauisch an. »Wer sind Sie?«

»Herr Sedersen schickt mich. Er hat von den Unruhen in der Stadt erfahren und will wissen, wie es hier aussieht. Sie können verstehen, dass er besorgt ist!«

»Ach so ist das! Herr Sedersen braucht keine Angst zu haben. Die Fabrik ist sicher. Außer mir ist noch ein Kollege da, dazu kommen drei Mann von der Bundeswehr. Der Feldwebel ist losgefahren, um zu erfahren, was draußen los ist.«

Rechmann wandte sich an Gans. »Haben Sie einen Schlüssel für das Tor?« Als Gans unbewusst nickte, schoss Rechmann. Weder der Wachmann noch der Soldat kamen dazu, zu schreien oder gar ihre eigenen Waffen einzusetzen.

Rechmann sah ungerührt zu, wie die beiden leblos zusammensanken, und versetzte Gans einen Stoß. »Aufschließen, und zwar dalli!«

»Aber … Warum haben Sie sie erschossen? Wenn jemand das gehört hat!«, rief Gans entsetzt.

»Das Ding hier heißt nicht umsonst Schalldämpfer. Und jetzt mach auf. Sonst blase ich dir die nächste Kugel in den Schädel!« Um zu unterstreichen, wie ernst es ihm war, versetzte er dem Ingenieur einen Stoß mit der Waffe und winkte dann Jasten, ihnen zu folgen.

»Es sind noch drei Leute auf dem Gelände. Einer ist unterwegs. Das heißt, wir müssen aufpassen.«

Jasten nickte, obwohl er Aktionen wie diese hasste. In solch einer Situation konnte er selbst eine Kugel einfangen, und die Vorstellung gefiel ihm ganz und gar nicht. Während er das Gelände beobachtete und dabei den Lauf seiner Pistole hin und her schwenkte, zwang Rechmann den Ingenieur, das Tor aufzuschließen. Da er nicht riskieren wollte, dass Gans im Gewirr der Fabrik verschwand oder die Waffe von einem der Toten an sich nahm, um den Wachleuten zu helfen, stieß er ihn vor sich hier.

In der Halle hatte man offenbar bemerkt, dass das Tor geöffnet worden war, denn ein Mann trat aus einer Kabine, in der sich wohl die Überwachungszentrale verbarg. Ein Zweiter streckte den Kopf heraus.

»Einfach weitergehen«, wies Rechmann den Ingenieur an und hielt seine Waffe so hinter Gans’ Rücken, dass sie in dem Halbdunkel nicht von Kameras erfasst werden konnte.

Unterdessen hatte der Wachmann den Ingenieur erkannt und blieb überrascht stehen. »Aber Herr Gans, was machen Sie um die Zeit hier?«

»Herr Sedersen hat uns geschickt, um nachzusehen, ob etwas passiert ist«, sagte Rechmann, da Gans kein Wort mehr herausbrachte.

»Hier ist alles ruhig. Gekracht hat es nur in der Innenstadt«, antwortete der Mann arglos. Dann aber wurde er misstrauisch. »Wo ist mein Kollege? Er muss Sie doch am Tor gesehen haben.«

In dem Moment stürmte Rechmann los und begann zu feuern. Der Wachmann sackte zu Boden, während der Bundeswehrsoldat den Kopf zurückzog, um Rechmann die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Doch der Körper des schwer gebauten Mannes schlug wie ein Rammbock gegen das Türblatt und stieß es auf. Noch in derselben Bewegung richtete er die Waffe auf den Soldaten und drückte ab. Obwohl der andere noch seine MP hochriss, hatte er keine Chance.

»Bleibt nach Adam Riese noch einer. Los, Karl, gib mir Feuerschutz. « Rechmann ließ Jasten und Gans hinter sich zurück und rannte weiter zum Aufenthaltsraum der Wachleute. Dort kam gerade ein junger Mann in Uniform heraus, der sich krampfhaft an seiner Waffe festhielt.

Rechmann sah ihm seine Angst an. »Mach keine Dummheiten, die du später einmal bereuen könntest. Wirf die Waffe weg, dann passiert dir nichts!«

Der Soldat zögerte. Zwar hätte er Rechmann über den Haufen schießen können, doch seine Phantasie gaukelte ihm Dutzende von Angreifern vor. Beinahe in Zeitlupe senkte er den rechten Arm und ließ die Waffe fallen. Er kam nicht einmal mehr dazu, die Hände zu heben, denn Rechmann zog den Stecher durch.

Doch die Pistole hatte Ladehemmung. Während er wütend mit dem Handballen gegen den Abzug hämmerte, kam Leben in den Soldaten, und er bückte sich nach seiner Waffe. Bevor er sie auf Rechmann anschlagen konnte, klang zweimal ein gedämpftes Plopp auf. Mitten im Schritt zur Seite zuckte der Soldat zusammen. Die MP entglitt seinen Händen, und er schlug zu Boden.

Jasten kam auf Rechmann zu und feixte. »Na, Rambo? Heute hast du anscheinend dein Kampfmesser nicht dabei. Beinahe hätte es dich erwischt.«

»Halt’s Maul! Wir müssen einen Zahn zulegen, denn wir wissen nicht, wann der letzte Bundesheini zurückkommt. Schaff die beiden Leichen herein und leg sie dort hinten ab. Bring auch die Alte aus dem Wagen hierher. Ich will sie nicht zu lange allein lassen. Sie könnte sonst versuchen, sich zu befreien. Und was ist mit Gans?«

»Den habe ich mit einem Kabelbinder an die Drehbank gefesselt«, antwortete Jasten lachend.

»Gut. Und jetzt weiter. Wir sind nicht zum Vergnügen hier.« Während Rechmann sein Ersatzmagazin in die Pistole schob, schleifte Jasten den toten Soldaten nach vorne. Rechmann holte den zitternden Gans und stieß ihn in die Halle.

»Wo ist die Munition für das Spezialgewehr?«, bellte er ihn an.

Gans wies auf eine Falltür, die so geschickt angebracht war, dass Rechmann sie erst auf den zweiten Blick als solche identifizierte. »Dort unten sind die Patronen und alle Werkstücke des Gewehrs, die ich als Ausschuss gekennzeichnet habe.«

»Du bist ein ganz Schlauer, was? Du wolltest nicht nur die Pläne des Gewehrs, sondern auch gleich einen Prototyp an wen auch immer verkaufen.« Rechmann klopfte Gans lachend auf die Schulter.

Der schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht! Die Bundeswehr wollte alle Teile abholen lassen.«

»Ohne dass du dabei etwas gedreht hast? Aber klar … Mach das Ding auf!«

Ein weiterer Stoß traf Gans. Dieser holte zitternd seinen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die Falltür.

»Halt, hiergeblieben! Ich möchte zuerst sehen, was da unten ist«, rief Rechmann, als der Ingenieur hinabsteigen wollte. Er scheuchte Gans in eine Ecke und stieg selbst hinab. Das Kellergeschoss war in mehrere streng voneinander abgetrennte und gesicherte Räume aufgeteilt. In einem standen Fässer eines leicht brennbaren Reinigungsmittels. Ein anderer am gegenüberliegenden Ende verfügte über besonders dicke Mauern. Als Rechmann diesen mit einem Schlüssel von Gans’ Schlüsselbund öffnete, wunderte er sich nicht, zahlreiche Kisten einer hochbrisanten Schießpulvermischung zu sehen. Obwohl hier pro Tag nur wenige Stücke der aufwendig herzustellenden Geschosse für das SG21 gefertigt wurden, war genug Pulver vorhanden, um eine ganze Brigade mit solchen Patronen ausrüsten zu können.

Rechmann kam das Zeug gerade recht. Er rief Gans zu sich und befahl ihm, die Kisten nach oben zu tragen und an der Stirnwand zu stapeln. Der Mann gehorchte ihm widerspruchslos, er klammerte sich an die Hoffnung, mit heiler Haut davonkommen zu können.

Im letzten Kellerraum, der mit einem Spezialschloss versehen war, fand Rechmann in zwei olivgrünen, länglichen Kisten schließlich das, was er suchte. Eine enthielt etwa fünfzig fertige Spezialpatronen, die andere die angeblichen Ausschussteile des Spezialgewehrs. Rechmann brachte beide Kisten selbst nach oben und verstaute sie im Kastenwagen.

Die geheime Waffe
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