ACHTZEHN

Henriette hielt die Stellung, solange sie es vermochte. Als oben auf dem Kai Leute herumliefen, presste sie sich gegen die Mauer, um nicht entdeckt zu werden. Zwei, drei Augenblicke später aber forderte der Riesenfrachter ihre ganze Aufmerksamkeit. Er kam bedrohlich näher und würde, wie es aussah, genau an der Stelle anlegen, an der sie sich befand. Damit hatte Renk gewiss nicht gerechnet. Eilig band sie die Ausrüstungsgegenstände, die er bei ihr zurückgelassen hatte, aneinander und befestigte sie ebenso wie den Scooter an einem Krampen ganz unten auf dem Boden des Hafenbeckens, damit nichts in den Wirbeln, die das Schiff verursachte, auftauchte und die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Sie sah sich noch einmal kurz an der Wasseroberfläche um, konnte aber nichts anderes wahrnehmen als den näherkommenden Schiffsrumpf und die Menschen oben auf dem Kai. Dann wurde es für sie Zeit abzutauchen. Mit einem bangen Blick streifte sie das dünne Kabel, das sie mit ihrem Begleiter verband. Sie konnte nur hoffen, dass es sich in dem aufgewühlten Wasser nicht irgendwo verhakte und riss. Auch bestand die Gefahr, dass einer der Arbeiter, die nun auf dem Kai herumwuselten, über die Leine stolperte und sie entdeckte.

Mit dem Gefühl, zu lange gewartet und ihren Partner enttäuscht zu haben, hangelte sie sich wieder an den eisernen Krampen hinab, bis sie den Grund des Hafenbeckens erreichte, und befestigte den wild kreisenden Scooter mit einer zweiten Sicherungsleine, damit er sich nicht losriss. Als sie nach oben schaute, sah sie einen schier endlosen, dunklen Schatten, der sich über sie senkte.

Gleichzeitig wurde der Sog der Schiffsschrauben, die das Wasser unter dem Kiel in einen Hexenkessel verwandelten, so stark, dass sie den Karabiner der letzten Sicherungsleine an ihrem Gürtel befestigte und das Gegenstück an dem vorletzten Krampen. Die vorderen Schiffsschrauben, die der Steuerung dienten, ließen zu ihrem Glück nur eine Kreisbewegung entstehen, aber die hinteren rissen das Wasser unter dem Schiff weg. Einen Augenblick fürchtete Henriette voller Panik, ihr Sicherungsseil würde nicht standhalten. Wenn es riss, würde sie auf das Heck zugesaugt und von den hinteren Schiffsschrauben in Stücke geschlagen werden.

Dann aber schüttelte sie die Angst ab und klammerte sich an die Krampen der Leiter. Das Schiff war nun fast über ihr, zwischen dessen flachem Boden und dem Grund des Hafenbeckens blieb kaum mehr als ein Meter freier Raum. Erneut schaltete der Lotse die Schiffsschrauben ein, und sie wurde wie von der Faust eines Riesen gepackt und nach hinten gezerrt.

Wenn der Gürtel reißt, bin ich geliefert, schoss es ihr durch den Kopf, und sie klammerte sich mit beiden Armen an die Krampen. Gleichzeitig spürte sie, wie der Scooter in den Sog der Schraube geriet und wild hin und her taumelte. Wenn das Gerät sie erwischte, würde es ihr die Knochen brechen. Zudem bestand die Gefahr, dass Renks Sachen verlorengingen, und dann konnte er nicht mehr tauchen. Daher zerrte sie, als der Sog einen Augenblick nachließ, mit einer Hand das Bündel an sich, klemmte es zwischen Oberschenkel und Bauch ein und verhakte beide Beine in den Krampen. In dieser Embryonalstellung hing sie eine schier endlos lange Zeit an der Kaimauer und sprach unwillkürlich eines der Gebete, die ihr ihre streng katholische Mutter beigebracht hatte.

Der Schiffsmotor machte einen Lärm, der ihr die Trommelfelle zu zerreißen schien, und es gab nichts mehr außer ihr selbst und ihrem Willen zu überleben. Sie wurde hin und her geworfen und prallte mehrfach so hart gegen die Kaimauer, dass sie glaubte, ihre Knochen würden zertrümmert. Dennoch spürte sie keinen Schmerz, sondern nur eine entsetzliche Angst, die ihr unerwartete Kräfte verlieh.

Wie lange dieser Zustand andauerte, hätte sie hinterher nicht mehr zu sagen vermocht. Irgendwann hörten die Schiffsschrauben auf, sich zu drehen, und die mächtigen Dieselmotoren verstummten.

Es dauerte eine Weile, bis Henriette begriff, dass sie es überstanden hatte. Das Wasser um sie herum bestand nun zu einem großen Teil aus Schlamm, und die Sicht wurde so schlecht, dass sie nicht einmal mehr den Boden des Schiffes sehen konnte, obwohl sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren.

Jetzt erinnerte sie sich auch wieder an Renk. »Herr Oberleutnant, hören Sie mich?«, rief sie erschrocken. Für einige Augenblicke blieb es still, doch dann hörte sie Renk so laut reden, als stünde er direkt neben ihr.

»Leutnant, endlich! Wo sind Sie?«

»Da, wo Sie vorhin aus dem Wasser gestiegen sind, nur auf dem Boden des Hafenbeckens.«

»Sind Sie verletzt?«

Henriette schüttelte den Kopf, obwohl das in dem Schlammwasser wirklich niemand sehen konnte. »Nein, mir geht es gut!«

Das war eine höllische Übertreibung, denn jetzt, da die unmittelbare Gefahr vorbei war, spürte sie jeden Stoß, den sie erhalten hatte, doppelt und dreifach.

»Bleiben Sie da, wo Sie sind, und wickeln Sie das Kommunikationskabel langsam ein. Ich versuche, zu Ihnen zu kommen!«

Danach schwieg Renk, doch Henriette konnte seine keuchenden Atemzüge hören. Während sie wartete, überlegte sie, wie weit er von ihr entfernt sein konnte. Mehr als die hundert Meter, die das Kabel maß, sicher nicht. Doch dazwischen war alles möglich. Es konnte sogar sein, dass er in der falschen Richtung suchte und irgendwann das Kabel abreißen würde. Oder es riss, weil es zu tief im aufgewühlten Schlamm steckte. Es war schon ein Wunder, dass es bis jetzt gehalten hatte.

Während ihre Gedanken in einem wirren Tanz hüpften, holte sie langsam das Kabel ein. Plötzlich verstummten seine Atemgeräusche, und sie kämpfte gegen einen Panikanfall an. Ihr Entsetzen wurde noch größer, als sie auf einmal das andere Ende des Kommunikationskabels in der Hand hielt, ohne dass Renk daran hing. Noch während sie sich fragte, was mit ihm passiert sein könnte, spürte sie eine Berührung an der Schulter. Sehen konnte sie in der Schlammbrühe zwar nichts, doch ihre tastenden Hände zeigten ihr, dass es sich um ihren Begleiter handeln musste.

Er tippte sie noch einmal an und zog sie in eine Richtung. Der Karabinerhaken, mit dem sie sich an dem Eisengriff befestigt hatte, hielt sie jedoch auf. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihn und folgte Renk. Im letzten Augenblick dachte sie an das Bündel mit den Ausrüstungsgegenständen und den Scooter, löste beides von dem Krampen und zog es hinter sich her.

Die geheime Waffe
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