ZWEI
Henriette und Torsten verließen das Haus, ohne Frau Leclerc zu begegnen und ihr erklären zu müssen, warum sie sich zu nächtlicher Stunde mit einer Reisetasche auf den Weg machten. Während sie in Richtung Villa gingen, hingen sie stumm ihren Gedanken nach. Henriette versuchte der Angst Herr zu werden, einen Fehler zu machen und damit die ganze Aktion zu gefährden. Torsten hingegen überlegte, wie er an einen Beweis für Sedersens Schuld gelangen konnte.
Schon kurz darauf mussten sie darauf achten, nicht in den Bereich der Suchscheinwerfer zu geraten, mit denen Sedersen den Gebäudekomplex und einen Teil des Flughafens ausleuchten ließ. Nach einem Zickzackkurs mit mehreren Zwischenspurts erreichten sie unbemerkt die Umfassungsmauer, die den Stützpunkt der Freischärler umgab. Torsten machte ein Zeichen, als wolle er neue Anweisungen geben. Da hörten sie jenseits der Mauer Schritte.
»Vorsicht!«, raunte er Henriette zu. »Unsere Freunde machen Rundgänge. Wir müssen herausfinden, in welchem Abstand sie wiederkommen.«
Da er kein Risiko eingehen durfte, bedeutete dies, notfalls stundenlang an dieser Stelle zu verharren. So weit kam es aber nicht, denn sie fanden rasch heraus, dass die Wachen ihre Rundgänge im Halbstundenrhythmus durchführten.
Kaum hatten die Freischärler zum zweiten Mal ihren Standort passiert, versetzte Torsten seiner Begleiterin einen aufmunternden Klaps.
»Auf geht’s!« Rasch schlüpfte er aus T-Shirt und Jeans und stand im schwarzen Trikot vor ihr. Jetzt zog er die Kapuze über und schwärzte sich das Gesicht. Für ein paar Sekunden sah Henriette seine Augen im Widerschein des Flutlichts hell aufleuchten. Dann setzte er die Nachtsichtbrille auf und begann, ihre Ausrüstung auszupacken.
Erst jetzt wurde Henriette bewusst, dass sie noch immer wie erstarrt dastand. Nach einem tiefen Durchatmen entledigte auch sie sich ihrer Alltagskleidung, legte diese zusammen und reichte sie Torsten. Er verstaute sie mit seinen eigenen Sachen in der Reisetasche und versteckte diese unter einem Busch etwa zwanzig Meter von der Mauer entfernt. Als er zurückkehrte, reichte er seiner Begleiterin vier kleine Kissen, an denen Bänder mit Klettverschlüssen befestigt waren.
Obwohl Henriette im Pensionszimmer auf Torstens Rat hin die sich eigenartig anfühlenden Polster mehrmals angelegt und an der Wand getestet hatte, tat sie sich im Dunkeln schwer. Noch während sie mit dem ersten Teil kämpfte, hatte Torsten zwei Kissen an den Knien und zwei an den Ellenbogen befestigt. Jetzt half er ihr, sie ebenfalls anzulegen, und heftete ihr den Beutel mit ihrer Ausrüstung mit Klettverschlüssen auf den Rücken.
Dann deutete er nach oben. »Wir klettern jetzt zusammen auf die Mauer und warten unterhalb der Kante, bis die Suchscheinwerfer in eine andere Richtung gewandert sind. Dann steigen wir über den Draht und klettern auf der anderen Seite hinunter. Verstanden?«
»Das war eine klare Anweisung, Herr Oberleutnant. Ich werde es schaffen.«
»Das sollten Sie auch. Ich kann Sie ja schlecht über den Zaun werfen.« Torsten grinste und verstaute seinen Ausrüstungsbeutel auf dem Rücken. »Also noch mal: Dort oben ist Stacheldraht, und der dürfte unter Strom stehen. Aber solange wir nicht mit blanker Haut daran kommen, stört uns das nicht. Unsere Anzüge und Handschuhe bestehen aus einer speziellen Mikrofaser, die uns gegen elektrische Schläge schützt und auch nicht so leicht zerreißt, falls wir hängen bleiben sollten. Also bewegen Sie sich nicht zu zaghaft.«
»Verstanden, Herr Oberleutnant!« Aus Angst, jemand könnte sie hören, wisperte Henriette nur.
Torsten klopfte ihr noch einmal auf die Schulter und zeigte dann auf die Kissen an den Knien. »Mit diesen Dingern können Sie sich an jeder Wand hochhangeln. Sie müssen sie nur richtig einsetzen. Was habe ich Ihnen vorhin erklärt?«
»Ich muss sie kräftig gegen die Wand drücken und sie langsam abrollend wieder lösen«, erklärte Henriette mit belegter Stimme. Auch wenn die Mauer nicht besonders hoch war, konnte sie nicht glauben, dass sie wie eine Fliege daran hochklettern sollte.
Torsten nickte. »Es ist ärgerlich, dass Sie nur kurz mit diesen Haftkissen geübt haben. Also konzentrieren Sie sich bei jeder Bewegung auf das, was ich Ihnen gesagt habe.«
Ausnahmsweise war Henriette mit ihm einer Meinung. Bislang war sie noch mit allen Problemen fertiggeworden, und das hatte sie auch jetzt vor. Sie sah zu, wie Torsten an die Mauer trat, das rechte Bein hob und das am Knie befestigte Kissen mit einer knappen, aber kraftvollen Bewegung dagegenpresste. Dasselbe machte er mit dem linken Ellbogen. Nun begann er zu klettern.
Er erinnerte Henriette weniger an ein Insekt als an eine Eidechse, die sich gemächlich an der glatten Wand hochhangelt. Mit einem flauen Gefühl im Magen folgte sie seinem Beispiel und presste das erste Kissen gegen die Mauer. Es hielt. Auch das zweite Kissen sog sich förmlich daran fest. Nun verstand sie auch, weshalb Renk diese unbequemen Kissen verwendete. Im Gegensatz zu Saugnäpfen brauchten sie keinen glatten Untergrund, sondern ließen sich auf unebenen Flächen verwenden.
Als Renk oben angelangt war, befand sie sich bereits auf halber Höhe. Sie wäre noch schneller vorwärtsgekommen, wenn sie die Haftkissen mit den Händen hätte bedienen können. Aber ihr Vorgesetzter hatte darauf bestanden, dass sie die Hände frei haben mussten, um jederzeit die Waffen ziehen zu können.
Während Henriettes Gedanken wie Schmetterlinge umherflogen, schloss sie zu Torsten auf. Er fasste sie an der Schulter und drückte sie ein wenig zurück.
»Vorsicht, der Scheinwerfer!«
Henriette kauerte sich an die Wand und sah den hellen Kegel des Scheinwerfers über sich hinwegstreichen. Kaum war es wieder dunkel, kletterte Torsten weiter. Sie sah, wie er sich mit zwei Fingern am Draht festhielt, ohne einen elektrischen Schlag zu bekommen, und tat es ihm gleich, obwohl ihr ein wenig mulmig zumute war. Doch als sie den Draht berührte, passierte nichts, und sie überwand das Hindernis schneller, als sie es sich hätte vorstellen können. Wie Renk löste sie das letzte Klebekissen von der Außenseite, stieg in der gleichen Bewegung über die Stacheldrahtkrone und hing im nächsten Moment innen an der Mauer.
Der Abstieg dauerte nicht ganz so lange, weil sie sich ein Stück fallen lassen konnten. Als die Suchscheinwerfer das nächste Mal die Stelle ausleuchteten, an der sie hereingekommen waren, befanden sie sich bereits hundert Meter weiter im Schatten eines Kleinbusses und sahen sich um.