NEUN

Obwohl Torsten sich beeilt hatte, wartete Henriette bereits am Tor auf ihn. »Sie sind sehr pünktlich«, sagte sie nach einem Blick auf die Uhr.

»Sie aber auch!« Torsten musterte die junge Frau neugierig. Bis jetzt hatte er sie immer nur in ihrer blauen Luftwaffenuniform gesehen, doch jetzt steckte sie in eng anliegenden Jogginghosen und einem weißen T-Shirt. An den Füßen trug sie Turnschuhe ähnlich den seinen. Er selbst hatte eine graue Hose und ein gleichfarbiges Trägerhemd angezogen. Auf dem Kopf hatte er eine Baseballmütze mit dem Emblem der San Francisco 49ers.

»Wohin geht es?«, fragte Henriette, da Torsten sich nicht rührte.

»Nach links«, antwortete er und gab dem Wachtposten das Zeichen, die Gittertüre zu öffnen.

»Viel Spaß, Renk«, rief dieser ihm nach.

»Hier kennt Sie anscheinend jeder. Ist das für einen Geheimdienstmann eigentlich okay?«, fragte Henriette, als sie nebeneinander die schmale Straße entlangtrabten, die zum Starnberger See führte.

Torsten zuckte mit den Schultern. »Einige Kameraden waren in Afghanistan und kennen mich von dort. Für die war ich so etwas wie ein Wachhund, der aufgepasst hat, dass ihnen nichts passiert.«

»Eine Frage: Warum ist Major Wagners Gruppe hier in Feldafing stationiert und nicht in München bei der dortigen Dienststelle?«, fragte Henriette weiter.

»Wir sind hierher ausgelagert worden. Früher gehörten wir zur Abteilung IV, aber unser Aufgabengebiet hat sich geändert. Die meisten von Wagners Leuten sind mit unseren Soldaten im Ausland unterwegs und spielen Wachhund. Das ist eigentlich auch mein Job. Aber derzeit spule ich meinen vorgeschriebenen Dienst in der Heimat ab. Nach einem halben Jahr im Ausland müssen wir mindestens drei Monate zu Hause bleiben. In der Zeit helfen wir in den anderen Abteilungen aus. Das ist derzeit auch Wagners Problem. Es geht einfach zu viel schief.« Nach seiner grimmigen Miene zu urteilen, drehte Renk gerade den Leuten, die an all diesen Schwierigkeiten schuld waren, in seiner Vorstellung den Hals um.

Henriette tat sich zunehmend schwer. Ihr Ausbilder schlug ein strammes Tempo an, und sie merkte, dass sie ihr Konditionstraining in der letzten Zeit vernachlässigt hatte. Eine Zeit lang liefen sie stumm nebeneinander am See entlang.

Bald hatte sie sich so weit erholt, dass sie wieder reden konnte. »Dieser Typ bei der Waffenausgabe, Hans Borchart, hat in den höchsten Tönen von Ihnen geschwärmt. Er hat gesagt, Sie hätten ihm das Leben gerettet. Ist das, was Sie damals getan haben, Ihr normaler Job?«

»Mein Job wäre es gewesen, den Anschlag zu verhindern. Aber bringen Sie mal als Europäer eine einheimische Frau auf einem afghanischen Markt dazu, sich auszuziehen.«

»Ich kann mir vorstellen, dass das mit Schwierigkeiten verbunden ist«, sagte Henriette lachend.

»Ein US-Sergeant, der es in Lashkar probiert hat, ist von der Meute in Stücke gerissen worden, und die Amis hatten durch den folgenden Aufstand mehr Verluste, als wenn der Mann es zugelassen hätte, dass die Frau die Bombe zündet.«

»Wissen Sie, dass Sie gelegentlich recht zynisch klingen?«

»Nur gelegentlich? Ich scheine mich zu bessern. Meine letzte Freundin meinte noch, mein Leben bestünde nur aus Zynismus.«

Eine Freundin hatte Renk also auch – oder vielmehr gehabt. Dem bitteren Zug um seinen Mund nach schien diese Beziehung in die Brüche gegangen zu sein. Zunächst spottete Henriette in Gedanken darüber, dass es keine Frau bei einem Typen wie Torsten Renk aushalten könnte. Dann tat er ihr leid, allerdings nur so lange, bis er erneut das Tempo verschärfte und sie die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht zurückzubleiben.

Als sie ein Waldstück erreichten, legte Torsten erst richtig los. Henriette konzentrierte sich auf ihre Atmung, um nicht durch plötzliches Seitenstechen behindert zu werden, und auf den Weg, der eher einem Kartoffelacker glich. Renk hatte ihr nicht zu viel versprochen, nun ging es wirklich über Stock und Stein. Doch wenn er geglaubt hatte, ihren Willen damit brechen zu können, sah er sich getäuscht. Sie klebte wie ein Schatten an ihm und hielt jede Tempoverschärfung mit.

Wider Erwarten nötigte Henriette Torsten Respekt ab. Die kleine Halbphilippinin war zäh und ausdauernd. Trotzdem nahm er an, dass sie diesen Geländelauf nicht mehr lange würde durchstehen können. Selbst ihm wurden bereits die Beine schwer, und er ertappte sich dabei, dass er hastiger atmete. Schließlich wurde er langsamer und gab damit auch Henriette die Möglichkeit, sich etwas zu erholen.

»Joggen in der freien Natur hat schon was für sich«, rief sie, um zu beweisen, dass sie noch lange nicht am Ende war.

Torsten musste ein paarmal durchatmen, bevor er antworten konnte. »Deshalb laufe ich mindestens dreimal die Woche diese Strecke, und zwar bei jedem Wetter. Im Winter ziehe ich Laufschuhe mit Spikes an.«

»So ein Paar werde ich mir auch besorgen. Zu zweit macht so ein Lauf viel mehr Spaß als allein!«

»Wenn ich allein bin, kann ich meinen Gedanken freien Lauf lassen. Das kann in unserem Job durchaus von Vorteil sein.«

»Ich werde Sie schon nicht mit irgendwelchem Geschwätz stören. Sie geben einfach das Tempo vor, und ich trabe hinter Ihnen her.« Henriette gelang es sogar zu lachen, als sie Renks verdatterten Gesichtsausdruck sah.

Sie hatte den Eindruck, als kratze sie an seinem männlichen Selbstgefühl, und das machte ihr zunehmend Spaß. Langsam begann sie sich mit dem Schicksal auszusöhnen, ausgerechnet ihn als Vorgesetzten erhalten zu haben. Immerhin konnte sie ihrem Vater Neues über Renk berichten. Den General würde sicher interessieren zu hören, dass der Oberleutnant in Afghanistan einen Kameraden aus einem brennenden Spähwagen herausgeholt hatte. Außerdem konnte sie ihm von ihrem ersten Schießtraining berichten.

Ihre Gedanken kamen wieder auf den Vorfall in Afghanistan zurück. »Darf ich etwas fragen?«

Torsten wandte sich im Laufen halb um. »Schießen Sie los!«

»Ich dachte eben an Hans Borchart. Weshalb muss jemand mit solchen körperlichen Schäden wie er noch in der Kaserne Dienst tun? Er hat doch Anspruch auf eine Rente und könnte es sich zu Hause gemütlich machen.«

»Wollen Sie einen jungen Mann von gerade mal vierundzwanzig Jahren, der, wie Sie sagen, körperliche Schäden davongetragen hat, nach Hause schicken, damit er seine Unzufriedenheit an seiner Frau auslässt? Da ist es tausendmal besser, ihm eine Arbeit zu geben, für die er geeignet ist und bei der er das Gefühl hat, gebraucht zu werden. Hier in der Kaserne kommt er mit Kameraden zusammen, und für die Neuen ist er sogar so etwas wie ein Held. Auf diese Weise geht Hans ausgeglichen nach Hause und freut sich auf seine Frau und das Kind, das bald zur Welt kommen wird.«

Zuletzt hatte Renk sich ein wenig in Rage geredet. Henriette schluckte. »Sie haben recht! Der Mann ist durch den Verlust seiner Gliedmaßen gestraft genug. Ihm jetzt auch noch einen seelischen Schaden zuzufügen wäre grausam.«

»Erstens das, und zum Zweiten ist mir Hans an der Waffenausgabe tausendmal lieber als irgendein uninteressierter Freak, der nur seine Dienstzeit auf möglichst bequeme Weise hinter sich bringen will, oder jemand wie Mentz, der sich für bedeutender zu halten scheint als der Verteidigungsminister.«

»Da haben Sie ebenfalls recht, Herr Oberleutnant. Aber sollten wir jetzt nicht ein bisschen Gas geben? Wir sind ein wenig langsam geworden.«

Torsten knurrte kurz, beschleunigte dann aber in einer Weise, dass Henriette ein Stück hinter ihm zurückblieb. Doch mit der Verbissenheit, die sie sich in den bisherigen zweiundzwanzig Jahren ihres Lebens angeeignet hatte, holte sie wieder auf, und sie erreichten die Kaserne fast gleichzeitig. Kurz nach dem Eingang trennten sie sich. Henriette zitterten die Knie, und sie wusste, dass sie am nächsten Tag einen fürchterlichen Muskelkater haben würde. Doch die Tatsache, dass es Renk kaum besser gehen würde als ihr, söhnte sie mit ihrer momentanen Schwäche aus.

Die geheime Waffe
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