SECHZEHN

Die Angst, abgehört zu werden, brachte Henriette und Torsten dazu, über dienstliche Dinge zu schweigen. Sie sagten auch nichts über den jungen Flamen, auf den sie beide ihre Hoffnung setzten. Stattdessen erzählte Torsten ein wenig von Afghanistan, in dem er ein Jahr verbracht hatte. Seine Zeit im Sudan streifte er allerdings nur kurz und vermied es dabei, über Hans Joachim Hoikens zu sprechen, den er dort als aktives Mitglied einer besonders gefährlichen Gruppierung der rechten Szene entlarvt hatte.

Henriette hörte ihm interessiert zu und merkte erst nach einer Weile, dass sie beinahe ihre eigene Lage vergessen hatte. »Sie müssen mir irgendwann mehr über Ihre Auslandseinsätze erzählen, Herr Oberleutnant. Aber das hat Zeit, bis wir wieder draußen sind.«

Dunker, der sie belauschte, begann bellend zu lachen und riss die Tür auf. »Hier heraus kommt ihr nur noch auf einem Weg, und der führt direkt in die Hölle. Aber was mich interessieren würde: Geht es bei euch Gebirgstrachtenvereinlern immer so förmlich zu mit ›Jawohl, Herr Oberleutnant, aber selbstverständlich, Herr Oberleutnant‹? Sagt das die Kleine auch, wenn du sie bumst?«

»Der Kitt der Armee ist Disziplin. Aber dieser Begriff ist für dich und deine Kumpane ein Fremdwort. Ihr seid keine Soldaten, sondern bloß Gesindel.«

Torstens Stimme klang so verächtlich, dass Dunker sich drohend in der Tür aufbaute. »Pass ja auf, mein Lieber! Wenn du so weitermachst, poliere ich dir die Fresse, dass du ein Gebiss brauchst.«

»Komm doch herein! Mir dir werde ich auch mit angebrochenen Rippen fertig.«

»Was soll das? Warum reizen Sie diesen Kerl?«, fragte Henriette besorgt.

Torsten zuckte mit den Achseln. »Vielleicht, weil mir seine Visage nicht gefällt.«

In Wahrheit wollte er Dunker so weit bringen, dass dieser sich richtig in Szene setzte und dabei mehr über die Pläne seiner Gruppe verriet.

Henriette schüttelte nur den Kopf, setzte sich an die hintere Wand und lehnte sich zurück. Mit einem Schmerzenslaut und einem verzerrten Gesicht, als sei er stark angeschlagen, setzte Torsten sich in ihre Nähe und kehrte Dunker dabei den Rücken zu.

Dieser hieb mit der Hand durch die Luft, verzog sich aber ohne ein weiteres Wort zu seinen Kumpanen und schloss die Tür.

»Entweder weiß der Kerl wirklich nichts, oder er hält von Natur aus dicht«, flüsterte Torsten Henriette zu.

Diese begriff nun seine Absicht und hob bedauernd die Hände. »Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe, Herr Oberleutnant. Aber das da ist der unsympathischste Kerl, der mir je untergekommen ist.«

»Auf meiner persönlichen schwarzen Liste stehen noch ein paar Leute über ihm, Sedersen zum Beispiel, Rechmann oder Jasten. Aber Dunker kommt gleich dahinter.« Torsten lehnte sich ebenfalls an, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und blickte starr vor sich hin.

»Kann ich Sie etwas fragen, Herr Oberleutnant?«

Torsten drehte sich so, dass er sie anblicken konnte. »Sie können mich jederzeit fragen. Im Moment habe ich nichts anderes zu tun, als Ihnen zuzuhören.«

Henriette gluckste. »Ihnen kann man die Laune anscheinend nicht so rasch verderben!«

»Ich habe nichts davon, wenn ich jetzt den Kopf hängen lasse. Es macht mich nur verwundbar.«

»… und das mögen Männer nicht. Das kenne ich von meinen Brüdern. Sie sind ihnen irgendwie ähnlich.«

»Ich bin kein niedersächsischer Preisbulle«, antwortete Torsten unerwartet scharf.

Henriette musste lachen. »Wenn, dann westfälische Preisbullen! Aber ich meine nicht die Größe. Ich meine das hier.« Sie zeigte mit der Rechten auf ihren Kopf.

»Danke! Dabei war ich gerade dabei, Sie halbwegs sympathisch zu finden«, antwortete Torsten, der den Vergleich mit den männlichen von Tarows ätzend fand.

»Ich meine es ernst«, sagte Henriette noch immer belustigt, »Sie sind irgendwie eine Mischung aus Dietrich und Michael. Nicht ganz so von sich überzeugt wie mein älterer Bruder und nicht ganz so verletzlich wie der jüngere.«

Torsten stieß einen spöttischen Laut aus. »Michael von Tarow und verletzlich? Der Kerl hat das Gemüt eines Fleischerhunds. Er ist …«

»Alles Tarnung. Er hat Angst davor zu versagen und will deshalb immer der Beste sein.«

»Ich glaube, das ist eine Familienkrankheit!«, stichelte Torsten.

»Wenn Sie mich damit meinen, so muss ich mir diesen Schuh anziehen. Um überhaupt etwas zu gelten, musste ich immer die Beste sein.« Für einen Augenblick gab Henriette einen Teil von sich preis.

Torsten spürte ihre Verletzlichkeit, die sie mit eiserner Disziplin übertünchte, und begriff, dass seine Bemerkung nicht gerade glücklich gewesen war. »Ich wollte Sie nicht kränken, und ich habe eigentlich auch nichts gegen Ihre Brüder. Dietrich von Tarow war mein Kompanieführer bei meiner Grundausbildung. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man frisch zur Bundeswehr gekommen ist und dann so einem Mann in die Klauen gerät? Hauptmann von Tarow kann alles, weiß alles und ist in allem zehnmal besser als jeder andere.«

»Eine gute Charakterisierung von Dietrichs Selbstverständnis. Er ist mit Leib und Leben Soldat und will, dass seine Männer die Besten sind, weil er sagt, dass nur die Besten eine Chance haben.«

»Das könnte sogar stimmen. Wir haben damals mehrere Wettbewerbe gegen andere Ausbildungskompanien gewonnen. Ihr Bruder hat uns dafür aber auch so gezwiebelt, dass uns das Wasser im Arsch kochte. Hm … entschuldigen Sie die deftige Bemerkung.«

Mit einem Mal empfand Torsten die Zeit, die er unter Dietrich von Tarows Kommando verbracht hatte, gar nicht mehr als so schrecklich. »Er war ein ausgezeichneter Soldat. Wir sind zwar von ihm geschunden worden, aber er hat uns nicht absichtlich gequält, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich glaube, ich weiß es. Aber mir ist auch klar, dass so viel Selbstgefälligkeit, wie Dietrich sie ausstrahlt, nicht leicht zu ertragen ist. Das ist ja auch Michaels Problem. Was auch immer er tut, er wird stets an seinem älteren Bruder gemessen. So etwas macht auf die Dauer bitter und ungerecht. Daher übertreibt er es manchmal. Sie hatten ja schon mit ihm zu tun.«

»Oh ja! Es hat uns beiden Beulen und ihm zusätzlich eine Disziplinarstrafe eingebracht, weil er den Streit vom Zaun gebrochen hat.« Torsten schüttelte sich, als er sich an die unangenehme Angelegenheit erinnerte, und lenkte dann das Gespräch auf ein Thema, das ihn im Grunde interessierte, seit er Henriette zum ersten Mal gesehen hatte. »Sie sind ganz anders als Ihre Brüder.«

»Sie meinen vom Aussehen her? Das habe ich von meinen Eltern, und ich denke nicht daran, mich deswegen zu schämen«, antwortete Henriette scharf.

»Warum sollten Sie sich schämen? Sie sind eine hübsche, junge Frau mit einer Figur und einem Gesicht, um die Sie viele Frauen beneiden dürften.«

»Sie verstehen es, selbst noch in der Scheiße … äh, in schwierigen Situationen Komplimente zu machen. Aber ich sehe Ihnen an, dass Sie sich trotzdem fragen, wie ein General wie Heinrich von Tarow nach zwei baumlangen Söhnen zu einer Tochter wie mir gekommen ist.«

»Ist diese Neugier nicht verständlich?«, fragte Torsten.

Henriette zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Es kommt immer darauf an, wie jemand die Sache sieht.«

»Ich würde es gerne von Ihnen erfahren, um diese Sache, wie Sie sagen, nicht von einer falschen Warte aus zu sehen.« Torsten merkte, dass er sich tatsächlich dafür interessierte. Henriette von Tarow war mutig und zäh. Selbst jetzt gab sie noch nicht auf, sondern suchte genau wie er nach einem Ausweg aus diesem Schlamassel.

»Da wir ohnehin nichts anderes zu tun haben, kann ich es Ihnen ja erzählen. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren – Dietrich war gerade zehn Jahre alt und Michael sechs – hatten mein Vater und dessen erste Frau einen schweren Unfall. Ein Lkw raste an einem Stauende in ihren Wagen. Dietrichs und Michaels Mutter starb, und mein Vater wurde so schwer verletzt, dass er monatelang in der Klinik bleiben musste.

Als er schließlich entlassen wurde, konnte er nur mit Krücken gehen und fühlte sich als Krüppel. Er muss damals unerträglich gewesen sein, denn er hat innerhalb weniger Wochen drei Haushälterinnen und mehrere Krankenpflegerinnen, die sich um ihn kümmern sollten, zum Teufel gejagt.

Seine Verwandten wussten sich zuletzt nicht mehr zu helfen. Da kam eine seiner Kusinen auf den Gedanken, eine Krankenschwester aus Asien zu holen, da sie annahm, diese würde mehr Geduld mit dem Kranken aufbringen als eine Europäerin.«

»… und das war Ihre Mutter.«

Henriette bejahte. »Mama war nach Deutschland gekommen, um Geld für ihren Bruder zu verdienen, der Medizin studieren sollte. Die ersten Wochen müssen fürchterlich für sie gewesen sein. Da war der schon recht verwahrloste Haushalt mit den beiden Kindern, und gleichzeitig musste sie mit Papa auskommen, dessen schlechte Laune selbst einen Engel in die Flucht geschlagen hätte. Aber sie hat es geschafft. Schon bald mochten meine Brüder sie, und Papa begann langsam, wieder Lebensmut zu gewinnen. Irgendwann kamen sie und er sich nahe. Meine Eltern haben geheiratet, und fünf Monate später wurde ich geboren.«

»Und wie stehen Sie zu Ihren Brüdern?«, wollte Torsten wissen.

»Sie meinen wohl eher, wie die zu mir stehen. Als ich ein Kind war, haben sie mich wie eine Puppe behandelt, die zufällig gehen und sprechen kann, und dabei jeden verprügelt, der mir etwas antun wollte. Inzwischen haben sie erkannt, dass ich ein Mensch mit einem eigenen Willen und eigenen Vorstellungen bin.«

Obwohl Henriette ihre Geschichte emotionslos erzählt hatte, begriff Torsten, dass ihr Leben nicht leicht gewesen war. Er kannte ihre Brüder. Um sich gegen die beiden durchzusetzen, brauchte es Kraft. Doch als er Henriette ansah, spürte er den Willen, der dieses Persönchen beseelte. Sie würde niemals aufgeben, und das war eine gute Voraussetzung für ihren Job.

Allerdings mussten sie darauf hoffen, dass der junge Flame, den Dunker Jef genannt hatte, ihnen helfen würde. Sonst war Henriettes Weg bereits zu Ende, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte.

Die geheime Waffe
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