SIEBEN

Torsten schob die Männer beiseite. Dann zeigte er nach vorne auf eine Zielscheibe, auf die menschliche Umrisse gezeichnet waren, und zog seine Pistole.

»So, Leutnant! Jetzt zeige ich Ihnen, was Sie können müssen, wenn Sie mit Ihrer Ausbildung fertig sind.«

»Da bin ich ja mal gespannt.« Henriette trat ein wenig zurück und ignorierte dabei einige anzügliche Bemerkungen ihrer Zuschauer. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Renk. Dieser lud seine Pistole durch und steckte sie wieder ins Schulterhalfter zurück.

Henriette wunderte sich schon, doch da sackte Renk auf einmal zusammen. Noch im Fallen riss er die Waffe heraus und schoss das erste Mal, rollte dann über den Boden und feuerte dabei zwei weitere Kugeln ab. Als Nächstes sprang er auf und hechtete nach links. Erneut spuckte seine Sphinx 2000 zweimal Blei. Kaum war er am Boden, schnellte er mit dem Rücken zur Scheibe wieder hoch, drehte sich blitzschnell um die eigene Achse und schoss aus der Hüfte. Eine Sekunde später lag er wieder am Boden und warf sich nach links und dann nach rechts. Dabei ballerte er aus jeder Lage.

Schließlich blieb er stehen, blies theatralisch über die Mündung seiner Pistole und drehte sich zu Henriette um. »Und? Haben Sie gezählt, wie oft ich geschossen habe?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf und handelte sich sofort einen Rüffel ein. »Das sollten Sie aber. Im entscheidenden Fall müssen Sie wissen, wie viele Schuss Ihr Gegner noch hat und wie viele Sie selbst.«

Er drehte sich um. »Jungs, habt ihr mitgezählt?«

»Es waren zwölf Schuss«, rief einer.

»Nein, elf«, widersprach ein anderer.

»Dann schauen wir mal nach!« Torsten ging zur Scheibe und zählte kurz die Treffer. Ein zufriedenes Lächeln trat auf seine Lippen, als die anderen laut mitzählten.

»Zehn, elf, zwölf. Ich hab’s doch gewusst«, rief der eine Soldat triumphierend.

»Und wie gut habe ich getroffen?«, fragte Torsten und streckte Henriette die Zielscheibe hin.

Diese starrte darauf und schluckte. Wäre die gezeichnete Person wirklich ein Mensch gewesen, hätte jeder Treffer ausgereicht, um ihn kampfunfähig zu machen.

»Sie sind wirklich gut, Herr Oberleutnant.«

»Renk ist ein Teufel. Wenn ihm die Kugeln in seiner Pistole ausgehen, klemmt der sich noch einen Panzer unter den Arm und schießt damit!«, spottete einer der Zuschauer.

»Jetzt übertreibt nicht, Leute. Ihr seid auch keine Nichtskönner. Aber wie steht es mit Ihnen, Leutnant? Probieren Sie es mal. Sie brauchen es mir nicht nachzumachen, sondern können gerne stehen bleiben.«

In Renks Stimme schwang ein Unterton, der Henriette stutzig werden ließ. Sie atmete kurz durch, holte die P8 aus der Tasche, schlug sie an und zielte über Kimme und Korn.

»Sie sollten das Ding auch durchladen, wenn Sie schießen wollen. Sonst können Sie am Abzugbügel ziehen, so viel Sie wollen«, setzte Torsten süffisant hinzu.

Einige Zuschauer lachten, doch Henriette ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie setzte die Waffe wieder ab, zog das Magazin heraus und überprüfte, ob es voll war. Dann stieß sie es wieder in die Pistole, lud mit einer energischen Handbewegung durch und zielte erneut auf die Scheibe. Als die Stelle, die das Herz des Ziels markieren sollte, genau in der verlängerten Linie von Kimme und Korn lag, zog sie durch.

Der Schuss peitschte durch die Halle, doch als Henriette nach vorne schaute, schlug die Kugel fast fünfzig Zentimeter vom anvisierten Ziel in die obere Ecke der Zielanlage ein. Um sie herum brandete Gelächter auf. Selbst Renk lachte mit und erbitterte Henriette damit noch mehr. Kurz entschlossen setzte sie die Waffe erneut an und ließ den Lauf genau um die Entfernung, die sie eben danebengeschossen hatte, in die andere Richtung wandern.

Als sie diesmal feuerte, traf die Kugel zwar nicht direkt ins Herz, doch der Treffer hätte gereicht, um einen Menschen auszuschalten. Innerhalb kurzer Zeit schoss Henriette das gesamte Magazin leer und sah die still gewordenen Soldaten spöttisch an. »Na, meine Herren, wollen wir mal zählen, wie oft ich getroffen habe?«

Zwei Burschen liefen nach vorne. »Fünfzehn Schuss, davon dreizehn Treffer und einer ganz knapp daneben. Acht Treffer für kampfunfähig.«

Henriette atmete erleichtert auf. Das war besser gelaufen, als sie befürchtet hatte. Mit herausfordernder Miene wandte sie sich an die Männer im Rund. »Nun, meine Herren? Will es einer von euch ebenfalls probieren?« Sie streckte ihnen die Pistole entgegen und sah lächelnd, wie die Soldaten unwillkürlich zurückwichen. Jeder hatte bereits von dieser speziellen Pistole aus Hans Borcharts Arsenal gehört, und sie wussten, dass sie damit nicht einmal ein Scheunentor treffen würden.

Torsten war von Henriettes Schussleistung überrascht worden. Nun ärgerte er sich über die Kameraden, die der Herausforderung des Leutnants aus dem Weg gingen und damit der jungen Frau das Gefühl gaben, sie wäre besser als sie.

»Geben Sie her!«, sagte er und nahm ihr die Pistole aus der Hand. Er lud das Magazin neu, suchte sich eine noch unbeschädigte Zielscheibe und stellte sich in Position. Bevor er schoss, blickte er noch kurz auf die Scheibe, auf die Henriette geschossen hatte, und schätzte die Abweichung der Waffe anhand ihres ersten Schusses ab. Sein Arm wanderte daraufhin leicht schräg nach rechts unten. Ein letzter prüfender Blick, dann feuerte er die Schüsse im Sekundentakt ab.

Um ihn herum wurde es still. Henriette starrte auf die Stelle, die das Herz markierte, und konnte nicht glauben, was sie sah. Jede von Renks Kugeln hatte exakt in diese etwa handgroße Stelle getroffen.

»Nun? Zufrieden?«

Renks Stimme riss Henriette herum. »Nicht schlecht«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln. »Wenn Sie jetzt dieselbe Schau abgezogen hätten wie vorhin, würde ich mir wirklich wie ein Wurm vorkommen.«

»Ich berichtigte mich. Renk ist kein Teufel, sondern der Satan schlechthin«, rief der Mann, der vorhin schon gespottet hatte.

Renk drehte sich zu ihm um und grinste. »Was sagt euch das? Dass ihr trainieren müsst! Ein guter Soldat trifft auch mit einer schlechten Waffe, aber ein schlechter Soldat schießt auch mit dem besten Gewehr daneben.«

»Gib das Ding her!« Ein Soldat, der als guter Schütze bekannt war, nahm die Pistole an sich und lud sie voll. Danach ging er zu Henriettes Zielscheibe und sah sich ihren ersten Fehlschuss genau an. Als er zurückkam und konzentriert seine Schüsse abgab, zeigte sich, dass auch er etwas konnte.

Sein Trefferergebnis war schlechter als Henriettes, aber dennoch war der Mann zufrieden. »Mit so einem Ding muss man erst einmal schießen können«, meinte er zu seinen Kameraden und legte Henriette gönnerhaft die Hand auf die Schulter. »Ich wollte Kavalier sein und Sie gewinnen lassen. Wäre das nicht heute Abend einen Schluck im Kasino wert?«

»Ich werde es mir überlegen.« Henriette mochte solche Zusammenkünfte, bei denen viel Alkohol floss, nicht besonders. Unsicher sah sie Renk an.

Der überlegte kurz und nickte. »Wenn nichts Wichtiges dazwischenkommt, schaue ich heute Abend ebenfalls vorbei!«

»Du kannst ruhig wegbleiben. Für die Unterhaltung des Leutnants sorge ich schon.«

»Nach dem dritten Bier fängt er an zu nuscheln, und nach dem sechsten liegt er unter dem Tisch«, sagte Torsten spöttisch zu Henriette und sah dann auf seine Uhr. »Mittagszeit! Da ist Hans beim Essen. Und wir könnten uns ebenfalls in Richtung Kantine verabschieden. Ich habe nämlich Hunger.«

»Ich auch«, erklärte Henriette und dachte bei sich, dass Renk und sie das erste Mal einer Meinung waren.

Die geheime Waffe
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