ZWEI
Torsten Renk war froh, dass die Hawker Fury ein eher gemächliches Tempo flog, sonst hätten Jef und er sich nicht lange auf den Tragflächen halten können. Der junge Flame jammerte bereits über seine verkrampften Muskeln, wusste aber genau, dass er, wenn er auch nur einen Moment losließ, sehr tief fallen würde.
»Wie lange dauert es noch?«, fragte er, während der Doppeldecker über die nördlichen Vororte Brüssels schwebte.
»Hoffentlich nicht mehr allzu lange!« Henriette nahm die Schwierigkeiten ihrer beiden Passagiere wahr, sah aber keine Möglichkeit, ihnen die Lage zu erleichtern.
»Das dort vorne müsste schon Grimbergen sein. Der Königspalast liegt dahinter.« Torsten versuchte vergeblich, inmitten des Gewirrs der Häuser den Park auszumachen, in dem das königliche Palais lag. Da flammte ein Stück seitlich voraus ein heller Blitz auf, dem ein Knall folgte, der sogar das Motorengeräusch der Hawker Fury übertönte.
»Da hat es ein Flugzeug oder einen Hubschrauber zerlegt! Wir müssen weiter runter, sonst nehmen die Schufte uns als Nächstes ins Visier«, rief er Henriette zu.
Die aber zeigte lachend auf eine Reihe von sechs Hubschraubern, die aus dem Süden heranflogen. »Da greift die belgische Armee ein. Die wird diesen Spuk rasch beenden.«
Jef van der Bovenkant atmete auf. »Wir sollten uns eine Stelle suchen, an der wir landen können. Ich muss sagen, bei meinem nächsten Flug ziehe ich einen normalen Urlaubsflieger vor.«
Plötzlich sahen die drei mehrere Leuchtpunkte aufsteigen und auf die Hubschrauber zurasen. Gleich darauf zerplatzte der vorderste Helikopter wie ein Luftballon. Drei weitere Hubschrauber teilten sein Schicksal, während die Piloten der beiden letzten Maschinen mit riskanten Manövern ausweichen konnten und zwischen die Häuserschluchten abtauchten.
»Sieht aus, als hätten die Indianer die Fünfte Kavallerie in die Flucht geschlagen«, kommentierte Torsten grimmig.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Henriette.
»Wenn wir klug wären, würden wir abhauen und aus sicherer Entfernung zuschauen, wie sich die Belgier gegenseitig die Köpfe einschlagen.«
Henriette warf Torsten einen kurzen Blick zu. »Und? Sind wir klug?«
»Fliegen Sie tiefer, sonst erwischt es uns. Sehen Sie dort drüben das Atomium?«
»Ja!«
»Halten Sie sich links davon. Da vorne, das muss der Park von Laeken sein. Sehen Sie zu, ob Sie irgendwo landen können. Sobald ich abgesprungen bin, starten Sie durch und verschwinden samt unserem flämischen Freund! Vorher stopfen Sie mir noch ein oder zwei Ersatzmagazine in meinen Brustbeutel! « Torsten grinste, als wäre das Ganze ein großer Spaß, doch seine Augen glänzten so kalt wie Polareis. Irgendwo da unten hielt sich Sedersen auf. Den Mann musste er finden und das nachgebaute SG21 samt allen Unterlagen sicherstellen. Dabei durften ihn auch die Freischärler nicht aufhalten, die den Palast belagerten.
Henriette drückte die Nase des Doppeldeckers nach unten, bis sie nur noch ein paar Meter über den Häusern schwebte, und starrte angestrengt nach vorne. Zuerst erwog sie, auf der Avenue du Parc Royal zu landen, entdeckte dann aber Zwengels Luftabwehreinheit beim Leopoldsmonument und zwang die Hawker Fury in eine Linkskurve, um nicht von dort unter Feuer genommen zu werden. Ein Panhard-Schützenpanzer auf der Avenue Jules van Praet erforderte eine weitere Kursänderung, und für ein paar Augenblicke kamen sie nach Norden ab.
Neben ihr fluchte Torsten, doch Henriette ließ sich nicht beirren. Sie steuerte Richtung Osten, überquerte den Canal de Willebroek und drehte die Maschine über den Gleisanlagen des Gare de Formation wieder auf Westkurs.
»Ich hoffe, Ihnen ist auch mit dem Hintereingang geholfen, Herr Oberleutnant«, erklärte sie, als sie knapp über dem Boden zur königlichen Domäne zurückflog.
Sie erhielt keine Antwort, denn in den Gärten machte Torsten zwei Männer aus, die aus der Deckung mehrerer Büsche angestrengt zum Schloss starrten. Nicht weit von ihnen wurde erbittert gekämpft. Auf einmal hob der größere der beiden Männer sein Gewehr und feuerte.
»Dort ist Sedersen!« Obwohl er noch zu weit weg war, um den Schützen erkennen zu können, war Torsten instinktiv klar, dass es sich um den Gesuchten handeln musste.
Er krallte sich mit der Linken am Flugzeug fest und tippte Henriette mit der anderen Hand auf die Schulter. »Bringen Sie mich dorthin und fliegen Sie dabei so langsam, wie Sie können.«
Henriette sah ihn erschrocken an. »Wollen Sie vom Flugzeug springen? Dabei brechen Sie sich sämtliche Knochen!«
»Das wäre Pech!« Während er sich mit einer Hand festhielt, kontrollierte Torsten seine Ausrüstung und lud die MP durch. Er wusste selbst, dass sein Vorhaben schierer Wahnsinn war – aber auch die einzige Möglichkeit, den Kerl zu erwischen.
Henriette hielt die Hawker Fury so tief wie möglich. Zum Glück war der Doppeldecker weitaus wendiger als ein normales Flugzeug und hielt sich auch bei geringerer Geschwindigkeit in der Luft. Daher konnte sie Hindernissen wie Häusern und Bäumen ausweichen, als seien es Slalomstangen. Dennoch fragte sie sich nervös, wie langsam sie die Maschine fliegen durfte, ohne dass diese abschmierte. Selbst wenn sie das Äußerste riskierte, würde es nicht reichen, dass Renk abspringen konnte, ohne sich ein paar Knochen zu brechen.
Aber auch für sie war das Manöver höchst riskant. Selbst wenn die Hawker Fury sich in der Luft hielt, hatten sie und van der Bovenkant kaum eine Chance, ungeschoren davonzukommen. Bis jetzt hatte noch keiner der Freischärler den tief fliegenden Doppeldecker entdeckt. Doch nun wurden einige der Kerle auf das Motorengeräusch aufmerksam und starrten zum Himmel, als erwarteten sie einen weiteren Hubschrauberangriff.
Henriette atmete tief durch und nickte Torsten zu. »Gleich sind wir so weit!«
Torsten packte seinen Beutel mit der Ausrüstung, um ihn kurz vor dem Sprung abzuwerfen. Die MP behielt er jedoch in der rechten Hand, denn sie konnte den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.