ELF
Das Geheimquartier bestand aus einem Schuppen am Ende einer Schotterpiste außerhalb von Burcht.
Henriette warf dem schäbigen Bau einen zweifelnden Blick zu. »Glauben Sie, dass wir hier etwas ausrichten können?«
»Wir werden es jedenfalls versuchen«, antwortete Torsten.
»Aber was ist, wenn unsere beiden Container bereits verladen wurden? In dem Fall haben wir keine Chance mehr, sie zu untersuchen!«
»Das sind sie nicht. Petra hat dafür gesorgt, dass sie auf dem Hafengelände gut erreichbar abgestellt worden sind. Allerdings müssen wir die Sache morgen Nacht durchziehen. Jetzt sollten wir uns erst einmal hier umsehen.«
Torsten holte den Schlüssel heraus und trat auf das Tor des Schuppens zu. Dieser hatte aus der Entfernung nicht sonderlich groß gewirkt, aber das lag an den Bäumen, die ihn teilweise verdeckten. Im Licht der Autoscheinwerfer konnte er sehen, dass die Wände aus dunkelroten Klinkern bestanden, während man das Dach mit grauen Platten gedeckt hatte. Fenster konnte er keine erkennen, dafür gab es kleine Lüftungsschlitze knapp unter dem Dachsims.
Neugierig steckte er den Schlüssel ins Schloss und sperrte auf. Innen war es so dunkel wie in einer Gruft. »Bringen Sie mir die Taschenlampe«, rief er seiner Begleiterin zu.
Henriette gehorchte, und beide sahen kurz darauf einen großen Raum mit einer Montagegrube vor sich. Eine Werkbank an der Seite und ein Schrank mit verschiedenen Werkzeugen verstärkten den Eindruck, das Gebäude enthalte eine Autowerkstatt. Ganz am Ende befand sich eine weitere Tür.
»Platz ist genug. Also sollten wir den Wagen hereinbringen, damit niemandem das deutsche Nummernschild auffällt«, sagte Torsten, während er auf einen Lichtschalter drückte, den er eben entdeckt hatte. Mehrere Deckenlampen glommen auf und verbreiteten gedämpftes Licht. »Nicht schlecht! Wenn wir die Tür hinter uns schließen, merkt von draußen keiner, dass sich hier etwas tut.«
»Ich hole den Wagen!«, rief Henriette und eilte hinaus.
Unterdessen öffnete Torsten mehrere Schubfächer, fand aber nur gewöhnliches Werkzeug, wie es in eine Autowerkstatt gehört. Als er die rückwärtige Tür öffnen wollte, fand er diese versperrt.
»Also geht es hier nach draußen«, sagte er leise zu sich, berichtigte sich aber sofort. Von außen hatte das Gebäude länger gewirkt. Also musste sich hinter dieser Tür noch ein Raum befinden. Er probierte seinen Schlüssel aus, und siehe da, er passte. Torsten öffnete jedoch nicht sofort, sondern wartete, bis seine Begleiterin den Wagen über der Grube geparkt und das Eingangstor hinter sich geschlossen hatte. Dann erst drückte er die Klinke und zog die Tür auf. Sofort sah er sich einer weiteren Tür gegenüber, die statt eines Schlosses einen kleinen Bildschirm und eine Computertastatur aufwies.
Er drehte sich zu Henriette um. »Die Hütte hier hat Wagner bestimmt nicht extra für uns einrichten lassen.« Während er es sagte, leuchtete der Bildschirm hell auf, und als er sich über ihn beugte, konnte er einen Schriftzug lesen.
»Geben Sie Ihren Namen und Ihr Geburtsdatum ein!« Darunter erschien die entsprechende Eingabemaske.
Torsten tat wie gefordert und wurde nach dem vollen Namen seiner Begleiterin gefragt. »Ich glaube, das machen Sie, Leutnant!« Damit trat er einen Schritt zurück und ließ Henriette an die Tastatur.
»Henriette Corazon von Tarow«, tippte sie ein. Der Computer dachte jedoch nicht daran, sie so einfach durchzulassen, sondern fragte sie nach dem Geburtsnamen ihrer Mutter. Henriette beantwortete auch dies und erhielt eine weitere Frage. Diesmal wandte sie sich an Torsten.
»Ich glaube, das ist für Sie. Ich habe keine Ahnung, wie der Typ heißt, den Sie in Tallinn ausgeschaltet haben.«
Torsten übernahm wieder den Platz am Terminal und gab den Namen ein. Als Antwort erhielt er die Aufforderung, den Namen noch einmal laut zu wiederholen.
»Hans Joachim Hoikens!«, erklärte er.
»Nun soll Ihre Begleiterin die Namen ihrer beiden Brüder, deren Dienstrang und die Nummern ihrer Einheiten nennen. «
Henriette befolgte die Anweisung, während Torsten langsam zu kochen begann. Es war zwei Uhr morgens, sie hatten einen feigen Anschlag mit Mühe und Not überlebt, und nun sollte er auch noch Rätsel lösen.
»Eine einfache Stimmerkennung hätte auch ausgereicht, aber nein, Wagner muss sein Spiel mit uns treiben«, sagte er knurrend.
Da erschien auf einmal der Begriff »safety first« auf dem Bildschirm und dann Petras lachendes Gesicht.
Zuerst glaubte Torsten, es handele sich um eine Liveübertragung, doch er merkte rasch, dass es sich um eine Aufzeichnung handeln musste.
»Guten Morgen, ihr zwei. Ich hoffe, ihr hattet einige schöne Tage in Den Haag und Breda. Jetzt aber hört das Vergnügen auf, und der Ernst des Lebens beginnt. Ihr könnt jetzt hereinkommen und euch die Berichte ansehen, die es bis jetzt über diesen ominösen Zugüberfall gibt.« Während der Bildschirm erlosch, öffnete sich die Tür.
»Ich hoffe nicht, dass wir diesen Scherz jedes Mal mitmachen müssen, wenn wir den Raum betreten wollen«, schimpfte Torsten.
»Es wäre arg lästig«, stimmte Henriette ihm zu. Dann aber vergaßen sie die umständliche Identifizierungsprozedur und starrten mit großen Augen auf den etwa zwanzig Quadratmeter großen Raum, der mit einem Schreibtisch, einem modernen Computer mit anhängenden Geräten, einer Ausziehcouch mit Platz für zwei, einem Tisch mit zwei Stühlen, einem großen Kühlschrank und einem weiteren Schrank ausgestattet war.
Da Henriette Durst hatte, öffnete sie den Kühlschrank und holte sich eine Cola heraus. »Für Sie auch eine?«, fragte sie.
Torsten nickte, konnte sich aber nicht verkneifen, sie zu tadeln. »Wenn Sie das nächste Mal eine Tür öffnen, schauen Sie sich diese genauer an. Eine gut platzierte Sprengladung befördert Sie schneller ins Himmelreich, als Sie denken können.«
Henriette erstarrte mitten in der Bewegung. »Ist es wirklich so schlimm?«
»Noch viel schlimmer! In diesem Gebäude vertraue ich auf die Sicherheitsmaßnahmen, weil ich weiß, dass Petra dahintersteckt. Andere Verstecke aber können längst von einer gegnerischen Seite manipuliert und mit Fallen versehen sein. Manchmal macht das auch ein Agent der eigenen Seite, weil er sich verfolgt fühlt und ebendiese Leute ausschalten will.«
Torstens Laune besserte sich, weil er Leutnant von Tarow die Gefährlichkeit seines Berufs so richtig unter die Nase reiben konnte. Wenn er es richtig machte, brachte er sie vielleicht sogar dazu, vor Entsetzen den Dienst zu quittieren.
Doch im nächsten Moment wunderte er sich selbst, denn ihm war gerade klar geworden, dass er plötzlich keine Lust mehr auf solche Spielchen hatte. Zwar war es manchmal lästig, auf das Generalstöchterlein aufpassen zu müssen. Andererseits hatte sie sich bisher bei allen auftauchenden Problemen ausgezeichnet geschlagen, und es war angenehm, jemanden zu haben, mit dem er reden konnte.
»Wie ich schon sagte: Man muss aufpassen. Aber mit der Zeit lernt man es automatisch, auf verdächtige Spuren zu achten. Unser Job wird dadurch nicht ungefährlicher, aber die Überlebenschancen erhöhen sich rapide.«
Henriette lächelte ein wenig gezwungen, nahm dann eine zweite Coladose aus dem Kühlschrank und riss sie auf. »Hier, Herr Oberleutnant.«
Torsten nahm die Dose entgegen und setzte sie an die Lippen. Erst beim Trinken merkte er, wie durstig er war. Er glaubte, noch immer Rauch zu schmecken und zu riechen. Hätten die Idioten in Breda statt Spiritus Benzin verwendet, so wären Leutnant von Tarow und er kaum rechtzeitig aus dem vergitterten Zimmer gekommen. Zu gerne hätte er den Männern in jener Offiziersschule die Rechnung für ihren feigen Anschlag präsentiert. Der Auftrag, den Major Wagner ihm erteilt hatte, war jedoch wichtiger als seine persönlichen Rachegefühle. Daher setzte er sich an den Schreibtisch, schaltete den Computer ein und wartete, bis dieser hochgefahren war.
Als Erstes erschien Petras Gesicht, und sie stellte einige Fragen, um seine Identität unzweifelhaft zu bestimmen. Ihm wäre es lieber gewesen, direkt mit ihr sprechen zu können, anstatt sie als Aufzeichnung zu erleben. Als sie jedoch die Frage stellte, was sie und er an jenem einen Nachmittag in ihrem Hotelzimmer auf Mallorca getrieben hatten, war er kurz davor, die ganze Sache abzubrechen. Er warf einen schiefen Blick auf Henriette, die das nun wahrlich nichts anging, und forderte sie auf, seinen Laptop aus dem Auto zu holen.
Henriette befolgte den Befehl, und er musste sich zurückhalten, um nicht die Tür hinter ihr zu schließen und sie in den Garagenraum zu sperren. Stattdessen wandte er sich wieder dem Bildschirm zu.
»Wir haben … äh, miteinander geschlafen!« Er hoffte, es leise genug gesagt zu haben. Als Henriette kurz darauf zurückkam, wirkte ihr Gesicht zwar müde und abgespannt, aber sonst wie immer. Also hatte sie nichts mitbekommen. Torsten atmete erleichtert auf und zeigte dann zur Couch. »Schlafen Sie eine Runde. Der Morgen kommt früh genug.«
»Danke! Aber wenn Sie mich benötigen, bleibe ich selbstverständlich wach.« Henriettes Blick wanderte begehrlich zum Computerbildschirm. Die Berichte, von denen Petra Waitl gesprochen hatte, interessierten auch sie. Trotzdem wollte sie nicht gegen Renks Willen aufbleiben.
Torsten las ihr die Gedanken an der Nase ab und lachte leise. »Zu neugierig, um schlafen zu können, was? Na, dann kommen Sie her und setzen sich neben mich. Die Sache geht Sie ja genauso an. Das heißt, wenn diese dumme Fragerei endlich aufhört. In München wird Petra einiges von mir zu hören bekommen.«
»Sie muss doch sichergehen, dass wir es sind, die auf ihre Daten zugreifen.«
»Natürlich muss sie das. Aber es macht ihr Spaß, mich zu triezen.« Während er es sagte, veränderte sich der Bildschirm und forderte ihn auf, seine beiden Daumen auf zwei weiß leuchtende Felder zu legen. Torsten tat es seufzend und atmete im nächsten Moment auf, weil er endlich Zugriff auf den Computer bekam. Als er dann den Bericht las, den sie aufbereitet hatte, lobte er Petra für ihre ausgezeichnete Arbeit.
Er konnte nicht nur die Aussagen der wenigen Zeugen lesen und sogar anhören, sondern erhielt durch computergenerierte Bilder auch einen Eindruck, wie der ganze Überfall vonstattengegangen sein musste. Petra hatte mehrere Möglichkeiten berechnet und lieferte ihm alle Versionen. Ihrer Analyse zufolge hatten sich die Lkws und der Autokran auf keinen Fall zufällig an dieser Stelle befunden.
»Ich bin mir sicher, dass die Container geklaut worden sind«, erklärte ihre Computerstimme, während Fotos der Großbehälter auf dem Bildschirm erschienen. »Die belgische Staatsbahn behauptet zwar, es wären noch alle Container vorhanden, aber meiner Meinung nach sind unsere beiden ausgetauscht worden. Anders als diesmal gab es beim ersten Raub keinen Überfall, aber möglicherweise einen ähnlichen Austausch. Damals standen die Waggons lange auf einem Abstellgleis in Lüttich. Wer dort Zugang hatte und auf die Kranbrücken zugreifen konnte, hatte die Möglichkeit, den Container gegen einen anderen auswechseln.«
»Und warum haben unsere Kunden das nicht auch diesmal gemacht?«, fragte Torsten, da Petras Stimme so lebendig klang, als säße sie am anderen Ende der Leitung.
Zwar hatte er es nur mit einer Aufzeichnung zu tun, aber Petra schien seine Frage erwartet zu haben. »Diesmal war ein unauffälliges Vorgehen nicht möglich, da der Zug ohne Aufenthalt durch Belgien fahren sollte. Außerdem wurde er durch drei unserer Leute bewacht. Wer an die beiden Container wollte, musste Gewalt anwenden.«
Danach erschien wieder ein Text mit verschiedenen Berechnungen, die Petra angestellt hatte. Laut Aussage eines Zeugen hatten die Banditen einen wallonischen Dialekt gesprochen. Nun gab es zwar etliche, durchaus schlagkräftige wallonische Nationalisten in Belgien, trotzdem war Petra sicher, dass die Flamen der Vlaams Fuist dahintersteckten.
»Mehr Informationen bekommst du, wenn wir miteinander sprechen«, sagte die Petra-Aufzeichnung noch, dann erschien wieder der normale Einstiegbildschirm.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Henriette.
»Sie können im Internet surfen, wenn Sie Lust haben. Ich lege mich jetzt hin.« Torsten fühlte sich zwar aufgekratzt, wusste aber, dass er den Schlaf brauchte, um in Form zu bleiben. Er ging zur Couch, zog diese zum Bett aus und begann, sich zu entkleiden.
Henriette warf noch einen Blick auf den Bildschirm, der jetzt auf Stand-by ging, und entschloss sich, ebenfalls zu Bett zu gehen. Lieber hätte sie zwar mit Renk über diese ganze Sache gesprochen, aber da er schlafen wollte, mochte sie ihn nicht stören.