ZEHN
Torsten schlief noch, als die Tür seiner Zelle geöffnet wurde. Zwei Männer blieben noch einen Moment davor stehen und betrachteten den Schlafenden. Einer davon war Major Wagner. Der andere Mann trug Zivil und sah Torstens Vorgesetzten scharf an. »Ist das Ihr Mann?«
Wagner nickte. »Das ist Renk. Er hatte eine verdammt gute Nase, aber leider auch verdammtes Pech.«
»Ich weiß nicht, ob es Pech ist, wenn einer mit über hundert Sachen durch eine geschlossene Ortschaft rast und dabei einen Unfall verursacht.«
»Auf jeden Fall ist er nicht der Mörder dieses ominösen Müllkönigs. Sie haben selbst gehört, was der Gerichtsmediziner gesagt hat. Den Mann hat keine Pistolenkugel getötet.«
»… sondern dieses komische Ding, das Sie sofort an sich genommen haben, obwohl es für die Aufklärung des Mordes wichtig gewesen wäre«, fiel ihm der Zivilbeamte erbost ins Wort.
Wagner griff mit der Rechten unwillkürlich in die Seitentasche seiner Uniformjacke, in die er das Geschoss gesteckt hatte. »Das ist geheime Verschlusssache! Aus diesem Grund übernimmt das Bundeskriminalamt den Fall.«
Für Wagner war die Angelegenheit damit erledigt. Dem Lingener Kriminalpolizisten war jedoch anzusehen, wie wenig es ihm behagte, dass ihm die Ermittlung einfach aus den Händen genommen wurde.
Er trat neben das Bett, doch Wagner kam ihm zuvor. »Aufstehen, Renk! Schlafen können Sie später noch.«
Erschrocken fuhr Torsten hoch und griff im Reflex unter seine Jacke. Erst als er dort keine Waffe fand, erinnerte er sich an das Geschehene und stieß einen Fluch aus.
»Verdammt noch mal, Renk, was haben Sie sich dabei gedacht, andere Autos über den Haufen zu fahren und dann auch noch eine ganze Hochzeitsgesellschaft mit Ihrer Knarre zu bedrohen?«
»Ich hatte keine Lust, von diesen niedersächsischen Bauernbüffeln zu Hackfleisch verarbeitet zu werden«, antwortete Torsten.
Der Kriminalbeamte räusperte sich missbilligend. Da er selbst Niedersachse war, mochte er keine Bayern, die in seinem Bundesland das Maul aufrissen und über die Leute herzogen. Auf einen Wink Wagners verließ er aber dann doch wortlos die Zelle.
Unterdessen stand Renk auf und strich sich über die Stirn. Im Traum hatte er diesen Unfall immer und immer wieder erlebt, nur schlimmer. Die Braut war dabei ums Leben gekommen und hatte dabei stets entweder wie Andrea oder wie Graziella ausgesehen.
»Im Vertrauen, Renk, Sie sehen aus wie ein Landstreicher. Schauen Sie, dass Sie unter eine heiße Dusche kommen und sich rasieren. Es wird in diesem Nest ja sicher einen Gasthof geben, in dem Sie das erledigen können. Später fliegen Sie mit Frau Waitl und mir nach München zurück. Im Moment sucht Ihre Kollegin in der Villa des toten Müllkönigs nach Spuren.«
Während des Fluges hatte Petra, geschockt von Torstens Unfall, mit ihrem Vorgesetzten über ihren Kollegen gesprochen. Wagner ärgerte sich über sich selbst, weil er die Anzeichen von Renks nervlicher Überlastung nicht bemerkt hatte. Der Junge war mental am Ende. Wenn er nicht bald über den Tod seiner Freundin hinwegkam, würde er seinen Job beim MAD an den Nagel hängen müssen.
»Petra ist auch da?«
»Frau Waitl versucht zu retten, was zu retten ist, nachdem Sie die Chose verbockt haben. Ich glaube aber kaum, dass sie Erfolg haben wird. Der Kerl, mit dem wir es zu tun haben, ist mit allen Wassern gewaschen und kennt sich in seinem Metier aus.«
»Dann sollten wir mal ein Auge auf professionelle Auftragsmörder werfen«, schlug Torsten vor.
Wagner schüttelte den Kopf. »Sie werfen vorerst auf niemanden mehr ein Auge, denn die Sache geht Sie ab heute nichts mehr an. Kollegen werden sich ab jetzt um den Fall kümmern. Sie machen erst einmal Urlaub, und zwar richtigen Urlaub, verstanden? Diesmal werden Sie mir keine gefälschte Mail schicken, dass es Ihnen an einem Ort gut geht, an dem Sie gar nicht zu finden sind.«
»Hören Sie, Herr Major, ich …«
Wagner fuhr ihm über den Mund. »Ich will von Ihnen nur ein ›Jawohl, Herr Major!‹ hören und sonst gar nichts. Übrigens trifft es sich gut, dass Frau Waitl am nächsten Montag für zwei Wochen nach Mallorca fliegt. Sie wird sich über Ihre Begleitung gewiss freuen. Legen Sie sich an den Hotelpool und genießen Sie die freie Zeit. Wenn Sie zurückkommen, werden wir zwei uns ernsthaft unterhalten. Und jetzt kommen Sie! Ich habe nicht alle Zeit der Welt.«
Torsten hatte seinen Vorgesetzten noch nie so zornig und gleichzeitig so beherrscht erlebt. In Wagner musste es toben. Inzwischen war der vierte Mensch mit einer Waffe ermordet worden, die es eigentlich nicht geben durfte, und die einzige Spur, die zum Mörder hätte führen können, war durch sein Versagen in einem Dorf in Niedersachsen verloren gegangen. Mit hängendem Kopf stapfte er hinter Wagner her und stand kurz darauf in der Amtsstube dem Polizisten gegenüber, von dem er bislang nur den Vornamen Sven kannte.
Der Beamte wirkte recht kleinlaut und wagte es nicht, Torsten in die Augen zu sehen. Mit nach unten gerichtetem Blick häufte er auf seinem Schreibtisch die Sachen auf, die er Torsten bei dessen Gefangennahme abgenommen hatte. Dieser begutachtete alles genau und zählte auch das Geld im Portemonnaie nach.
»Hier ist das Protokoll. Ich habe es selbst unterschrieben. Da steht exakt die Summe drauf, die im Geldbeutel war. Wir haben schon nichts weggenommen.«
Torsten blickte auf die gestochen scharfe Unterschrift und musste trotz seines Ärgers grinsen. »Hühnermörder, das ist gerade der richtige Name für Sie.«
Jetzt blickte der Polizist ihn doch an. »Das heißt Hünermörder, ohne H. Mit dem Federvieh habe ich nichts zu tun.«
»Dafür haben Sie aber einen schönen Brathendlfriedhof, wie man in Bayern sagt.« Renk wies dabei auf die stattliche Figur des Mannes. Für einen Augenblick stellte es ihn zufrieden, dass er dem Beamten auf diese Weise einen Teil des Ärgers heimzahlen konnte.
Wagner rümpfte die Nase. »Lassen Sie den Unsinn, Renk! Der Mann hat nur seine Pflicht getan. Seien Sie froh, dass nicht ich an seiner Stelle war. Gebt euch jetzt die Hand und lasst es gut sein!«
Torsten zögerte.
»Renk, ich habe nicht viel Zeit, aber verdammt viel Lust, Sie einfach hier zurückzulassen. Geben Sie dem Mann die Hand! Oder wie hätten Sie sich an seiner Stelle bei dem Kerl bedankt, der Ihrer Nichte die Hochzeit verdorben und ihr einen Aufenthalt in der Klinik verschafft hat?« Das war wieder der alte Wagner, der sein cholerisches Temperament kaum im Zaum halten konnte.
Torsten sah zuerst ihn an, dann Hünermörder und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die Bedauern ausdrücken sollte. »Es tut mir leid, das mit Ihrer Nichte, meine ich! Ich wollte wirklich nicht, dass so etwas passiert.«
Hünermörder starrte auf die Hand, die Torsten ihm hinhielt, und schlug ein. Doch als er Torstens Hand mit seiner Pranke zusammenquetschen wollte, verstärkte Torsten seinen Griff und bemerkte zufrieden, wie Hünermörders Gesicht sich vor Schmerz und Anstrengung dunkelrot färbte.
»Ihnen ist doch nicht etwa heiß?«
Hünermörder schüttelte den Kopf und setzte seine letzte Kraft ein, um den Griff des MAD-Mannes zu brechen.
Nun feixte Torsten. »Beim Händedrücken ist es ähnlich wie beim Denken. Für das eine braucht man Verstand, für das andere Muckis.«
Wagner fand dieses Spiel lächerlich. Allerdings begriff er, dass Renk diese kleine Rache brauchte, um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Aus diesem Grund griff er nicht mehr ein, sondern sammelte die restlichen Sachen seines Untergebenen ein und steckte sie in eine Plastiktüte.
»He, da fehlt doch was! Wo ist mein Führerschein?«, rief Torsten und wurde für einen Augenblick unaufmerksam.
Hünermörder nützte dies aus, um seine Hand aus Torstens Griff zu befreien. »Kraft hast du ja ausreichend«, meinte er mit widerwilliger Anerkennung. »Aber ob sich das mit dem Verstand genauso verhält, kann ich nicht sagen.«
»Wo ist mein Führerschein?«, fragte Torsten, ohne auf die Bemerkung einzugehen.
»Wahrscheinlich auf dem Weg nach Flensburg. Wer in einer geschlossenen Ortschaft zu schnell fährt, muss die Konsequenz tragen, und die heißt nun einmal Führerscheinentzug. So leid es mir tut, aber Sie werden die nächsten Monate auf die Taxibranche angewiesen sein«, spottete sein Vorgesetzter.
»Aber …«, rief Torsten empört.
»Seien Sie froh, dass Ihnen die Behörden in Niedersachsen eine Gerichtsverhandlung ersparen. Selbst ich hätte dann ein Disziplinarverfahren nicht verhindern können. Und jetzt kommen Sie! Sie haben mich genug Zeit gekostet.«
»Einen Moment, bitte!« Renk griff in den Plastikbeutel und holte seine Sphinx AT2000 samt Schulterhalfter heraus.
»So, jetzt können wir«, sagte er, während er die Pistole umschnallte.
Wagner musterte Renk und hatte den Eindruck, dass er auf dem Weg der Besserung war. Anscheinend war der Unfall der Nasenstüber zur rechten Zeit gewesen. Der Major wagte jedoch nicht, sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn Renk das andere Auto nicht am vorderen Kotflügel, sondern voll von der Seite erwischt hätte. Die junge Frau hätte tot sein können, und über eine solche Schuld wäre sein Untergebener wohl nie mehr hinweggekommen.