FÜNFZEHN
Henriette hatte sich mit letzter Kraft beherrschen können, doch nun hielt sie es nicht mehr aus. »Machen Sie schnell«, stöhnte sie, als der junge Flame an ihren Fesseln nestelte.
Jef starrte den Kabelbinder an, mit dem Henriettes Handgelenke gefesselt waren. Die Fesseln hatten tief in das Fleisch eingeschnitten, und die Striemen bluteten schon. Jef fand es widerlich, einen anderen Menschen so zu behandeln, auch wenn es sich um eine Asiatin handelte, die nach den Lehren seines bisherigen Anführers hier in Europa nichts verloren hatte.
Als ihn ein böser Blick aus hellblauen Augen traf, musste er daran denken, dass einer seiner besten Freunde in der Kindheit der Sohn eines Wallonen und einer Frau aus dem Kongo gewesen war. Der hatte zwar keine blauen, aber ebenfalls helle, europäisch wirkende Augen gehabt. Mit einem Mal schämte er sich für all das, was er als Mitglied der Flämischen Faust angestellt hatte. Er erinnerte sich nun deutlich an die großen, entsetzt aufgerissenen Augen einer jungen Afrikanerin, der er im Überschwang nationalistischer Gefühle zuerst den Gemüsestand auf dem Markt umgeworfen und dann auch noch ein paar Ohrfeigen versetzt hatte.
»Die Lehren dieser Kerle sind wie Gift, das sich ins Hirn frisst«, sagte er leise zu sich selbst. Da er die Fesseln mit den Händen allein nicht lösen konnte, holte er sein Taschenmesser aus der Hosentasche. Es war eher ein Spielzeug und die Klinge nicht mehr besonders scharf, trotzdem gelang es ihm, die Kabelbinder durchzuschneiden.
Kaum war Henriette frei, stemmte sie sich hoch und öffnete ihre Hose. Dabei verdrängte sie die drei feixenden Kerle an der Tür ebenso aus ihren Gedanken wie Bovenkant und Torsten. Jef stellte sich jedoch so mit dem Rücken zu ihr auf, dass er Dunker und dessen Kumpanen die Sicht versperrte.
»He, du Idiot, geh zur Seite!«, rief einer der Kerle.
Jef rührte sich nicht. Kurz darauf hörte er Henriettes Stimme. »Gibt es hier irgendwo Toilettenpapier?«
Das hatte Jef vergessen. Daher zog er eine Packung Papiertaschentücher aus der Hosentasche und reichte sie nach hinten.
»Danke!«, sagte Henriette erleichtert.
Das war ein Wort, das Jef von Sedersens Kerlen noch nie gehört hatte. »Gern geschehen«, antwortete er und verfluchte in Gedanken die Tatsache, dass die beiden Fremden in die Hände dieser Mörderbande geraten waren.
Unterdessen war Henriette fertig und zog ihre Hose wieder hoch. »Sie können sich umdrehen«, sagte sie zu Jef.
Dieser tat es mit trauriger Miene. »Es tut mir leid, ich …« Er brach ab und ging zu Torsten.
»Ich mache Sie jetzt ebenfalls los.«
Während er mit seinem Messer an Torstens Fesseln herumschnipselte, dachte dieser angestrengt nach. Das war doch derselbe Flame, der ihm die Tür geöffnet hatte, als er als Pizzabote verkleidet hierhergekommen war. Schon damals hatte der Bursche nicht den Eindruck gemacht, als fühle er sich in dieser Gesellschaft besonders wohl.
Nachdem der letzte Kabelbinder durchtrennt war, setzte Torsten sich mühsam auf und presste sich die Rechte gegen die Rippen. Zwar taten diese inzwischen nicht mehr so sehr weh wie noch in der Nacht, aber er hielt es für besser, so zu tun, als wäre er stark angeschlagen.
Ohne sich weiter um Jef zu kümmern, sah er zu Henriette hinüber. »Wie geht es Ihnen? Sie sehen ja schlimm aus. Der Kerl, der Sie geschlagen hat, muss pervers sein.«
»Es tut weh, und ich müsste dringend die Schwellung kühlen. Auf dem einen Auge sehe ich überhaupt nichts mehr, und das andere geht auch immer mehr zu.« Henriette ging es ebenfalls nicht so schlecht, wie sie tat. Sie spürte jedoch, dass der junge Flame Mitleid mit ihr hatte, und wollte dies ausnützen. Wenn sie und Renk hier rauskommen wollten, brauchten sie entweder ein Sonderkommando unter der Führung Major Wagners oder jemanden von drinnen, der ihnen zur Flucht verhalf.
»Können Sie mir etwas zu trinken besorgen? Ich vergehe vor Durst.« Damit versuchte sie herauszufinden, wie weit der Flame gehen würde.
Dessen Blick wanderte zu Dunker. »Kann ich den Gefangenen etwas zu essen und zu trinken bringen?«
»Wegen mir können sie verhungern«, sagte Dunker und winkte dann ab. »Mach, was du willst! Aber bring Rechmann vorher noch ein Bier hoch.«
»Ich bin schon unterwegs!« Damit verließ Jef den Keller und eilte die Treppe hoch. Er hörte noch, wie einer von Dunkers Kerlen ihn einen ausgemachten Schwachkopf nannte. Doch anders als in den letzten Tagen verletzte es ihn nicht mehr, denn jetzt hatte er endlich ein Ziel vor Augen.