SIEBZEHN
Geerd Sedersen war so angespannt wie noch selten zuvor in seinem Leben. Zu viel hing von dem Gelingen seines nächsten Coups ab. Daher ließ er sich alle paar Stunden von Rechmann einen kurzen Bericht über die Vorbereitungen schicken. Gelegentlich forderte dieser auch Hilfe an. Für die Ausführung der Aktion waren drei große Lkws notwendig, die jeweils einen vollen Container transportieren konnten, sowie ein Autokran. Bei der letzten Waffenlieferung nach Somaliland waren sie relativ leicht an den Container gekommen, weil der schlecht gesichert auf dem Gelände einer Spedition gestanden hatte. Den privaten Wachdienst dort abzulenken und die Waffen auszuräumen war ein Kinderspiel gewesen. Auch hatte Rechmann den Container mit einer neuen Plombe versehen können, die ihr Gewährsmann bei der Bundeswehr ihnen besorgt hatte. Diesmal aber wurde der Waffentransport von Profis bewacht.
»Rechmann wird schon wissen, was er tut«, versuchte Sedersen sich selbst zu beruhigen, auch wenn er die Sache in Belgien lieber persönlich überwacht hätte. Doch es gab drei Gründe, die dagegen sprachen. Als das Festnetztelefon läutete, hatte er einen davon am Apparat.
»Hallo, Geerd! Gott sei Dank bist du zu Hause. Es ist etwas Schreckliches geschehen!«
»Erst einmal guten Tag, Andreas. Was ist denn los? Du klingst ganz aufgelöst.«
»Hermann ist tot! Er wurde heute gefunden!«
»Machst du Witze? Als ich Hermann das letzte Mal gesehen habe, war er munter wie ein Fisch im Wasser.« Es gelang Sedersen, seiner Stimme erst einen ungläubigen und dann einen bestürzten Tonfall zu geben, während er im Geist die Tatsache verfluchte, dass Hermann Körvers Leichnam ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt entdeckt worden war.
»Das Ergebnis der Obduktion steht noch aus. Der Amtsarzt vermutet, dass Hermann durch einen Herzanfall oder eine plötzliche Übelkeit die Fähigkeit verloren haben muss, seinen Wagen zu lenken. Er ist in dem kleinen See in der Nähe der Hauptstraße gefunden worden. Dort muss er schon Wochen gelegen haben, denn der Zersetzungsprozess ist ziemlich weit fortgeschritten. Und weißt du, was das Schlimmste ist?«
»Nein.«
»Hermann muss aus der Richtung meiner Villa gekommen sein! Wenn ich daran denke, dass er vielleicht krank war und mich daheim nicht angetroffen hat, kommt es mir direkt so vor, als wäre ich schuld an seinem Tod.« Andreas von Straelens Stimme verriet, dass der alte Mann weinte.
Sedersen musste sich zusammenreißen, damit man ihm nicht die Erleichterung anhören konnte, die ihn erfasst hatte. Niemand schien den Verdacht zu hegen, dass Hermann Körver umgebracht worden war. Das war ein Vorteil, den er nutzen musste.
»Entschuldige, wenn ich jetzt herzlos klinge. Aber du sagst, Hermann wäre von dir gekommen. Nicht, dass es schon damals passiert ist, als er mit meinem Gewehr unterwegs war! Die Waffe ist verdammt wertvoll, und wenn sie in die falschen Hände gerät, komme ich in Teufels Küche.«
»Wie kannst du in einer solchen Situation an das Gewehr denken? Der arme Hermann! Ich bin außer mir.«
»Ich bedauere seinen Tod nicht weniger als du. Aber mein eigener Hals ist mir ebenfalls wichtig. Hinter diesem Gewehr sind etliche Geheimdienste her.«
»Und das sagst du jetzt?«, rief von Straelen empört.
»Ich weiß es selbst erst seit ein paar Tagen. Zwar war mir klar, dass es keine normale Waffe ist. Aber ich konnte nicht ahnen, dass es sich um eine so heiße Sache handelt. Habt ihr im Kofferraum von Hermanns Wagen nachgesehen? Ist der Gewehrkasten noch dort?«
Sedersen glaubte fast zu sehen, wie Andreas von Straelen den Kopf schüttelte. »Der Kofferraum war bis auf das Warndreieck und den Verbandskasten leer.«
»Dann bleibt mir nur zu hoffen, dass du recht hast und Hermann später noch einmal zu dir kommen wollte. Der Gedanke, dass er eventuell wegen dieses Gewehrs umgebracht worden sein könnte, erschüttert mich.«
»Das wäre natürlich fatal«, antwortete von Straelen zögernd. Auch wenn er sich in Sedersens Situation hineindenken konnte, wirkte dessen Reaktion zu kalt und berechnend. Irgendwie war der Mann schon immer so gewesen, sagte er sich. Wenn er zurückblickte, musste er sich sagen, dass Geerd ihn und seine Freunde geschickt als Informanten und Lobbyisten ausgenützt hatte. Auch die Sache mit den Hütern der Gerechtigkeit war im Grunde auf seinem Mist gewachsen. Und dieses verdammte Gewehr … Von Straelen konnte seinen Gedankengang nicht beenden, da Sedersens Stimme aus dem Hörer drang.
»Es ist saudumm, dass ich ausgerechnet jetzt für zwei Tage nach England fliegen muss. Mir liegt das Gewehr wirklich schwer im Magen. Du hast doch einen Schlüssel von Hermanns Wohnung und kennst die Kombination seines Safes. Wärst du so lieb und würdest für mich nachsehen, ob die Waffe noch dort ist? Wenn ja, bring das Ding bitte zu mir.«
Von Straelen sagte sich, dass sein Gesprächspartner noch selbstsüchtiger war, als er es sich hätte vorstellen können, und beschloss, die freundschaftliche Beziehung zu ihm nach dieser Sache zu beenden. Vorher aber würde er noch das Gewehr holen, das bereits so viel Unheil angerichtet hatte.
»Also gut, Geerd, ich tue es! Aber nur, damit die Waffe nicht in Hermanns Nachlass gerät und dieser noch nach seinem Tod in ein schlechtes Licht gerückt wird. Du musst mir versprechen, es gut zu verwahren und es um Gottes willen nicht mehr einzusetzen!«
»Das ist doch selbstverständlich. Danke, Andreas! Das werde ich dir nie vergessen. Bis zu Hermanns Beisetzung bin ich wieder zurück. Sprich mir auf die Mailbox, wann und wo sie stattfindet. Und jetzt entschuldige mich! Sonst startet der Flieger ohne mich.«
»Mach’s gut!«, sagte von Straelen noch und beendete das Gespräch.
Sedersen rieb sich die Hände. Allzu lange würde von Straelen gewiss nicht warten, zu Körvers Haus zu fahren, denn er musste verhindern, dass der Nachlassverwalter die Waffe fand.
Auf einmal hatte Sedersen es eilig. Er ging in sein Büro, öffnete den dort eingemauerten Safe und holte das SG21 und mehrere Patronen heraus. Dabei zwang er sich zur Ruhe, denn er durfte die Waffe nicht beschädigen, während er sie und das Zubehör in dem Kasten verstaute, den Rechmann speziell für das Gewehr hatte anfertigen lassen. Nachdem er diesen in der dazugehörigen unauffälligen Reisetasche verstaut hatte, verließ er sein Haus und legte die gut einhundert Meter, die ihn von der alten Halle und den Garagen trennten, im Laufschritt zurück. Dort entschied er sich für einen unauffälligen, schnellen Kleinwagen.
Nach all den Jahren, die er zu dem Altherrenkreis gehört hatte, kannte Sedersen die Angewohnheiten seiner Stammtischfreunde recht genau und legte sich während der Fahrt einen Plan zurecht. Ein paar Kilometer vor dem Ort, in dem Körvers Wohnhaus lag, führte der Weg zunächst eine Weile schnurgerade durch einen Wald und bog dann in einer scharfen Kurve nach rechts ab. An der Stelle musste jeder Fahrer sein Tempo drosseln, um nicht ins Schleudern zu geraten. Sedersen erreichte diese Straße nach einer zügigen Fahrt, bog dort in einen Forstweg ein und suchte eine Stelle, von der aus er die Straße vor der Kurve gut im Blickfeld hatte. Dann packte er das Gewehr aus, legte es sich auf den Schoß und wartete. Andreas von Straelen hatte eine weitere Anfahrt als er und war auch kein besonders flotter Fahrer.
Zwei, drei Autos fuhren die Straße hoch, während Sedersen auf seinen alten Bekannten wartete. Jedes von ihnen reduzierte das Tempo und bog vorsichtig in die scharfe Kurve. Allzu befahren war dieses Straßenstück nicht, und das erleichterte Sedersens Vorhaben. Er kurbelte das Fenster der Beifahrerseite herunter und zielte aus seiner Deckung zwischen den Bäumen auf eine Fahrerin. Als der blaue Ziellaser genau auf ihrer Schläfe stand, zuckte es ihm in den Fingern abzudrücken. Mit einem tiefen Durchatmen senkte er die Waffe und legte sie neben sich auf den Beifahrersitz. Seine Lust zu töten hatte ihn erschreckt.
»Ich darf die Waffe nur einsetzen, wenn ich mir damit einen Vorteil verschaffe«, ermahnte er sich selbst und versuchte, sein aufgewühltes Inneres in den Griff zu bekommen. Er atmete tief durch und nahm den Feldstecher zur Hand.
Fast auf die Minute, die er ausgerechnet hatte, tauchte von Straelens Limousine auf. Ein Stück dahinter folgte ein Kleinwagen, dessen Fahrer nicht genau zu wissen schien, ob er das größere Fahrzeug überholen sollte oder nicht.
Das verunsicherte Sedersen, und er wollte sein Opfer schon für den Moment laufen lassen, weil er keine Zeugen brauchen konnte. Doch dann packte er die Waffe, richtete den Lauf auf von Straelens Wagen und klappte den kleinen Bildschirm auf. Dabei fiel ihm ein, dass er bisher noch nie auf ein sich bewegendes Ziel geschossen hatte. Doch mithilfe des Zielcomputers würde ihm auch dieser Treffer gelingen. Er sah, wie eines der beiden Kreuze, die beim Schuss in einer Linie stehen mussten, leicht zur Seite wanderte, und korrigierte den Anschlagwinkel. Als der Zielpunkt genau auf von Straelens Schläfe zeigte, drückte er ab.
Sedersen nahm sich nicht die Zeit nachzusehen, ob und wie gut er getroffen hatte, sondern legte die Waffe in den Fußbereich des Beifahrersitzes und fuhr an, um sich so schnell, wie es unauffällig möglich war, von der Stelle des Anschlags zu entfernen. Im Rückspiegel sah er, wie von Straelens Wagen ungebremst geradeaus fuhr und in eine Gruppe eng zusammenstehender Bäume raste. Der Fahrer des Wagens, der hinter von Straelen fuhr, hatte rechtzeitig gebremst und hielt nun an.
Sedersen fuhr los, bevor der Fahrer auf ihn aufmerksam werden konnte, und folgte dem Waldweg, bis dieser auf eine andere Straße traf.
Keine halbe Stunde später befand sich der Kleinwagen wieder in der Garage. Sedersen entfernte die Nummernschilder und warf sie in den Metallschredder, den Rechmann sich für solche Zwecke angeschafft hatte. Sobald sein Leibwächter wieder zurück war, würde dieser den Wagen neu lackieren, damit niemand ihn mit dem Gefährt in Verbindung bringen konnte, das jemand in der Nähe des Ortes, an dem Andreas von Straelen ums Leben gekommen war, gesehen haben mochte.