DREISSIG
Igor Rechmann wurde langsam ebenso ungeduldig wie die versammelten Trauergäste und die Geistlichen. »Allmählich müsste die königliche Familie auftauchen«, sagte er zu Maart und blickte in die Richtung, aus der diese kommen sollte.
Es tat sich jedoch nichts. Dabei waren hier so viele Menschen zusammengeströmt, dass der Friedhof nicht ausreichte, alle aufzunehmen. Es schien, als wolle halb Belgien Abschied von dem Mann nehmen, der bis zuletzt für den Erhalt ihres Landes gekämpft hatte.
Maart starrte auf die Menge, die sich um den Kleinbus ballte. »Wir hätten aus dem Wagen steigen sollen, als es noch ging!«
»Ich konnte doch nicht ahnen, dass so viele kommen. Jetzt müssen wir uns eben durch die Leute durchboxen!« Rechmann ärgerte sich, denn an einen Hünen mit einem Kindergesicht, der sich mit Gewalt freie Bahn verschaffte, würden sich die Menschen erinnern. Allerdings hätte er den Wagen nicht früher verlassen können, ohne Verdacht zu erwecken.
»Ich hätte den Kasten mit einer Fernsteuerung ausstatten und auf dem Parkplatz abstellen sollen. Dann hätte ich ihn bei der Ankunft des Königs ganz entspannt mitten in die Masse hineinfahren und in die Luft jagen können.« Noch während er es sagte, begriff Rechmann, dass eine Manipulation an der Lenkanlage bei den Kontrollen aufgefallen wäre. Die einzige Chance, ihr Opfer zu erwischen, war die, die er gewählt hatte.
Auf einmal keuchte Maart erschrocken auf. »Da kommen immer mehr Polizisten!«
»Was sagst du da?« Rechmann stemmte sich aus dem Fahrersitz hoch und starrte über die Köpfe der Umstehenden. Tatsächlich strömten immer mehr Uniformierte heran. Teilweise handelte es sich um einfache Streifenpolizisten, doch er entdeckte unter ihnen auch Angehörige von Sonderkommandos mit Splitterschutzwesten, Helmen und Maschinenpistolen.
»Schalt das Radio ein!«
Maart gehorchte und lauschte ebenso überrascht wie Rechmann den verwirrenden Meldungen, die über den Äther drangen. Eines wurde beiden rasch klar: In Belgien herrschte Aufruhr. Rechmann erkannte seinen Plan für den Tag der Abspaltung wieder. »Sedersen muss verrückt sein, die Revolution ausgerechnet jetzt anzuzetteln! Wir sind doch noch gar nicht so weit! Außerdem hätte er uns über die Änderung seiner Pläne informieren müssen. Jetzt sitzen wir beide in der Scheiße!«
»Es muss was passiert sein, da …«, begann Maart, doch Rechmann unterbrach ihn rüde.
»Halt’s Maul! Der Reporter quatscht gerade vom König.«
In den nächsten zwei Minuten begriffen beide, dass weder der König noch sonst jemand aus seiner Familie hier erscheinen würde. Inzwischen begannen die Polizisten, die Zuschauer am äußersten Rand zurückzudrängen. Sie arbeiteten sich dabei so zielstrebig auf den Kleinbus zu, dass kein Zweifel blieb.
»Die Schweine wissen von uns!« Rechmann fragte sich, wer sie verraten haben könnte. Sedersen gewiss nicht. Der stand und fiel mit ihm. Also musste es Zwengel oder einer von dessen einheimischen Verbündeten sein. Sein Blick suchte den Flamenführer und fand ihn ganz in der Nähe des Kleinbusses. Wie es aussah, war Zwengel per Handy gewarnt worden, denn er schob sich durch die Leute zum Ausgang. Giselle Vanderburg hatte Sedersens Warnung anscheinend verdrängt, denn sie kam direkt auf den Eingang des Friedhofs zu.
Rechmann wusste, dass Sedersen ein Verhältnis mit der attraktiven Frau angefangen hatte. Daher konnte auch sie genug über dessen Pläne wissen, um ihn und damit sie alle zu Fall zu bringen.
Eine Megaphondurchsage durchbrach Rechmanns Gedankengänge. Der Polizist forderte die Trauergäste auf, Ruhe zu bewahren und den Friedhof zu verlassen. Seine Kollegen schufen inzwischen einen Korridor, der quer durch die Menge fast schon bis zu dem Kleinbus reichte.
Rechmann sah weitere schwerbewaffnete Polizisten die Straße heranstürmen und die Leute vom Bus wegdrängen. Doch der freie Platz, der dadurch entstand, hatte eine Sogwirkung auf die Menschen im Friedhof, die rascher nachströmten, als die Polizisten sie wegschaffen konnten.
Zuletzt gelang es den Exekutivbeamten dann doch, einen Kordon um den Kleinbus zu ziehen. Die Waffen auf das Führerhaus gerichtet, warteten sie, bis ihr Kollege mit dem Megaphon zu ihnen aufgeschlossen hatte. Dieser erkannte, dass das Fahrzeug noch nicht verlassen war, und richtete sein Sprachrohr auf die Fahrerkabine. »Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«
Rechmann langte unwillkürlich in seine Hosentasche und spürte sein Handy zwischen den Fingern. Alles umsonst, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte für Sedersen gearbeitet und gemordet, um einmal mehr zu sein als der vierschrötige Kerl mit dem Babygesicht, den niemand ernst nehmen wollte. Doch jetzt würde er im Gefängnis landen, ohne Aussicht, je wieder herauszukommen.
Während der Polizist die Aufforderung wiederholte, sich zu ergeben, sah Rechmann seinen Begleiter mit einem eigenartigen Lächeln an. »Du kannst aussteigen, Maart!«
Der junge Niederländer riss die Beifahrertür auf und verließ den Wagen. Rechmann wartete, bis er um das Fahrzeug herumgekommen war und mit erhobenen Händen auf die Polizisten zuging. Dann öffnete auch er seine Tür. Während die Menschen um ihn herum erleichtert aufatmeten, drückte er den Zündknopf.
Er hörte noch, wie die Seitenwände des Kleinbusses abgesprengt wurden. Dann zündete die Hauptladung, und seine Welt verging in einem Feuerball.