ZWANZIG

A ls die beiden endlich Burcht erreichten, hellte sich der östliche Horizont bereits auf. Noch schlief die Stadt, doch bald schon würden die Menschen geschäftig in die Werkstätten, Werften und Fabriken eilen. Bis dorthin mussten sie in ihrem Versteck sein oder zumindest im Wagen sitzen.

An ihrem Ausgangspunkt angekommen kletterte Henriette mit kraftlosen Bewegungen auf den Steg und humpelte auf das Auto zu.

Torsten musterte sie besorgt. »Sie sind also doch verletzt.«

»Das ist nur eine Kleinigkeit!«, tat sie ihre Blessuren ab und begann, Sauerstoff-Flasche, Schwimmflossen, Brille und Mütze in den Kofferraum zu werfen. Auch Torsten entledigte sich seiner Taucherausrüstung, stopfte sie zusammen mit dem Scooter in den Kofferraum und schlug den Deckel zu.

»Soll ich fahren?«

»Es geht schon!«, log Henriette und setzte sich mit zusammengebissenen Zähnen hinter das Steuer.

Torsten nahm neben ihr Platz und reichte ihr die Bluse, die sie im Auto zurückgelassen hatten. »Ziehen Sie die an, damit wir unsere Tarnung aufrechterhalten. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass jemand um die Zeit auf unsere Tauchanzüge aufmerksam wird, aber wir sollten kein Risiko eingehen.«

»Da haben Sie recht!« Henriette ergriff die Bluse und schlüpfte hinein. Dabei fuhr ihr ein stechender Schmerz durch die linke Schulter. Sie unterdrückte den Wehlaut und schloss die Knöpfe. Dabei beneidete sie Renk, der einfach nur sein T-Shirt überzog und sich dann mit einem verzerrten Grinsen zurücklehnte.

»Das hätten wir geschafft!«

»Noch nicht ganz. Wir müssen noch in unser Versteck!«, widersprach Henriette und startete den Wagen. Bereits das Lenkrad festzuhalten bereitete ihr höllische Schmerzen. Doch die Disziplin, die sie sich in langen Jahren antrainiert hatte, half ihr, das Auto über die teilweise mit Kopfsteinpflaster befestigten Straßen zu fahren. Als sie etliche Minuten später vor dem schuppenartigen Gebäude ihres Verstecks anhielt, standen ihr Schweißtropfen auf der Stirn, und sie fühlte sich so schwach, dass sie sich am liebsten heulend in eine dunkle Ecke verkrochen hätte.

Torsten sprang aus dem Wagen, rannte zum Tor und öffnete es hastig. Dabei hoffte er, dass nicht zufällig jemand vorbeikam und ihn im nass gewordenen T-Shirt und den Hosen des Taucheranzugs sah. Henriette riss sich zusammen und steuerte den Wagen in die Halle. Als das Auto schließlich stand und Torsten das Tor hinter ihnen zuziehen konnte, atmeten sie beide auf.

Aber dann begriff Torsten, dass ihm das Schlimmste noch bevorstand. Er musste Wagner so schnell wie möglich berichten, was er gesehen hatte, und das würde seinem Vorgesetzten ganz und gar nicht gefallen. Da ihm die Nachricht unter den Fingernägeln brannte, wandte er sich kurz an seine Begleiterin. »Ich übermittle Wagner die Neuigkeiten. In der Zeit sollten Sie in den Keller steigen und sich waschen. Das Wasser im Hafen ist nicht gerade das gesündeste. Anschließend sehe ich mir Ihre Verletzungen an. Ein bisschen Verbandszeug haben wir ja hier.«

Während Torsten sich an den Computer setzte und Henriette den Rücken zuwandte, zog sie Bluse und Taucheranzug aus. Obwohl ihr vor Schmerzen die Tränen übers Gesicht liefen, versuchte sie, ihrer Stimme einen normalen Klang zu geben. »Danke, Herr Oberleutnant. Ich fühle mich wirklich ein wenig flau!«

Sie schlüpfte aus der Kleidung, die sie unter dem Neopren getragen hatte, bis sie nur noch Höschen und BH trug, und starrte angewidert auf die Bescherung. »Das Zeug werde ich nicht mehr anziehen können.«

»Haben Sie Ersatzwäsche dabei?«, fragte Torsten, dem einfiel, dass er seine Kleidung in Breda hatte liegen lassen.

»Es müsste noch etwas in der Tasche sein!« Henriette wollte die Sachen holen, hielt aber inne. Schmutzig, wie sie war, wollte sie die Unterwäsche nicht anfassen. Die Alternative war jedoch, unbekleidet aus dem Keller zu steigen. Dann aber winkte sie ab. Sie war eine Soldatin, und schamhafte Ziererei war in diesem Fall wirklich unnötig. Daher zog sie sich ganz aus, kletterte in den Keller und füllte das Waschbecken mit warmem Wasser. Während sie sich einseifte und mehrfach tief Luft holte, weil die Lauge in ihren Schürfwunden brannte, wartete Torsten oben ungeduldig auf die Verbindung mit Wagner. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Seite aufgebaut war und das übernächtigte Gesicht des Majors auf dem Bildschirm erschien.

Wie er es erwartet hatte, war der Major in seinem Büro geblieben und hatte auf seine Informationen gewartet. »Wie sieht es aus?«

»Wollen Sie eine höfliche oder eine ehrliche Antwort?«, fragte Torsten.

Wagner kniff die Augen zusammen. »Okay, die ehrliche!«

»Dafür gibt es nur ein Wort: beschissen!«

»Die Container sind also ausgetauscht worden.«

»Ja! In dem einem befindet sich Schutt. Ob noch was anderes darunter liegt, konnte ich nicht feststellen.«

Renks Tonfall ließ Major Wagner aufhorchen. »Was ist in dem anderen Container?«

»Eine große Limousine!« Torsten machte eine kurze Pause, um sich die nächsten Worte zurechtzulegen, doch Wagner folgte einer falschen Spur. »Autoschmuggel also!«

Torsten schüttelte den Kopf. »Nein, der Wagen ist recht rau mit Ketten festgezurrt und dadurch beschädigt worden. Interessanter ist das, was in seinem Kofferraum steckt.«

»Lassen Sie sich nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen! Was haben Sie gefunden?«

»Einen Toten, der, wie ich schätze, schon vor etlichen Tagen das Zeitliche gesegnet hat. Es handelt sich wahrscheinlich um einen älteren Mann. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Das ist eine verdammte Sauerei!«, sagte Wagner und fluchte so laut, dass es durch die ganze Kaserne hallen musste. Dann schnaubte er. »Auf alle Fälle ist es keine Fracht, die nach Somaliland gelangen sollte.«

Torsten sprach das aus, was ihm schon länger durch den Kopf ging. »Die Container mit den Waffenladungen sind nicht zufällig ausgetauscht worden. Es muss eine undichte Stelle in unserer Abteilung geben.«

»Oder bei den Firmen, die die Sachen für uns verschicken«, wandte Wagner ein. »Ich werde mich darum kümmern. Die Container müssen wir auf jeden Fall in die Hand bekommen, aber das wird Frau Waitl für uns regeln. Haben Sie sich das Kennzeichen gemerkt?«

»Natürlich!« Torsten nannte Wagner das Kennzeichen und hörte, wie dieser auf die Tasten seiner Computeranlage klopfte.

Als der Major fertig war, sah er Torsten mit einem schiefen Grinsen an. »Ganz verkalkt bin ich doch noch nicht. Ich habe mir ein paar von Frau Waitls Tricks merken können und kenne nun den Besitzer. Der Wagen ist auf einen pensionierten Richter namens Friedmund Themel zugelassen, der seit einiger Zeit vermisst wird. Schätze, Sie haben ihn gefunden. Das ist auch eine Sache, der wir nachgehen müssen, denn einige von Themels Freunden haben ebenfalls kurz hintereinander das Zeitliche gesegnet. Es hieß zwar, sie seien bei Unfällen ums Leben gekommen, aber da bin ich mir nun nicht mehr so sicher.«

»Leutnant von Tarow und ich können jederzeit zurückkommen und die Sache übernehmen«, bot Torsten an.

Wagner schüttelte den Kopf. »Sie bleiben vorerst vor Ort. Die Container wurden in Belgien vertauscht, und das muss einen Grund haben. Wer zum Teufel braucht dort Waffen? Finden Sie es heraus! Ich werde dafür sorgen, dass Frau Waitl Ihnen alle Unterlagen mailt, die sie eruieren kann. Und damit gute Nacht, Renk, oder besser gesagt, guten Morgen! Wir sprechen uns heute Nachmittag wieder.« Damit schaltete der Major die Verbindung ab und ließ Torsten mit einem Haufen unbeantworteter Fragen zurück.

Die geheime Waffe
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