ZWÖLF
Drei Tage später waren die Glasscherben und der Schutt in Schloss Laeken beseitigt. Die beschädigten Gebäudeteile hatte man mit Stützen gesichert, und in den Privaträumen des Königs und seiner Gemahlin arbeiteten bereits Maurer und Stuckateure, um diese wieder bewohnbar zu machen. Auch in den angrenzenden Stadtvierteln wurde kräftig aufgeräumt. Den Bewohnern war der Schrecken heftig in die Glieder gefahren, und so verfolgten sie regelmäßig die Fernsehnachrichten, um informiert zu sein, wenn irgendwo neue Unruhen ausbrachen. Doch in diesen Tagen war es in Belgien so still, dass Torsten spöttisch meinte, selbst die Unteroffiziere auf dem Kasernenhof flüsterten, wenn sie ihre Rekruten zusammenstauchten.
An diesem Morgen waren Henriette und er ins Palais du Roi in der Innenstadt beordert worden. Im Wagen krauste Henriette die Nase. »Wieso gibt es in Brüssel eigentlich zwei königliche Paläste? Ich würde meinen, einer wäre genug.«
»Vielleicht ist der eine der flandrische und der andere der wallonische Palast«, spottete Torsten, hob dann aber beschwichtigend die Hand. »Bitte nicht schlagen! Das war nur ein Scherz. Das Palais du Roi, zu dem wir jetzt fahren, ist der Amtssitz des Königs, sprich, seine Arbeitsstelle. Im Château Royal Laeken hingegen wohnt Albert samt seiner Familie, wenn es nicht zufällig wie jetzt ein bisschen gelitten hat. Bevor Brüssel so stark gewachsen ist, muss es ein hübscher Landsitz gewesen sein.«
»Danke für die Erklärung, und geschlagen hätte ich Sie sowieso nicht.« Henriette lachte und wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
Ihr Fahrer lenkte den Wagen über die Rue Royale, bog in den Place du Palais ein und hielt vor dem Museum der Dynastie an. »Wir sind da«, sagte er und fragte sich, weshalb in dieser schweren Zeit ausgerechnet zwei subalterne deutsche Offiziere eine Audienz beim König erhielten.
Als der Wagen stand, traten zwei Personen aus dem Schatten des Gebäudes und grüßten militärisch. Jean Antoine Pissenlit und seine Schwester Louise trugen Galauniform und atmeten sichtlich auf, als sie sahen, dass auch Henriette und Torsten sich in Schale geworfen hatten.
Henriette trug Hosen und Jacke im Blau der Luftwaffe mit den Schulterklappen eines Leutnants und hatte das blaue Schiffchen aufgesetzt. Während sie Torsten betrachtete, dachte sie, dass er zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, keine Jeans trug, sondern dunkelgraue Uniformhosen und statt der Lederjacke die silbergraue Jacke des Heeres. Besetzt war diese mit den grünen Kragenspiegeln der Infanterie. Außerdem hatte er eine hellgraue Schirmmütze aufgesetzt, die ihn sehr martialisch aussehen ließ. Am auffälligsten war jedoch das Ordensband auf seiner Brust, das auf die Vielzahl der Orden hinwies, die er bereits erhalten hatte.
Als die beiden ausstiegen, entdeckte auch Leutnant Pissenlit diese Ordensspange und schluckte. »Im Sudan hattest du die aber noch nicht«, platzte er heraus und zuckte dann zusammen. »Ich bitte um Entschuldigung, Herr Oberleutnant.«
»Angenommen!« Torsten grinste und versetzte ihm einen leichten Boxhieb gegen die Schulter. »Hast du eine Ahnung, weshalb wir hier antanzen sollen?«
Pissenlit hatte seinen Schock über Torstens Ordensfülle inzwischen überwunden und strahlte über das ganze Gesicht. »Natürlich weiß ich es, aber ich will dir nicht die Überraschung verderben. Kommen Sie jetzt bitte mit.« Das Letzte galt Henriette, die nicht weniger neugierig wirkte als ihr Kollege.
Zu viert betraten sie das Palastgebäude und gingen einen schier endlos langen Flur entlang. Nach einer Weile gelangten sie in einen Vorraum, in dem Torsten und Henriette zu ihrer Überraschung Major Wagner, Petra und Hans Borchart entdeckten. Die drei winkten ihnen zu, doch sie konnten nicht einmal einen Gruß wechseln, da ein Mann in einem dunklen Anzug auf Torsten und Henriette zukam und sie begrüßte.
»Herr Oberleutnant Renk, Frau Leutnant von Tarow, willkommen im königlichen Palais. Wenn Sie mir bitte folgen wollen!« Der Mann machte eine entsprechende Handbewegung und schritt voran. Henriette und Torsten folgten ihm, flankiert von den Geschwistern Pissenlit, die rasch noch Jagd auf mögliche Flusen auf ihren Uniformen machten. Vor einer breiten Tür nahmen sie Haltung an.
Ein Lakai in Livree und mit weißen Handschuhen öffnete und trat dann beiseite, um den Weg freizugeben. Im Innern des Raumes befanden sich ein alter, wertvoller Sekretär aus dunklem Holz sowie ein wuchtiger Schreibtisch. An diesem saß der König, der offensichtlich Papiere durchgesehen hatte, die er jetzt beiseitelegte.
»Eure Majestät, Oberleutnant Renk und Leutnant von Tarow von der Deutschen Bundeswehr«, stellte der Mann im Anzug Henriette und Torsten vor. Beide salutierten und blieben auf einen Wink ihres Führers stehen.
Albert II. erhob sich schwerfällig und trat auf sie zu. Sein Gesicht war noch bleich, dennoch sah er besser aus als noch vor drei Tagen. Mit einem kurzen Blick stellte Torsten fest, dass auch die Hand des Königs nicht mehr zitterte. »Meine Dame, Herr Offizier! Ich bedauere, Sie so formlos empfangen zu müssen, doch es gilt vieles zu erledigen. Ich muss die Gräben in meinem Land zuschütten, so gut ich es vermag, und werde in wenigen Minuten die führenden Politiker Flanderns empfangen. Doch irgendwann wird die Zeit kommen, in der ich Sie im privateren Rahmen zu mir bitten und Ihnen für all das danken kann, was Sie für dieses Land getan haben. Ich will jedoch nicht versäumen, Sie bereits jetzt so auszuzeichnen, wie Sie es verdienen.«
Der König schwieg einen Augenblick. Dafür traten Louise und Jean Antoine Pissenlit zu seinem Schreibtisch, nahmen je ein kleines, mit blauem Samt überzogenes Etui an sich und stellten sich neben Albert II. Dieser ergriff das Etui, das die Frau in der Hand hielt, und öffnete es. Dabei wurde ein weiß emailliertes Malteserkreuz mit goldenen Kugeln an den acht Spitzen sichtbar. Der König nahm es heraus, reichte das Etui an Louise Pissenlit zurück und sah Henriette an. »In Anbetracht Ihrer Verdienste ernenne ich Sie zum Ritter des Leopoldsordens des Königreichs Belgien!« Er heftete ihr das Abzeichen an die Brust und reichte ihr die Hand. Ein Lächeln spielte um seine Lippen, als er nicht ganz protokollgemäß »Danke!« sagte.
Dann kam Torsten an die Reihe. Dieser vermied es, Henriette, die mit leuchtenden Augen auf ihren Orden sah, einen kurzen Seitenblick zuzuwerfen, sondern sah starr geradeaus. Auch er erhielt den Leopoldsorden, doch ernannte Albert II. ihn nicht zum Ritter, sondern gleich zum Offizier.
Nachdem der König auch Torsten die Hand gereicht hatte, mahnte ein Hüsteln des Herrn im dunklen Anzug, dass der nächste Termin des Königs bevorstand.
Henriette und Torsten salutierten noch einmal und folgten den Pissenlits hinaus. Auf dem Flur drehte Jean Antoine sich um und boxte Torsten spielerisch in die Rippen. »Meinen Glückwunsch! Aber ihr beide habt euch diese Ehren auch redlich verdient. Übrigens werde ich in zwei Wochen auch so ein Ding bekommen, dann aber vor laufender Kamera. Allerdings werde ich ebenso wie Leutnant von Tarow zum Ritter des Leopoldsordens ernannt. Also kann ich auch damit nicht gegen dich anstinken. Ich werde übrigens nicht der Einzige sein, der diesen Orden erhält. Euer Kumpel, Jef van der Bovenkant, wird ebenfalls geehrt. Wir brauchen nämlich auch einen flämischen Helden.«
»Ein Held war Jef nun gerade nicht, aber dafür hat er sich wacker geschlagen.« Torsten schüttelte lächelnd den Kopf, während Pissenlit ernst wurde.
»Durch die Tatsache, dass ein Flame und ein Wallone gemeinsam geehrt werden, soll dem Land gezeigt werden, dass es auf beiden Seiten Menschen gibt, die zum Staat Belgien stehen. Vielleicht haben die schrecklichen Stunden, die wir durchleben mussten, sogar ihr Gutes, und die Menschen in diesem Land begreifen endlich, dass sie ein Volk sind. Und wenn nicht, so werden sie nach diesen Tagen friedlich auseinandergehen und gute Nachbarn werden. Vielleicht hat ja unser Belgien doch noch nicht ausgedient und bekommt eine neue Chance. Was meinst du?«
Torsten winkte mit beiden Händen ab. »Tut mir leid, aber das ist eure Sache. Ich halte mich da raus.«