FÜNFZEHN

Petra kam in dem Moment, in dem Torsten wie ein gereizter Stier losstürmen wollte, um sie zu suchen. Sie sah abgehetzt aus und wirkte auch nicht besonders zufrieden. »Hier ist alles drauf, was ich bis jetzt herausgefunden habe. Dazu der erste Bericht, den die Polizei wegen des Brandes in der Waffenfabrik geschickt hat. Ich dachte, er würde dich interessieren, darum habe ich gewartet, bis er durchgekommen ist.«

»Danke, Petra, du bist ein Schatz!« Torsten vergaß alle Mordabsichten und klopfte seiner Freundin anerkennend auf die Schulter. »Ich sagte doch, wenn es jemand schafft, dann du!«

»Sei bitte nicht enttäuscht, wenn du die Ausbeute sichtest. Viel habe ich nicht herausgefunden.« Damit steckte sie Torsten eine SD-Karte zu und trat beiseite.

Torsten überlegte, ob er besser hinten einsteigen sollte, um in Ruhe an seinem Laptop arbeiten zu können. Doch hinten saßen gewöhnlich die Generäle und jene höheren Offiziere, die sich für wichtig hielten. Daher nahm er auf dem Beifahrersitz Platz.

Noch während er die Tür zuzog, startete Leutnant von Tarow den Wagen. Sie fuhr im vorschriftsmäßigen Tempo über das Kasernengelände, und Torsten, der sich nie um das Beschränkungsschild auf zehn Kilometer pro Stunde gekümmert hatte, konnte sich eine bissige Bemerkung nicht verkneifen.

Er vergaß seine Fahrerin jedoch in dem Augenblick, in dem er seinen Laptop einschaltete und die Daten einspielte. Petra mochte die Ausbeute für enttäuschend halten, doch er sah eine Fülle an Material vor sich, das ihm sowohl einen Einblick in die internen Verhältnisse in der Waffenfabrik als auch über deren Brand und den Ablauf der Randale der Neonazis verschaffte.

Die Fabrik gehörte zum Firmenimperium eines gewissen Geerd Sedersen und war von diesem erst kurz vor der Entscheidung, den Prototyp des Scharfschützengewehrs SG21 dort herstellen zu lassen, gekauft worden. Sedersen hatte auch Mirko Gans als leitenden Ingenieur in die Fabrik geholt. Außer einer Lizenzfertigung von Pistolen für einen ausländischen Auftraggeber und der Munition für das SG21 waren in der Fabrik keine weiteren Waffen oder Geräte hergestellt worden.

Die für die Spezialpatronen benötigte Treibmischung war der zweite Punkt, der Torsten auffiel. Der Auftrag an die Firma hatte eintausendfünfhundert Projektile für Versuchszwecke umfasst. Durch einen Fehler im Beschaffungsamt war jedoch so viel Treibmasse dorthin geliefert worden, dass mehr als hunderttausend Geschosse hätten angefertigt werden können.

»Dem müssen wir auf den Grund gehen«, sagte Torsten leise zu sich selbst.

»Wem müssen wir auf den Grund gehen?«, fragte Henriette.

Torsten hatte schon eine patzige Antwort auf den Lippen, sagte sich dann aber, dass Wagner ihm schließlich aufgetragen hatte, sie auszubilden. Daher blickte er von seinem Laptop hoch und starrte in die Landschaft, die an ihnen vorüberflog. Die Nadel des Tachos stand leicht über hundertsiebzig. Leutnant von Tarow mochte vielleicht auf dem Kasernengelände vorsichtig fahren, doch auf der Autobahn schien sie sich nicht vor hohen Geschwindigkeiten zu fürchten.

»Die Waffenfabrik, zu der wir fahren, hat fast das Hundertfache der benötigten Treibmasse für die Patronenherstellung bekommen. Das ist etwas, worum sich Petra und Wagner kümmern sollten.«

Torsten senkte wieder den Kopf und schrieb eine Mail an Petra. Das Verschlüsselungsprogramm hatte diese selbst geschrieben und behauptet, die besten Geheimdienste der Welt würden ihr System nicht knacken können. Er schickte sie über den eingebauten Sender des Wagens ab und vertiefte sich wieder in Petras Berichte. Als er das nächste Mal aufschaute, lag Nürnberg hinter ihnen, und zur Rechten tauchten bereits die bewaldeten Gipfel des Fichtelgebirges auf.

»Wir kommen gut voran«, bemerkte Torsten zufrieden.

»Ich hatte den Eindruck, bei diesem Auftrag sei Eile nötig«, antwortete Henriette, die nicht sicher war, wie Torsten das gemeint hatte.

»Das Wort Eile ist relativ. Im Grund ist das Kind ja schon in den Brunnen gefallen, und wir können nichts mehr daran ändern. Andererseits aber könnten wichtige Spuren verschwinden oder durch Unachtsamkeit beseitigt worden sein, wenn wir nicht schnell genug vor Ort sind.«

»Damit ist höchste Eile gefordert«, erklärte Henriette und drückte das Gaspedal voll durch.

»Fahren Sie nicht schneller, als Sie es verantworten können, Leutnant«, mahnte Torsten sie und rief die Datei über Ingenieur Gans auf.

Mirko Gans hatte bereits in verschiedenen Firmen gearbeitet, war jedoch nie in den Führungszirkel aufgestiegen, obwohl seine Fähigkeiten stets gelobt worden waren. Häufig hatte er Verbesserungsvorschläge gemacht, für die er mit ein paar Euro Prämie abgespeist worden war, dabei waren seine Ideen zweifelsohne Millionen wert. In Torstens Vorstellung entstand das Bild eines Mannes, der sich und seine Fähigkeiten nie richtig gewürdigt gesehen hatte.

Er atmete tief durch und schaltete seinen Laptop aus. »Ich bin gespannt, was wir herausfinden werden!«

»Sind Sie auf etwas gestoßen, Herr Oberleutnant?«, fragte Henriette.

»Nur ein paar Fäden, denen ich folgen werde.« Torstens Jagdtrieb war erwacht und vertrieb den Ärger über die ihm aufgezwungene Kollegin. Nun sah er Henriette von Tarow auch nicht mehr als Hindernis an, sondern als jemanden, der ihn tatkräftig zu unterstützen hatte. Immerhin konnte sie recht gut Auto fahren und hatte ihm dadurch die Zeit gegeben, Petras Informationspaket durchzusehen.

Henriette spürte, dass ihr Begleiter in Ruhe nachdenken wollte, und tat ihm diesen Gefallen. Sie selbst wusste zu wenig über das Vorgefallene, um irgendwelche Schlüsse ziehen zu können. Während sie jede Lücke auf der Autobahn nutzte, um schneller voranzukommen, fragte sie sich, wieso Renk ihr so abweisend gegenübertrat. Lag es an ihrer halbphilippinischen Herkunft? Für so engstirnig hätte sie ihn nicht gehalten. Oder passte es ihm nicht, dass sie eine Frau war? Wenn ja, würde sie ihm beweisen, dass sie um keinen Deut schlechter war als ihre männlichen Kollegen.

Schließlich ergriff Torsten das Wort. »Was halten Sie davon, wenn wir an der nächsten Raststätte eine Kleinigkeit essen?«

»Ich dachte, Sie wollen so schnell wir möglich nach Suhl kommen, Herr Oberleutnant.«

»Das will ich auch. Aber wenn wir durchfahren, habe ich keine Ahnung, wann wir wieder was zwischen die Zähne bekommen. Es kann Nacht werden, und ich will Sie nicht den ganzen Tag fasten lassen.«

»Auf mich brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen, Herr Oberleutnant«, antwortete Henriette bissig.

»Tu ich auch nicht. Aber ich mag es nicht, wenn mein Magen knurrt, während ich etwas untersuche. Fahren Sie bei der nächsten Raststätte raus.«

»Wie Sie befehlen!« Nach Henriettes Ansicht hätten sie sich in Suhl zu essen besorgen können, ohne dabei Zeit zu verlieren. Notfalls wäre sie mit einem oder zwei Müsliriegeln aus ihrer eisernen Ration und einem Becher Wasser zufrieden gewesen. Im Vergleich zu den Soldaten der Teilstreitkräfte, bei denen sie gedient hatte, schienen die Mitarbeiter des MAD verweichlicht zu sein.

An der nächsten Raststätte fuhr sie von der Autobahn und blieb in der Nähe des Restaurants stehen.

»Dann wünsche ich Ihnen guten Appetit, Herr Oberleutnant! «, stichelte sie.

»Sie kommen mit!«, bellte Torsten und stieg aus. Henriette folgte ihm und stellte sich hinter ihm an.

»Zweimal Bratwurst mit Kartoffelsalat«, bestellte er und zeigte dann auf den Getränkeautomaten. »Sie können mir eine Cola light herauslassen, Leutnant, dann geht es schneller.«

»Haben Sie deswegen Bratwurst bestellt?« Henriette betrachtete die beiden fetten Würste, die eben auf zwei Tabletts geladen wurden, mit einem gewissen Misstrauen.

»Das Spesenkonto unseres Vereins reicht nun einmal nicht für ein Nobelrestaurant mit einem Siebengängemenü. Und jetzt gehen Sie schon zum Getränkeautomaten, bevor die Leute aus den beiden Reisebussen da draußen hier einfallen.«

Schnell legte Henriette die paar Schritte zum Getränkeautomaten zurück, nahm ein Glas und füllte es mit Cola light. Für sich selbst wählte sie Tafelwasser.

Als sie den Automaten wieder verließ, reichte die Schlange hinter ihr bereits bis zur Tür. Unterdessen hatte auch Renk die beiden Tabletts gefüllt, und sie trafen sich an der Kasse.

»Danke, dass Sie mich gewarnt haben. Ich hatte die Leute nicht gesehen«, sagte Henriette.

»In unserem Verein muss man in jeder Situation die Augen offen halten.« Torstens Lächeln nahm seinen Worten die Spitze.

Ihr Begleiter sah mit einem Mal weniger mürrisch aus, fand Henriette. Auf jeden Fall war er ganz anders, als sie sich ihn vorgestellt hatte. Bei einem Mann mit seinen Auszeichnungen hatte sie sich einen Offizier in korrekter Uniform und mit Ordensband vorgestellt; vielleicht auch einen Haudegen mit derbem Wortschatz und dem unstillbaren Drang, allen weiblichen Wesen, auf die er traf, an den Hintern zu greifen. Renk glich weder dem einen noch dem anderen Bild, und sie wusste noch nicht recht, was sie von ihm halten sollte.

Sie fanden einen freien Tisch in der Ecke. Leider befand sich dort ein Lautsprecher, der sie wechselweise mit Musik und Nachrichten beschallte. Torsten schaufelte das Essen so schnell in sich hinein, wie er es gewohnt war, und bedachte Henriette mit einem tadelnden Blick, weil sie bedächtiger aß.

Die junge Frau merkte rasch, dass sie das Essen hinunterschlingen musste, um ihren ungeduldigen Ausbilder nicht zu verärgern. Allerdings war Wasser nicht gerade das ideale Getränk, um eine fette Bratwurst und Kartoffelsalat hinunterzuspülen. Daher ließ sie, als Renk fertig war, den Rest stehen und stand auf.

»Meinetwegen können wir aufbrechen.«

»Bringen Sie das Geschirr weg. Wir treffen uns draußen am Auto!« Torsten stiefelte los und überließ es Henriette, den Tisch abzuräumen.

Diese sah ihm kurz nach, stapelte die Teller auf das Tablett und trug es zu dem bereitstehenden Geschirrwagen. Dabei dachte sie, dass Renk eines nicht war, nämlich ein Kavalier. Dann erinnerte sie sich daran, dass er höher im Rang stand als sie, und zuckte mit den Schultern.

Draußen musste Henriette ein paar Minuten warten, bis Renk auftauchte. Er hatte sich mehrere Zeitungen unter den Arm geklemmt und stieg ein, ohne ein Wort zu verlieren. Während sie losfuhr, nahm er sich das oberste Blatt vor und las die Artikel über die Vorfälle in Suhl. Zu seinem Leidwesen hatten die meisten Reporter mehr auf ihre Phantasie als auf sichere Informationen zurückgegriffen, doch allen Artikeln war der Schock anzumerken, den der Angriff der Neonazis hinterlassen hatte. Nicht wenige Berichte verglichen die Unruhen mit den Vorfällen in Belgien. Abgelenkt durch seine eigenen Probleme hatte Torsten die letzte Entwicklung in dem Nachbarland nicht verfolgt und erfuhr erst jetzt, dass dort eine Gruppe fanatischer Flamen die Ordnung im Land mit überfallartigen Angriffen auf Gebäude und Organe des Staates störte.

»Wenn die rechten Knilche das bei uns auch versuchen, dann gute Nacht!« Torsten erwartete, dass Henriette etwas zu dem Thema sagte, doch sie richtete ihre ganze Konzentration auf die Straße und riskierte keinen Seitenblick auf die Zeitungen.

»Wir sind bald da, Herr Oberleutnant«, meldete sie.

»Sehr schön!« Renk warf die Zeitungen nach hinten und vergaß Belgien. Nun ging es darum, in Suhl gute Arbeit zu leisten.

Die geheime Waffe
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