ACHTZEHN
Bevor Torsten sich um die vier Kerle kümmerte, die von der Polizei festgesetzt worden waren, nahm er die Innenstadt in Augenschein. Deren Bewohner standen unter Schock, und die Polizisten und Sachverständigen, die die Schäden aufnahmen, wirkten so fassungslos, als habe eine riesige Hand sie nach Kabul versetzt.
Als Torsten und Henriette über den Marktplatz gingen, knirschten Scherben unter ihren Sohlen. Überall standen die Wracks ausgebrannter Autos, mehrere Häuser zeigten deutliche Brandspuren. Vor dem Rathaus lagen Akten, die von den Rechtsradikalen aus den Fenstern geworfen worden waren.
»Wieso tun Menschen so was?«, fragte Henriette leise.
»Wer die Antwort darauf weiß, hätte wahrscheinlich schon Kains Mord an seinem Bruder Abel verhindern können. Menschen sind eben so. Wie es im Oberstübchen des Einzelnen aussieht, kann vielleicht ein Seelenklempner herausfinden, aber nicht ich.« Torsten trat auf einen der Beamten zu. »Guten Tag. Die Schäden sind ja gewaltig. Wie sieht es sonst aus? Gab es viele Verletzte?«
Der Mann sah zuerst Hünermörder an und bequemte sich zu einer Antwort, als dieser nickte. »Insgesamt wurden etwa fünfzig Menschen verletzt. Zwanzig liegen noch im Krankenhaus, einige werden bleibende Schäden davontragen. Zum Glück waren die meisten klug genug zu verschwinden, als diese Rabauken kamen. Na ja, vielleicht merkt jetzt auch der Letzte, dass man diese Kerle und ihre Handlungen nicht länger verharmlosen darf. Aber hier wohnen nicht nur Unschuldslämmer. Die Besitzer und die Angestellten des thailändischen Restaurants dort drüben, das von den Randalierern in Brand gesteckt worden ist, wollen zwei der Schurken erkannt haben. Sogleich haben ein paar Einheimische heftig widersprochen und behauptet, die Angeschuldigten seien brave Burschen, die so etwas niemals tun würden.«
»Und was machen Sie mit den Kerlen?«, fragte Renk.
»Was wohl? Wir werden einen Haftbefehl beantragen und sie einsperren. Dann werden wir zusehen, ob wir sie weichkochen können. Nach dem gestrigen Tag haben sie vor Gericht schlechte Karten.«
Das war reiner Zweckoptimismus, das spürte Torsten. Gegen ein gut fingiertes Alibi war die Polizei machtlos. »Ich würde mir gerne mal die Kerle ansehen, die gestern Abend verhaftet wurden.«
»Da kommen Sie gerade noch zur rechten Zeit. Aufgrund einer Verfügung des Bundesinnenministeriums werden die Gefangenen in eine Haftanstalt in einem anderen Bundesland überführt. Sie sind bereits in dem Mannschaftswagen dort vorne.« Der Beamte zeigte auf einen VW-Bus und rief dem Fahrer zu, er solle noch nicht losfahren.
Kurz darauf wurde die hintere Tür geöffnet. »Sehen Sie sich die Brüder mal an!« Torsten und Henriette sahen vier Festgenommene vor sich, die mit Handschellen an die Seitenwand gefesselt waren.
»Lass uns gefälligst frei! Wir sind ehrliche Bürger und haben einen festen Wohnsitz«, beschwerte sich einer, der anscheinend glaubte, Torsten wäre ein höheres Tier in der Polizeihierarchie. Dann sah er Henriette hinter diesem auftauchen. »Igitt, was ist denn das?«, rief er und spuckte aus.
Im selben Augenblick hatte Torsten ihn gepackt und hochgerissen. »Vorsicht, Freundchen! Es könnte sein, dass du mich sonst kennenlernst.«
»Lassen Sie den Kerl. In einen wie den können nicht einmal Sie Verstand hineinprügeln. Dafür ist er zu dumm«, beschwichtigte Henriette ihn.
»Von einer Negerhure wie dir lasse ich mich nicht beleidigen! «, schimpfte der Gefangene und versuchte jetzt Torsten anzuspucken. Der stieß ihn jedoch rechtzeitig beiseite, so dass der Kerl einen seiner Gesinnungsgenossen traf.
»Bist du verrückt geworden?«, schimpfte dieser und wandte sich dann an die Polizisten. »He, ihr Bullen, macht das weg! Oder macht meine Hände los, damit ich es selbst tun kann.«
»Eure Frechheit wird euch schon vergehen, wenn ihr vor Gericht steht. Das da«, Torsten wies nach hinten auf die Verwüstungen, »wird euch einige Jahre Gefängnis einbringen.«
»Das waren wir nicht. Ihr könnt uns nichts beweisen!« Seinen aufmüpfigen Worten zum Trotz war der Sprecher blass geworden.
Hünermörder, der Renk gefolgt war, legte dem Burschen seine Pranke auf die Schulter und grinste. »Laut dem im letzten Jahr verabschiedeten Versammlungsgesetz ist bereits die Beteiligung an gewalttätigen Demonstrationen strafbar, und darauf gibt es auch keine Bewährung mehr.«
»Wir waren doch gar nicht dabei! Wir haben in einer Kneipe etwas getrunken und wollten nach Hause. Dabei haben uns eure Bullen abgefangen. Das ist gegen das Grundgesetz«, schrie der Mann und begann zu toben, so dass zwei Polizisten ihn bändigen mussten.
»Wir sollten fahren, damit wir die Kerle so bald wie möglich loswerden«, drängte einer der Beamten.
Torsten hob abwehrend die Hand. »Noch nicht! Erst will ich den Kerlen noch eine Frage stellen.«
Nacheinander sah er die vier an. »Wer hat euch ausgerechnet hier zusammengerufen?«
»Uns hat keiner gerufen«, behauptete einer, drehte aber den Kopf weg.
»Ach nein? Wir können die Sache auch anders regeln. Chefinspektor, die Männer übernehme ich. Meine Leute bringen die schon zum Reden. Machen Sie hier unterdessen weiter!«
Die Beamten starrten Torsten verdattert an und wollten schon sagen, das könne er nicht tun.
Doch ehe er den Mund auftun konnte, brüllte einer der Festgenommenen: »Das dürfen Sie nicht. Wir sind ehrliche Bürger!«
Einer seiner Kumpane fiel jedoch auf Torstens Bluff herein. »Kamerad Lutz hat uns geholt. Er ist der Anführer der größten Kameradschaft in Sachsen-Anhalt. Wir wollten schon länger etwas Großes machen, da kam uns das gerade recht.«
»Verdammter Idiot! Damit hast du ein Geständnis abgelegt. Jetzt sitzen wir wirklich in der Scheiße!« Ein anderer Gefangener wollte den Mann treten, doch da legten ihm die Polizisten Fußfesseln an, so dass er sich nicht mehr rühren konnte.
»Und wo finde ich diesen Lutz?«, fragte Torsten weiter. Der Bursche, der eben noch gesungen hatte, zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe ihn nur auf ein paar Veranstaltungen getroffen.«
»Kennst du seinen Nachnamen?«
»In Kameradenkreisen werden keine Nachnamen genannt, der Verräter wegen, verstehst du?«
»Verräter wie du!«, giftete der Kerl, den die Polizisten hatten fixieren müssen. »Dafür wirst du bezahlen, das schwöre ich dir!«
Einer der Polizisten packte ihn mit einem schmerzhaften Griff. »Halts Maul, sonst kleben wir es dir zu!«
Torsten sah derweil den Burschen an, der seine Fragen beantwortet hatte. »Du solltest dir überlegen, ob es für dich nicht besser ist, die Seiten zu wechseln und das Zeugenschutzprogramm in Anspruch zu nehmen. Bei denen dort«, er wies mit der Hand auf die anderen Gefangenen, »wirst du nicht mehr glücklich werden.«
Der Blick des jungen Mannes war Antwort genug. Ihn hatte die Gewaltorgie seiner Gesinnungsgenossen schockiert, und es war ihm klar, dass die Drohungen seiner Kumpane ernst gemeint waren. Womöglich erinnerte er sich jetzt daran, wie es Mitgliedern der freien Kameradschaften ergangen war, die als Verräter gegolten hatten.
»Ihr dürft mich nicht mehr mit denen allein lassen!«, rief er zitternd.
Torsten klopfte dem Burschen auf die Schulter und trat dann zurück. »Sie können jetzt abfahren!«, sagte er zu den Polizisten.
Dann wandte er sich an Hünermörder. »Sollen wir Sie wieder zur Fabrik bringen, oder wollen Sie hier in der Innenstadt bleiben?«
»Sie können mich ruhig hierlassen.« Der Polizist streckte ihm die Rechte entgegen. »Nichts für ungut, Mann. Aber es steckt halt jeder in seiner eigenen Haut, aus der er schlecht herauskommt.«
Torsten ergriff die Hand und erinnerte sich an das Wettdrücken beim letzten Mal. Diesmal aber blieb Hünermörders Händedruck zwar so fest, wie man es bei einem Mann seiner Statur erwarten konnte, aber mehr auch nicht.
»Machen Sie es gut, Hünermörder!« Torsten ließ die Hand des Mannes los, verabschiedete sich von dem leitenden Kriminalbeamten und winkte Henriette, ihm zu folgen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie.
»Wir fahren nach München zurück und erzählen Wagner, dass unser Ausflug ein Schuss in den Ofen war!«