VIER
Henriette Corazon von Tarow war noch nie so nervös zum Dienst aufgebrochen. Das lag weniger an dem tränenreichen Abschied, den ihre Mutter ihr bereitet hatte, oder den spöttischen Bemerkungen ihrer Halbbrüder, sondern an der Aufgabe, die ihr bevorstand.
Michael hatte noch einige bissige Worte über Torsten Renk verloren. Anscheinend hatte er es bis heute nicht verwunden, dass er bei einem wichtigen Lehrgang hinter diesem Mann nur Zweiter geworden war. Für Henriette war es unverständlich, wie ein Mensch sich so von seinen Launen leiten lassen konnte wie ihr zweiter Halbbruder. Sie selbst hatte früh gelernt, ihre Gefühle zu beherrschen. Es war nicht leicht für sie gewesen, als Erbin zweier Kulturen aufzuwachsen. Zwar hatten ihre Halbbrüder jeden anderen Jungen verprügelt, von dem sie auch nur schief angesehen worden war. Dennoch war Henriette sich stets bewusst gewesen, dass sie sich doppelt anstrengen musste, um anerkannt zu werden.
Sie versuchte, sich wieder auf das Naheliegende zu konzentrieren. An diesem Tag würde sie zum ersten Mal ihre neue Dienststelle betreten und damit ein weiteres Kapitel ihres Lebens aufschlagen. Während der Zugfahrt nach München versuchte sie sich ein Bild von ihrem neuen Vorgesetzten zu machen. Seinen Auszeichnungen nach musste Torsten Renk ein wahrer Superheld sein. Also würde es schwer für sie werden, mit ihm Schritt zu halten. Andererseits erhielt sie wohl den besten Ausbilder, den sie sich vorstellen konnte.
Nach Frankfurt war es mit der Ruhe im Zug vorbei. Eine Frau stieg mit zwei Kindern zu und nahm neben Henriette Platz. Der Junge und das Mädchen setzten sich gegenüber, stritten sich bald und kamen immer wieder einzeln zu ihrer Mutter, um sich über den anderen zu beklagen. Der Junge versuchte, sich zwischen die Frau und Henriette zu drängen, und versetzte dieser dabei einige derbe Tritte.
Die Mutter sah Henriette um Verständnis bittend an. »Der Junge ist halt ein wenig lebhaft«, sagte sie, ohne ihren Sprössling zu bremsen. Als dieser es wieder zu wild trieb, holte Henriette ihre Tasche aus dem Gepäcknetz und stellte sie wie einen Schild neben sich.
Nun fand der Junge noch weniger Platz und maulte. »Musst du dich so breitmachen?«
»Zu fremden Leuten sagt man erst einmal Sie, und zum anderen bist du es, der sich hier breitmachen will. Das hier ist nämlich mein Sitzplatz, und ich mag es auch nicht, mit schmutzigen Schuhen getreten zu werden.« Henriettes Stimme klang sanft, aber bestimmt.
Die Mutter des Jungen schnaubte kurz, wagte aber nicht, etwas zu sagen, während seine Schwester kicherte.
Mittlerweile kam ein Reisender den Gang entlang, entdeckte den leeren Platz neben dem kleinen Mädchen und setzte sich. Als der Junge das sah, sprang er wütend auf.
»Das ist mein Platz! Da darfst du nicht sitzen.«
»Das stimmt. Mein Sohn ist nur kurz bei mir gewesen«, sprang die Mutter ihrem Sprössling bei.
Der Mann überlegte einen Augenblick, packte dann sein Handgepäck und verschwand mit ein paar unfreundlichen Worten. Sofort setzte sich der Junge auf den Sitz und grinste seine Schwester triumphierend an. »Na, wie habe ich das gemacht? « Dann wandte er sich wieder seiner Mutter zu. »Ich möchte neben dir sitzen, Mama!«
Diese sah Henriette an. »Könnten Sie vielleicht …«
»Ich kann nicht«, antwortete diese freundlich. »Dieser Platz hier ist auf meinen Namen reserviert, und ich werde ihn vor München nicht freigeben. Aber Sie können sich mit Ihrem Sohn drüben hinsetzen, während Ihre Tochter neben mir Platz nimmt.«
»Ich will aber durch dieses Fenster schauen«, plärrte der Bengel.
Da Henriette keine Anstalten machte, ihren Platz zu räumen, warf die Mutter ihr einen anklagenden Blick zu, zog den Jungen an sich und tröstete ihn mit der Aussicht auf das große Feuerwehrauto, das sie ihm nach dieser Reise kaufen würde. Dann wechselte sie die Sitzreihe und scheuchte ihre Tochter von deren Platz. Das Mädchen zuckte mit den Schultern, schlenderte zu Henriette herüber und setzte sich neben sie.
Eine Zeit lang beschäftigte das Kind sich mit dem Buch, das es in der Hand hielt, sah dann aber zu Henriette auf. »Sind Sie Stewardess?«
»Wie kommst du darauf?«
»Wegen Ihrer Uniform! Stewardessen haben auch solche Jacken an und solche Mützen auf dem Kopf«, erklärte die Kleine.
Henriette hatte die vorschriftsmäßige Uniform einer Luftwaffenangehörigen angezogen und ihr Schiffchen aufgesetzt. Nun für eine Stewardess gehalten zu werden amüsierte sie. »So etwas Ähnliches bin ich auch. Allerdings fliege ich selbst. Ich bin nämlich Pilotin.«
»Wirklich?« Das Mädchen klatschte begeistert in die Hände.
»Bäh, das glaube ich nicht!« Der Junge streckte Henriette die Zunge heraus, doch weder diese noch seine Schwester kümmerten sich um ihn.
»Und was fliegen Sie?«
»Verschiedene Typen«, antwortete Henriette.
Das Mädchen stellte die nächste Frage, und schon bald waren sie in ein Gespräch vertieft, das beiden Freude machte. Der Junge sah mehrmals neidisch herüber, denn mit einer echten Pilotin hätte er sich auch gerne unterhalten. Als er jedoch Anstalten machte, seine Schwester von deren Platz wegzudrücken, brachte ihn ein einziger Blick aus Henriettes stahlblauen Augen dazu, sich hinter seiner Mutter zu verstecken.