FÜNF
Nachdem Renk abgesprungen war, drückte Henriette den Gashebel nach vorne, um wieder schneller zu werden. Doch da begann der Motor der Hawker Fury zu stottern.
»Was ist los?«, rief Jef erschrocken.
Henriette entblößte die Zähne zu einem freudlosen Lächeln. »Wie es aussieht, stecken wir in Schwierigkeiten, Kumpel. Der Treibstoff ist alle!«
Kaum hatte sie die Worte hervorgestoßen, fiel der Motor ganz aus. Henriette versuchte, die alte Fury noch ein paar Meter in der Luft zu halten, um wenigstens den Park hinter sich lassen zu können, doch der Boden kam rasend schnell näher. Das Fahrwerk prallte auf und wurde abgerissen. Jef wurde von der Tragfläche geschleudert, während Henriette nach vorne flog und den Steuerknüppel schmerzhaft in den Solarplexus bekam.
Ein paar Meter weiter bohrte sich der Doppeldecker mit der Spitze in den Boden, überschlug sich und wurde von zähem Gebüsch aufgefangen. Sofort nahmen Freischärler die Maschine unter Feuer. Henriette, die kopfüber in ihrem Sitz hing, sah sich schon hilflos eingeklemmt, während die Einschläge näher kamen. Erschrocken zerrte sie an den Sicherheitsgurten und plumpste im nächsten Moment zu Boden. Dabei kam ihre Kehrseite schmerzhaft mit ihrer MP in Berührung.
Sie rollte zur Seite, packte die Waffe und sah, dass Jef auf sie zurobbte. Er hielt seine Maschinenpistole umklammert, erwiderte aber das Feuer nicht, obwohl nicht weit von ihnen Gegner auftauchten.
Henriette gab einen kurzen Feuerstoß ab und sah einen der Freischärler fallen. »Wir müssen zum Schloss, sonst haben uns die Kerle gleich!«, rief sie Jef zu und sprang auf. Dabei konnte sie nur hoffen, dass die Verteidiger von Laeken sie nicht ebenfalls für Angreifer hielten und auf sie schossen.
Jef folgte ihr stumm. Haken schlagend rannten sie auf das Schloss zu, das keine hundert Meter vor ihnen aufragte.
Nach einigen Schritten warf Henriette sich zu Boden, rollte sich zweimal um die eigene Achse und gab einen Feuerstoß auf ihre Verfolger ab. Ob sie traf, konnte sie nicht sagen, doch wenigstens hatte sie sich und Jef ein paar lebenswichtige Sekunden Zeit verschafft. Jef tat es ihr gleich und feuerte dabei sein ganzes Magazin leer.
»Renn!«, schrie Henriette und stürmte weiter. Sie sah, wie eine der Türen des Schlosses geöffnet wurde. Gleichzeitig schlug den Angreifern aus etlichen Fenstern ein Feuerhagel entgegen, der ihr und Jef die Möglichkeit gab, die letzten Schritte zurückzulegen und durch die Tür zu schlüpfen.
Ein belgischer Offizier schlug diese sofort hinter ihnen zu. »Sie haben sich einen seltsamen Ort für Ihre Luftakrobatik ausgesucht«, sagte er grinsend zu Henriette.
Diese salutierte. »Leutnant von Tarow, deutsche Luftwaffe! «
»Ich will ja nichts sagen, aber das war nicht unbedingt der modernste Kampfbomber, den Sie eben geflogen haben. Außerdem wusste ich nicht, dass ihr Deutschen neue Uniformen habt«, antwortete der Belgier mit einem Seitenblick auf Henriettes hautengen, schwarzen Dress.
»Sondereinsatz«, antwortete diese und feuerte durch das zerschossene Fenster auf einen Freischärler, der sich zu nahe herangewagt hatte. Jef erhielt von einem anderen Soldaten ein frisches Magazin und schoss jetzt ebenfalls auf die Männer, die er vor ein paar Wochen noch seine Freunde genannt hatte.
Mitten in das Feuergefecht platzte eine junge Polizistin mit einem Mobiltelefon. »Herr Leutnant! Ihre Schwester ist in der Leitung.«
»Verdammt, ich habe jetzt keine Zeit!«, fluchte der Offizier, packte aber das Handy und bellte hinein. »Was ist los? Ist Seiner Königlichen Hoheit etwas passiert?«
»Nein, Prinz Philippe ist unversehrt. Aber in Berendrecht hat es ein Blutbad gegeben. Es sind bis jetzt mehr als achtzig Tote und über zweihundert Verletzte.«
»Unsere Lage ist auch nicht gerade rosig. Wenn nicht bald etwas zu unseren Gunsten geschieht, sind wir im Arsch.«
»Was ist mit der Luftwaffe?«
Leutnant Pissenlit verzog das Gesicht. »Sonst noch Wünsche? Unsere Gegner haben bereits einen Jet und vier Hubschrauber mit ihren Raketen vom Himmel geholt.«
Henriette, die mithörte, klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Raketen! Wir müssen die Luftabwehrstellungen der Rebellen mit Marschflugkörpern zusammenschießen, dann können Hubschrauber mit Truppen landen.«
»Marschflugkörper auf so engem Raum? Da gehen wir alle zum Teufel«, fuhr Pissenlit auf.
»Wenn wir nichts riskieren, sind wir in kürzester Zeit am Ende! Ihr habt doch einen Bunker oder einen tiefen Keller hier. Dahin ziehen wir uns zurück. Verfügt euer Militär ringsum über irgendwelche Luft-Boden-Raketen? Mit denen müsste es zu schaffen sein.«
Pissenlit kniff die Augen zusammen und nickte nachdenklich. »Es ist ein Spiel mit dem Feuer. Wenn auch nur eine der Raketen danebentrifft, sitzen wir in des Teufels Bratpfanne. Aber eine andere Chance sehe ich auch nicht.«
»Haben Sie eine Karte der Gegend?«, fragte Henriette.
Pissenlit unterbrach die Verbindung zu seiner Schwester und rief der Polizistin zu, einen Stadtplan zu bringen. Als die Karte ausgebreitet war, zog Henriette mit einem Stift darauf mehrere Linien. »Die Flugzeuge müssen aus diesen Richtungen angreifen. Die Abwehrraketen stehen hier, hier und hier!« Drei Kreuze vervollständigten ihre Notizen, dann sah sie Pissenlit auffordernd an. »Lassen Sie die genauen Koordinaten durchgeben und sagen Sie den Leuten, dass sie sich beeilen sollen. Ich habe noch einen Kameraden draußen, der will auch gerne noch ein wenig länger leben.«
»Der ist bei unseren Paratroopers. Das wurde eben durchgegeben«, erklärte die Polizistin.
Während Henriette erleichtert aufatmete, schaltete Pissenlit eine Verbindung zum nächsten Luftwaffenstandort und nannte ihnen die Daten. Danach zwinkerte er Henriette lächelnd zu. »Es sind mehrere unserer Maschinen in der Luft. Die Piloten wollten nur noch nicht eingreifen, aus Angst, einen Bürgerkrieg auszulösen. Aber jetzt werden die Jungs uns etwas zeigen!«
Der Leutnant feuerte seine MP leer und bedeutete den übrigen Verteidigern, ihm in den Keller zu folgen, in dem bereits die königliche Familie Zuflucht gefunden hatte.