ZWÖLF

Das Klingeln eines Telefons weckte Henriette und Torsten am nächsten Morgen auf. Beide griffen instinktiv zu ihren Handys und merkten dann erst, dass es ein ganz anderer Klingelton war als der ihre.

»Verdammt, irgendwo muss hier ein Telefon versteckt sein«, fluchte Torsten und sprang aus dem Bett. Doch als er suchen wollte, klang plötzlich Lachen auf.

»He, du Held in Unterhosen! Zieh dich an und setz dich an den Computer.«

»Petra!« Torsten riss es herum. Tatsächlich erschien auf dem Computerbildschirm jetzt Petras rundliches Gesicht. Sie grinste amüsiert, griff dann irgendwohin und brachte eine riesige Kaffeetasse zum Vorschein.

»Einen Kaffee könnte ich jetzt auch brauchen«, entfuhr es Torsten.

Petra trank genüsslich einen Schluck und stellte ihre Tasse wieder weg. »Ihr könnt welchen kochen. Dafür müsst ihr nur in den Keller steigen.«

»Wo siehst du hier einen Keller?«, fragte Torsten verärgert.

»Einen Moment!« Petra betätigte einige Tasten, und wie von Zauberhand hoben sich mehrere Bodenplatten im hinteren Teil des Raums und gaben eine schmale Treppe frei, die nach unten führte.

»So, jetzt könnt ihr hinabsteigen«, erklärte Petra feixend.

»Kannst du uns vielleicht auch sagen, wie wir die Türen, Geheimtüren und was es hier sonst noch gibt auch ohne deine tätige Mithilfe öffnen und schließen können?«

»Ich bin gerade dabei, euch freizuschalten. Ihr seid nämlich früher gekommen, als Wagner und ich erwartet haben.« Petra begleitete ihre Worte mit einem Stakkato auf der Tastatur und grinste dann Torsten an.

»Jetzt sind eure Stimmen gespeichert. Ihr kommt mit ›Petra mach auf‹ überall hin. Zur Sicherheit speichere ich eure Fingerabdrücke, falls böse Leute euch die Zungen abschneiden.«

Torsten schüttelte wenig amüsiert den Kopf, auch Henriette fand Petras Witze gewöhnungsbedürftig. Doch die Computerspezialistin war noch nicht fertig. »Da böse Jungs auch versucht sein könnten, euch die Daumen oder einen anderen Finger abzuschneiden, müsst ihr den Daumen der einen Hand und den kleinen Finger der anderen Hand benützen, um die Sperren zu überwinden. Es reicht auch, wenn einer von euch den Daumen hernimmt und der andere den kleinen Finger.«

»Danke, dass deine bösen Jungs uns wenigstens diese beiden Finger lassen«, spottete Torsten.

»Ich richte mich auf alle Eventualitäten ein«, antwortete Petra ungerührt und tippte weiter. »So! Jetzt seid ihr auch nicht mehr in Breda gewesen. Auch wenn die Deppen dort behaupten, ihr hättet den Bau angezündet, sagt ihnen der Anstaltscomputer etwas anderes. Übrigens hätten die Holländer das Gerät längst anzapfen sollen. In Breda wird eine Geheimarmee ausgebildet, ähnlich wie die des verblichenen Generals Ghiodolfio in Albanien. Ich fürchte, es wird in eurer Weltgegend bald heiß hergehen. Bei meiner Suche bin ich auf eine Gruppierung gestoßen, die sich Vlaams Macht nennt.«

»Könnten das die Kerle sein, die den Zug überfallen haben? «, fragte Torsten.

Petra antwortete mit einem Schulterzucken. »Ich habe gerade erst herausgefunden, dass es diese Bande gibt. Über ihre Aktivitäten weiß ich noch gar nichts. Eigenartig ist nur, dass der Zugüberfall äußerst exakt vorbereitet und durchgeführt worden ist. Das schaffen keine Zivilisten, sondern nur Leute mit einiger Erfahrung.«

»Versuche herauszufinden, ob es belgische Soldaten oder Exsoldaten gibt, die für eine solche Aktion in Frage kommen«, forderte Torsten sie auf.

Petra wollte bereits in die Tasten greifen, als Wagner neben ihr erschien. Sein Gesicht wirkte angespannt, und sein Blick war drängend. »Vergessen Sie die Kerle für den Augenblick, Renk, und kümmern Sie sich um die beiden Container. Das ist jetzt wichtiger.«

Torsten nickte zwar, brachte aber sofort einen Einwand. »Vor heute Nacht wird da nichts gehen. Oder sollen wir am helllichten Tag hineingehen und nachschauen?«

»Auf normalem Weg werdet ihr nicht in das Hafengebiet hineinkommen, es sei denn, du willst das Wachpersonal erschießen«, sagte Petra kichernd.

»Sollen wir vielleicht fliegen?«, fragte Torsten harsch, denn er hasste es, wenn um den heißen Brei herumgeredet wurde.

»Sie werden nicht fliegen, sondern schwimmen!«, erklärte Wagner säuerlich. »In dem Depot, in dem Sie sich gerade befinden, lagern Taucheranzüge. Ihr beide könnt gleich hier in Burcht in die Schelde steigen, dem Fluss durch Antwerpen folgen und dann in den Hafen eindringen. Nehmen Sie aber einen Schraubenschlüssel mit, mit dem Sie die Tür der Container aufschrauben können.«

»Ich werde in den nächsten Baumarkt gehen und einen kaufen! «

»Jetzt stellen Sie sich nicht so an, Renk!«, wies Wagner Torsten zurecht. »Sie finden das entsprechende Werkzeug natürlich vor Ort. Oder haben Sie die Schränke in der Halle vergessen?«

»Wenn Sie mir jetzt noch sagen können, welche Größe ich nehmen soll, wäre ich Ihnen sehr verbunden.« Torsten ärgerte sich über das Getue seines Vorgesetzten, obwohl er wusste, unter welchem Druck er stand.

Wagner erklärte ihm erstaunlich ruhig, welches Werkzeug er benötigen würde, und blickte ihn dann an, als erwarte er Wunder von ihm. »Tun Sie, was Sie können, Renk. Ich verlasse mich auf Sie. In Ihrem Quartier finden Sie alles, was Sie brauchen!«

»Das Depot hier haben Sie sicher nicht nur unseretwegen anlegen lassen, oder?«, warf Torsten ein.

Der Major schüttelte lächelnd den Kopf. »Für Sie allein stürzen wir uns natürlich nicht in solche Unkosten. Die Anlage besteht schon seit etlichen Jahren und wurde vor kurzem mit Frau Waitls Mithilfe aufgerüstet. Wissen Sie, es gibt immer mal wieder Schiffe, von denen wir wissen wollen, wohin sie fahren und welche Häfen sie unterwegs aufsuchen. Da ist so ein Stützpunkt Gold wert.«

»Dann hoffen wir, dass er es auch jetzt ist.« Torstens Müdigkeit war inzwischen zwar geschwunden, aber seine Stimme verriet seine Gereiztheit.

Petra und Wagner störten sich jedoch nicht daran, sondern gaben ihre Anweisungen und warteten dann, bis Torsten in den Keller gestiegen und die in einem Schrank verstauten Taucheranzüge entdeckt hatte.

Als er sich zurückmeldete, blickte Petra auf ihre Uhr. »So, Kaffeepause! Ich brauche jetzt Kalorien, damit meine kleinen grauen Zellen nicht eingehen. Vor Einbruch der Nacht braucht ihr euch nicht auf die Socken zu machen. Vorher melde ich mich noch einmal!«

Während Petra ihren Platz verließ, trat Wagner vor die Computerkamera. Torsten hatte seinen Vorgesetzten noch nie so angespannt erlebt. Die Sorgen hatten tiefe Spuren in das Gesicht des Majors gegraben, und in seinen Augen lag ein Ausdruck höchster Wut, gemischt mit Mutlosigkeit. »Renk, wenn Sie die Container untersucht haben, gebe ich Ihnen freie Hand für die Suche nach den Schweinen, die unsere Männer umgebracht haben. Finden Sie diese Kerle und sorgen Sie dafür, dass sie ihre gerechte Strafe erhalten.«

»Ich werde tun, was ich kann!« Torsten spürte, wie sein Jagdinstinkt erwachte. Noch verfügte er über zu wenige Teile des großen Puzzles. Doch mit jeder Stunde und jedem Tag würde er mehr Informationen sammeln, bis er die Banditen ausgeräuchert hatte. Seine Hand tastete unbewusst nach der Sphinx AT2000, doch er ließ sie sofort wieder los. Nicht Rache, sondern Gerechtigkeit war sein Ziel. Wenn er sich von seinen Gefühlen leiten ließ und die Schurken einfach niederschoss, war er nicht besser als der Kerl, der mit dem kopierten SG21 in der Weltgeschichte herumballerte.

Dieser Gedanke elektrisierte ihn. »Herr Major, hat sich unser infamer Mörder wieder gezeigt?«

Wagner schüttelte den Kopf. »Nein! Dabei bin ich mir sicher, dass er erneut zugeschlagen hat oder es bald wieder tun wird. Wenn so einer Gefallen am Töten gefunden hat, hört er nicht eher auf, als bis er aus dem Verkehr gezogen wird. Aber das ist nicht Ihr Job. Ihre Aufgabe ist es, die Container zu kontrollieren und danach die Zugräuber auszuräuchern.« Damit unterbrach der Major die Verbindung.

Torsten wandte sich mit einem verkrampften Lächeln zu Henriette um. »Dann tun wir halt Wagner den Gefallen. Sie bringen mich heute Abend zu einer Stelle am Fluss, an der ich abtauchen kann, und holen mich ein paar Stunden später wieder dort ab.«

»Wäre es nicht besser, wenn ich mitkommen würde?«

»Wie Wagner richtig sagte, soll ich nicht fliegen, sondern schwimmen. Aber Sie waren bei der Luftwaffe und nicht bei der Marine.«

»Sind Sie ein ausgebildeter Kampfschwimmer?«, wollte Henriette wissen.

»Ich habe eine dem nahekommende Ausbildung mitgemacht«, antwortete Torsten, während er einen Neoprenanzug, eine Tauchmaske und Sauerstoff-Flaschen samt anderen Ausrüstungsgegenständen aus dem Keller holte.

Henriette gab nicht auf. »Ich habe ebenfalls Tauchkurse gemacht, wenn auch privat und nicht bei der Bundeswehr. So war ich zum Beispiel zwei Wochen in Österreich am Attersee und zwei Wochen am Roten Meer.«

»Das bisschen Schnorcheln, das Sie dort gemacht haben, können Sie wohl kaum Tauchen nennen«, spottete Torsten.

»Sie brauchen aber jemanden, der Ihnen den Rücken freihält und für Sie Schmiere steht«, antwortete Henriette beherrscht, obwohl ihr die Macho-Art, die Renk jetzt wieder an den Tag legte, auf die Nerven ging. Er schien auch einer von den Männern zu sein, die der Ansicht waren, dass nur richtige Kerle in die Bundeswehr gehörten und Frauen höchstens als Ärztinnen und Sanitäterinnen geduldet werden sollten.

Mit ihrem Einwand allerdings hatte Henriette die Befürchtung angesprochen, die Torsten eben durch den Kopf gegangen war. Der Antwerpener Hafen war nicht irgendein Bassin, bei dem nach Feierabend das Licht ausgedreht wurde. Hier wurden Tag und Nacht Container verladen, und es würde nicht einfach sein, neugierigen Blicken zu entgehen. Doch ihm widerstrebte es, seine Begleiterin mitzunehmen. Zwar bestand die einzige Gefahr darin, von Hafenarbeitern oder dem Sicherheitsdienst erwischt und verhaftet zu werden, aber …

Torsten brach den Gedankengang ab, denn er erinnerte sich an eine Vorrichtung, die er unten bei den Taucheranzügen gesehen hatte. Es waren zwei zigarettenschachtelgroße Kästchen gewesen, die durch ein dünnes Kabel miteinander verbunden waren. Ein weiteres Kabel führte von jedem Kästchen zu Kopfhörern, die in eine Tauchermütze eingebaut waren.

»Auf diese Weise müsste es gehen«, sagte er leise.

»Ich kann also mitkommen?« Henriette schöpfte Hoffnung, als Renk nickte.

»Ja, aber Sie bleiben an der Leine, verstanden!«

»Leine? Wieso?«

»Warten Sie! Ich zeige Ihnen gleich etwas«, antwortete er und stieg in den Keller. Als er wieder hochkam, legte er die Teile der Vorrichtung auf den Tisch. »Es geht darum, dass wir uns verständigen können. Mit Funk geht es schlecht, denn der könnte abgehört werden. Diese Dinger hier funktionieren ähnlich wie ein Kindertelefon aus zwei Büchsen und einer Schnur. Nur ist das Kabel hier annähernd hundert Meter lang. Wir müssen darauf achten, dass wir nahe genug zusammenbleiben und die Leine nicht irgendwo hängen bleibt und reißt. Allerdings sage ich Ihnen eins: Wenn Sie einen Fehler machen und unseren Auftrag versauen, können Sie sich wieder hinter das Steuer Ihres Hubschraubers setzen und den Rest Ihrer Dienstzeit bei der Luftwaffe verbringen.«

Torsten hoffte schon, dass seine Begleiterin sich dieser Gefahr nicht aussetzen würde. Doch Henriette nahm die zweite Tauchmütze, die er mit hochgebracht hatte, zog sie sich über den Kopf und sah ihn dann fragend an. »Und wie geht es weiter?«

Torsten nahm eine Taucherbrille, setzte sie ihr auf und steckte ein weiteres Kabel in eine Buchse am unteren Rand der Brille. »Jetzt können Sie reden!«

Henriette tat es und sah Torsten lachen.

»Sie müssen schon warten, bis ich das Zeug ebenfalls aufgesetzt habe. Übrigens werden die beiden Kabel zum Kopf am Taucheranzug festgemacht, damit sie nicht durch eine unbedachte Bewegung abgerissen werden. Aber das werden wir heute Nachmittag testen. Jetzt will ich zurück ins Bett.«

Auch Henriette war immer noch hundemüde, trotzdem bedauerte sie, dass sie das einfach aussehende Kommunikationssystem nicht auf der Stelle ausprobieren konnte.

Die geheime Waffe
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