SECHS
An diesem Tag hatte Torsten Renk sich rechtzeitig bei Major Wagner eingefunden und wartete nun auf den Leutnant, für den er den Bärenführer spielen sollte. Auch Petra war auf der Bildfläche erschienen – mit der Ausrede, Wagner ihre neuesten Berichte übergeben zu wollen. Dabei hielt sie sich mit Pokerface im Hintergrund, als spiele sie um ein dickes Bündel Euroscheine. Sie hatte diesem Leutnant H. C. von Tarow in den Computern der Bundeswehr ein wenig nachgespürt und wettete nun mit sich selbst, ob Torsten bei dessen Anblick der Schlag treffen oder ob er explodieren würde.
Während der Major Uniform trug, wie man es von ihm in der Kaserne gewohnt war, steckte Renk wie sonst auch in Jeans, T-Shirt und schwarzer Lederjacke. Er warf einen Blick auf die Wanduhr. »Allmählich müsste dieser Tarow auftauchen! «
Es klang wie das Knurren eines Kettenhunds. Bevor der Major etwas sagen konnte, klingelte das Telefon. Wagner nahm den Hörer ab und meldete sich. Er sagte »gut« und »danke« und legte ohne ein weiteres Wort wieder auf. »Das war ein Wachtposten. Leutnant von Tarow hat eben die Kaserne betreten.«
Petra trat unauffällig ans Fenster. Sie entdeckte eine kleine, schlanke Person in blauer Uniform, die mit forschem Schritt auf das Gebäude zuhielt. Zufrieden damit, dass sie wieder einmal mehr wusste als die beiden Männer, wartete sie schmunzelnd auf das, was nun kommen würde.
Als es klopfte, setzte Wagner sich aufrecht hin und räusperte sich kurz, bevor er »herein« rief. Als statt des erwarteten baumlangen Leutnants eine junge, zierliche Frau mit exotischem Aussehen eintrat, schüttelte er verärgert den Kopf. »Sie haben sich anscheinend in der Tür geirrt«, sagte er und wiederholte es noch einmal auf Englisch.
Henriette blickte auf ihre Unterlagen und sah ihn dann lächelnd an. »Hier steht, dass ich mich auf Zimmer 210 zu melden habe, und das ist doch das Zimmer 210.«
»Das schon, aber …« Wagner brach ab und winkte Henriette, näher zu kommen. »Geben Sie den Wisch her! Ich werde sehen, ob ich Ihnen weiterhelfen kann.«
Henriette reichte ihm die Unterlagen und versuchte dabei, nicht allzu neugierig auszusehen. Wagner war ein Mann mittleren Alters, nicht allzu groß, aber kompakt gebaut. Trotzdem traute sie es ihm zu, einen Dauerlauf über fünf Kilometer gegen die meisten Rekruten zu gewinnen, die heutzutage in die Bundeswehr eintraten.
Mehr interessierte sie jedoch der zweite Mann im Zimmer. Er war nicht ganz so groß wie ihre Brüder, wirkte mit den breiten Schultern und schmalen Hüften jedoch agiler als diese. Sein Gesicht war eher interessant als schön und zeigte im Augenblick einen eher genervten Ausdruck. Wenn das Torsten Renk war, würde sie wohl nicht so leicht mit ihm auskommen. Schnell warf Henriette der dritten Person im Raum einen kurzen Blick zu.
Die Frau war mindestens sechs Zentimeter kleiner als sie, wog aber gewiss doppelt so viel. Das rundliche Gesicht wirkte gemütlich, die Augen über den Hamsterbacken sprühten vor Intelligenz. Henriette nahm sich vor, diese Frau nicht zu unterschätzen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Renk zu und wunderte sich über seine nachlässige Kleidung. Zumindest hier in der Kaserne hätte sie erwartet, ihn in Uniform zu sehen.
Unterdessen hatte Wagner Henriettes Unterlagen durchgesehen und reichte sie mit schwer zu lesender Miene zurück. »Wie es aussieht, bin ich einem Irrtum aufgesessen. Ich dachte, Sie wären ein junger Mann.«
»Das war wahrscheinlich mein Fehler. Aber da in den Formularen nie genug Platz für meinen vollen Namen ist, kürze ich ihn immer mit H. C. von Tarow ab. Wird dann nicht auf die Zeile geachtet, auf der ich mein Geschlecht angekreuzt habe, kann dies zu Verwirrungen führen.« Henriette blieb freundlich, auch wenn ihr im Moment ziemlich unbehaglich zumute war. Zwar war es nicht ihr Fehler, wenn Major Wagner ihr Geschlecht nicht beachtet hatte, dennoch befürchtete sie, dass er es ablehnen würde, eine Frau in sein Team aufzunehmen.
Ihr fiel ein, dass sie noch nicht gegrüßt hatte, und sie salutierte so zackig, dass Generationen von Offizieren derer von Tarow noch aus dem Jenseits applaudierten. »Leutnant Henriette Corazon von Tarow meldet sich wie befohlen zum Dienst, Herr Major!«
»Rühren!« Wagner wusste nicht, was er tun sollte. Seine Anweisungen besagten, dass H. C. von Tarow ab diesem Tag zu seiner Abteilung gehörte. Am liebsten hätte er sie ja Petra als Helferin zugeteilt. Doch die Computerspezialistin war nicht einmal eine richtige Soldatin, ihr Dienstgrad als Oberfähnrich war ihr als Belohnung für ihre Verdienste bei der Aufdeckung der Tallinn-Verschwörung verliehen worden. Doch ob Petra je die Offizierslaufbahn einschlagen würde, war fraglich. Wahrscheinlich würde man sie im Lauf der Jahre ihrer Fähigkeiten wegen bis zum Hauptmann befördern, ohne dass sie auch nur eine einzige Stunde Grundwehrdienst abgeleistet hatte. Alles Nachdenken über Petras Karriere brachte ihn nicht weiter. Im Moment war sie rangniedriger als Henriette von Tarow und damit nicht als deren Vorgesetzte und Ausbilderin geeignet.
Wagners Blick blieb auf Torsten haften. »Renk, Sie zeigen Leutnant von Tarow anschließend die Räumlichkeiten, lassen ihr ein Einzelzimmer zum Schlafen zuweisen und besorgen sich einen zweiten Stuhl für Ihr ab jetzt gemeinsames Büro.«
»Das soll wohl ein Witz sein«, sagte Torsten mit gepresster Stimme.
»Ich sehe nicht, was daran witzig sein sollte. Leutnant von Tarow gehört ab heute zu unserem Verein, und Sie werden sie ausbilden.« Wagners Laune hatte in den letzten Tagen genug gelitten, daher antwortete er noch schärfer als gewohnt.
»Hören Sie, Wagner. Ich denke nicht daran, das Kindermädchen für ein Generalstöchterlein zu spielen, das unbedingt unserem Club beitreten will. Suchen Sie sich dafür einen anderen Idioten!«
»Derzeit steht aber nur einer zur Verfügung, und das sind Sie! Ihre Kameraden sind alle beschäftigt, da sie unter anderem auch den Job erledigen müssen, den Sie versaubeutelt haben. Außerdem sind wir hier beim Militär, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten. Befehl ist Befehl, und der wird ausgeführt, solange er nicht sittenwidrig ist oder dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland widerspricht. Daher werden Sie Leutnant von Tarow ungeachtet ihres Geschlechts und ihrer Herkunft unter Ihre Fittiche nehmen. Haben Sie mich verstanden?«
Wagner war laut geworden und zeigte jetzt mit eisiger Miene zur Tür. »Ich habe zu tun«, setzte er hinzu und beugte sich über seine Akten.
Torsten begriff, dass er nichts mehr erreichen konnte, und stürmte wutentbrannt aus dem Zimmer. Zuerst sah es so aus, als wolle er die Tür hinter sich zuschlagen, doch dann drehte er sich mit verbissener Miene zu Henriette um. »Mitkommen! « Henriette schulterte ihren Seesack und folgte ihm lächelnd.
Wagner sah den beiden nach und schüttelte den Kopf. »Wenn das nur gut geht! Renk zerreißt das Mädchen in der Luft, wenn es auch nur einen Fehler macht.«
»Henriette Corazon von Tarow ist aus einem härteren Holz geschnitzt, als Sie denken, Herr Wagner. Sie hat in all ihren Aus- und Fortbildungskursen als eine der Besten ihres Jahrgangs abgeschnitten und war im vergangenen Jahr sogar bei den Militärweltmeisterschaften als Judokämpferin dabei. Sie ist in ihrer Gewichtsklasse Dritte hinter zwei Chinesinnen geworden. Allerdings war sie nicht gedopt.«
Wagner starrte Petra fassungslos an. »Sagen Sie bloß, Sie haben gewusst, dass H. C. von Tarow eine Frau ist?«
»Aber Herr Major! Leutnant von Tarow hat auf dem Formdruck unmissverständlich angekreuzt, dass sie weiblich ist«, antwortete Petra lächelnd.
Wagner schnaufte wie ein wütender Bulle und zeigte ein weiteres Mal zur Tür. »Raus! Und kommen Sie nicht wieder, bevor Sie herausgefunden haben, wer für die verschwundene Waffensendung verantwortlich ist.«
»Soll ich auf – wie heißt es gleich wieder? – Felderkundung gehen?«, fragte Petra feixend.
»Verschwinden Sie an Ihren Computer und treten diesen so lange, bis er die richtigen Daten ausspuckt«, bellte Wagner und nahm sich die erste Akte vor.
Erst nach einigen Minuten merkte er, dass er gar nicht las, denn das Blatt stand auf dem Kopf, ohne dass er es gemerkt hatte. »Wenigstens ist Renk jetzt beschäftigt«, brummte er vor sich hin und bemühte sich, jeden Gedanken an Leutnant von Tarow aus seinem Kopf zu verbannen.