SECHSUNDZWANZIG
Das Treppenhaus im Keller war leer! Jef konnte sein Glück nicht fassen und musste im nächsten Moment über sich lachen, dass er nicht selbst darauf gekommen war. Immerhin hatte Dunker zwölf Mann zur Geländewache eingeteilt, und mit den restlichen drei spielte er Karten.
»Jef, du solltest mal wieder Kopfrechnen üben«, sagte er zu sich und öffnete die Tür. Die beiden Gefangenen saßen gegen die Rückwand des Kellers gelehnt und sahen ihm missmutig entgegen.
Als jedoch keiner der Freischärler hinter Jef zu sehen war, warf Torsten Henriette einen kurzen Blick zu. »Glauben Sie, was ich glaube?«
»Wie sagten Sie so schön: Wir werden nicht fürs Glauben bezahlt, sondern fürs Wissen.« Henriette verzog angespannt das Gesicht und sah abwartend zu, wie Jef auf sie zutrat.
»Hallo«, sagte er ein wenig schwächlich.
Torsten sah seine Pistole in Jefs rechter Hand und einen Plastikbeutel in der anderen. Obwohl er den Flamen mit Leichtigkeit hätte überwältigen können, wartete er ab.
»Ich glaube, die gehört Ihnen!« Mit diesen Worten reichte Jef die Sphinx AT2000 an Torsten weiter.
Dieser nahm sie entgegen und richtete sie auf Jef. »Sorry, aber ich bin nun einmal misstrauisch. Weshalb wollen Sie uns helfen?«
»Wegen Sedersen! Der will ganz Belgien in einen Bürgerkrieg stürzen. Jetzt ist er mit seinen Leuten losgezogen, um den königlichen Palast zu stürmen. Sein Stellvertreter Rechmann will sogar die gesamte Trauergemeinde bei Gaston von Houdebrincks Beerdigung in die Luft jagen. Sie müssen die Kerle aufhalten!«
Torsten schüttelte unfroh lächelnd den Kopf. »Danke für das Vertrauen, aber Superman wohnt eine Straße weiter!«
»Sparen Sie sich Ihre müden Scherze für zu Hause auf«, fauchte Henriette ihn an. »Dieser Mann hat recht! Wir müssen diesen Verrückten stoppen.«
»Ich warte auf Vorschläge.« Torsten nahm Jef den Beutel ab und holte seine MP5 heraus. Er lud sie durch und sicherte sie. »Als Erstes müssen wir von hier verschwinden. Wie viele Kerle stehen draußen Wache?«
»Keiner. Sedersen hat die meisten mitgenommen und nur fünfzehn Mann unter Dunkers Kommando zurückgelassen.«
»Auch fünfzehn Leute sind ein wenig viel, um sich durch sie hindurchzuschießen. Gibt es vielleicht einen Weg hinaus, ohne dass wir uns mit den Kerlen herumschlagen müssen?«
Jef schüttelte den Kopf. »Das Haupttor wird bewacht, und über die Mauer kommen wir nicht schnell genug. Es gibt zwar noch den Ausgang zum Flughafen, aber dort steht auch ein Wächter.«
»Ein Wächter ist weniger als drei oder sechs«, erklärte Torsten entschlossen.
»Wir müssten allerdings das Tor aufbrechen. Wenn wir einen der Panzer nehmen könnten …«, begann Jef.
»So einen Kasten kann ich in Gang setzen«, unterbrach Torsten ihn.
»Aber die hat Sedersens Trupp alle mitgenommen«, setzte Jef seinen Satz fort.
»Wir sollten draußen weiterreden. Wenn jetzt einer der Kerle herunterkommt, braucht er nur auf der Treppe zu warten, bis wir aus der Kellertür treten«, gab Henriette zu bedenken.
»Ich gehe voraus«, erklärte Torsten, schlich zur Tür und sah sich um. Auf dem Gang war niemand zu sehen.
»Sie können nachkommen, Leutnant!«, rief er Henriette zu. Als diese bei ihm stand, deutete er auf Jef, der noch immer in ihrem bisherigen Gefängnis stand.
»Was machen wir mit ihm? Lassen wir ihn drinnen?«
»Das wäre unfair! Immerhin hat er uns geholfen. Wenn die anderen sehen, dass wir weg sind, werden sie ihn umbringen.«
Obwohl es ihm nicht gefiel, winkte Torsten dem jungen Flamen, mit ihnen zu kommen. Unterdessen spähte Henriette aus der Tür.
»Da ist niemand zu sehen«, meldete sie und stellte dann die Frage, die auch Jef bewegte. »Was machen wir jetzt?«
»Wir sollten verschwinden, und das möglichst, ohne uns auf eine Schießerei mit diesen Kerlen einzulassen.«
»Haben Sie Angst?« In dem Moment, in dem sie sie ausgesprochen hatte, fand Henriette ihre Frage selbst sträflich dumm, denn bislang hatte Torsten es wahrlich nicht an Mut fehlen lassen.
»Nein, aber es wäre fahrlässig, jetzt den Verstand auszuschalten. Schießen werde ich nur, wenn uns nichts anderes übrigbleibt.« Torsten dachte kurz nach und sah dann Jef an. »Du sagst, Sedersen will den königlichen Palast stürmen?«
Der Flame nickte. »Ja! Er ist mit einer ganzen Armee aufgebrochen, um Schloss Laeken zu besetzen. Und das ist noch nicht alles! Sein Stellvertreter Rechmann hat einen Kleinbus zur Bombe umgebaut und will die Trauergäste auf Houdebrincks Beerdigung in die Luft sprengen, weil es ursprünglich hieß, die königliche Familie sei ebenfalls dort. Aber die wurde Gott sei Dank gewarnt!«
Jefs angespanntes Grinsen zeigte Torsten, dass der Bursche etwas mit dieser Warnung zu tun hatte. Doch im Augenblick waren Rechmanns Pläne wichtiger.
»Hoffentlich sind die hiesigen Polizisten auf Zack und fangen das Bombenfahrzeug früh genug ab«, sagte er, doch Jef schüttelte den Kopf.
»Ich habe Rechmanns Wagen vorhin im Fernsehen entdeckt. Er steht genau dort, wo er laut Plan sein sollte.«
»Dann müssen wir schnell sein.« Henriette eilte zur Tür und spähte erneut hinaus. Diesmal prallte sie zurück. »Scheiße, da kommt jemand.«
»Die Kerle legen uns um!«, rief Jef panisch.
»Jetzt mach dir nicht in die Hosen, Junge! Leutnant, Sie geben mir Feuerschutz!« Torsten nahm Anlauf, stürmte los und hechtete durch die offene Tür.
Er landete direkt vor Dunkers Füßen. Dieser starrte ihn an und hob seine MP. Torsten war jedoch schneller als er. Er traf ihn mit einer Kugel in der Schulter und mit einer zweiten im Oberschenkel.
Während Dunker schreiend zu Boden sank, trat Torsten ihm die Maschinenpistole aus der Hand. Gleichzeitig schoss er auf die beiden Kerle, die hinter Dunker die Treppe herabkamen.
Den ersten traf er. Der zweite aber brachte noch die MP hoch und gab einen Feuerstoß ab. Torsten rollte sich blitzschnell um die eigene Achse und merkte dabei, wie es ihm heiß über den Rücken fuhr. Mit zusammengebissenen Zähnen schoss er mehrmals, ohne den Kerl zu treffen. Dafür hatte dieser Torsten vor dem Lauf und wollte eben abdrücken. Da traf es ihn wie ein Schlag, und er kippte haltlos nach vorne.
Torsten kämpfte sich auf die Beine und sah Henriette in der Tür stehen. Sie blies lächelnd über die Mündung ihrer Pistole und zeigte dann auf die drei am Boden liegenden Freischärler.
»Jetzt sind es nur noch zwölf!«
»Dreizehn«, korrigierte Torsten sie. »Unser flämischer Freund sagte, dass fünfzehn Mann mit Dunker zurückgeblieben sind.«
»Einer muss noch oben sein«, erklärte Jef.
Torsten nickte und hob die MPs der drei Kerle auf. »Die kamen ja wie bestellt! Für jeden von uns eine. Nehmt den Kerlen die Ersatzmagazine ab und steckt sie ein. Wenn es hart auf hart kommt, haben wir eine bessere Chance.« Während Torsten die MPs verteilte und dafür sorgte, dass jede voll geladen und schussfertig gemacht wurde, wechselte er einen kurzen Blick mit Henriette. »Sie fahren jetzt mit dem Aufzug nach oben, verlassen ihn aber unter keinen Umständen.«
»Und was tun Sie?«
»Mir den vierten Skatspieler holen! Unser neuer Freund kann inzwischen die Verletzten in den Keller schleifen.«
»Bei dem hier brauche ich es nicht mehr!« Jef zeigte auf den Mann, den Henriettes Kugel getroffen hatte.
Die junge Frau schluckte, als sie den Toten ansah, und kämpfte mit aufsteigenden Schuldgefühlen. Selbst der Gedanke, dass Renk tot wäre, wenn sie nicht geschossen hätte, half ihr nicht viel.
»Wie ist es mit Ihrer Verletzung? Sollten wir die nicht lieber vorher ansehen?«, fragte sie Torsten, um diesen Gedanken zu verdrängen.
»Dafür haben wir keine Zeit. Los jetzt! Machen Sie ruhig ein bisschen Lärm im Aufzug.« Damit gab Torsten ihr einen Schubs in Richtung des Lifts und schlich die Treppe hoch.