ELF
Als die schwere Türe hinter den Freischärlern zugefallen war, sah Torsten Henriette entschuldigend an. »Es tut mir leid, dass ich Sie in die Sache mit hineingezogen habe!«
»So ist nun einmal unser Job. Es hätte auch anders ausgehen können.« Henriette versuchte, gleichmütig zu erscheinen, doch im Grunde hatte sie wenig Hoffnung. Da diese Banditen unter anderem für den Überfall auf den Güterzug verantwortlich waren, würden ihnen ein paar Tote mehr nicht das Gewissen belasten. Sie dachte an ihren Vater, der bitter enttäuscht sein würde, weil sie schon bei ihrem ersten Auftrag versagt hatte. Noch viel schwerer würde die Nachricht von ihrem Tod ihre Mutter treffen. Im Stillen bat sie sie um Verzeihung.
Ihr und Torsten blieb jedoch keine Zeit, länger über ihre Situation nachzudenken, denn Sedersen und Rechmann kehrten mit mehreren bewaffneten Begleitern zurück.
Rechmann baute sich vor seinen Gefangenen auf. »Ihr habt jetzt die einmalige Chance, uns alles zu erzählen, was wir wissen wollen. Es sei denn, ihr bettelt danach, dass wir euch hart anfassen.«
»Sie können uns mal«, gab Henriette zurück.
»Ich hätte die Sache gerne wie unter zivilisierten Menschen geklärt, aber es geht auch anders. Fesselt den Kerl, und zwar richtig!«
Vier Freischärler rissen Torsten zu Boden und drückten ihn mit ihrem Gewicht nieder, während zwei andere mehrere Kabelbinder um seine Hand- und Fußgelenke banden.
»Der wäre versorgt«, meldete Dunker, der es genoss, vom gescholtenen Prügelknaben zum Helden geworden zu sein.
Rechmann klopfte ihm auf die Schulter. »Brav! Und jetzt haltet das Weibsstück fest!«
Zwei von Dunkers Kumpanen packten Henriette und zerrten sie zu Rechmann. Einer griff ihr dabei an den Busen und rieb seine Hüfte an ihr.
»Die Kleine wäre doch etwas für hinterher. Meinst du nicht auch, Igor?«
Er konnte kaum schnell genug denken, da saß ihm Rechmanns Rechte im Gesicht. Der Hieb schleuderte ihn nach hinten, und da er Henriette nicht losließ, riss er sie und seinen Kumpan mit sich.
»Ich sage es nur noch ein Mal! Dem Nächsten, der mich Igor nennt, breche ich sämtliche Gräten. Und jetzt macht, dass ihr auf die Beine kommt!« Rechmann sah zufrieden, wie die Kerle die Köpfe einzogen. Diese Leute gehorchten nur einer Autorität – und das war nackte Gewalt.
Mit spöttischer Miene wartete er, bis die beiden aufgestanden waren und die Gefangene hochzerrten. Dann packte er Henriette an der Kehle. »Du und dein Freund, ihr habt jetzt die letzte Gelegenheit zu erklären, wie ihr auf unsere Spur gekommen seid, bevor es wehtut.«
»Aus uns bekommst du nichts heraus«, keuchte Henriette.
Rechmann schlug ebenso ansatzlos zu wie bei seinen eigenen Leuten. Die junge Frau spürte Blut auf den Lippen, biss aber die Zähne zusammen.
»Also, was ist?«, fragte Rechmann und versetzte ihr, als er nicht sofort Antwort bekam, einen weiteren Schlag.
Obwohl er wusste, dass er gegen die etwa zwanzig Mann, die sich in dem Raum drängten, keine Chance hatte, versuchte Torsten, seine Fesseln abzustreifen, um seiner Begleiterin beistehen zu können. Die Kabelbinder, mit denen die Kerle ihn gefesselt hatten, schnitten jedoch nur tiefer ein.
Rechmann beobachtete Torstens Anstrengungen und grinste. Es brachte nichts, den Mann selbst zu schlagen. Dafür war der Kerl ein zu harter Brocken. Gewiss war die Frau seine Schwachstelle. Beim nächsten Schlag holte Rechmann betont langsam aus, damit der Bursche es auch ja in voller Gänze sah. Die Hand traf Henriette mit der Wucht eines Hammers und riss ihr fast den Kopf von den Schultern. Sie spürte, wie ihr linkes Auge sich zu schließen begann, und sagte sich, dass sie in den nächsten Tagen besser nicht in einen Spiegel schauen sollte. Eine Sekunde später wunderte sie sich über sich selbst, dass sie in einer Situation, in der es um Leben und Tod ging, an ihr Aussehen denken konnte.
Torsten knirschte vor Wut mit den Zähnen, begriff aber, dass er nicht das Geringste ausrichten konnte. »Halt!«, rief er, als Rechmann erneut ausholte. »Ich sage Ihnen alles, was Sie wollen.«
Henriette schrie auf. »Renk, Sie halten den Mund, ganz gleich, was die Kerle mit mir machen, verstanden? Unser Auftrag ist wichtiger als einer von uns!«
»Die Kleine ist ja recht mutig. Mal sehen, ob sie das auch noch ist, wenn meine Männer sie so richtig durchgebumst haben! « Rechmann nahm Henriette nicht ernst und wollte sie mit der Drohung einer Massenvergewaltigung erschrecken. Die junge Frau spie ihm jedoch nur vor die Füße. Da ihre Lippen bluteten, glänzte ihr Speichel im Licht der Neonleuchten rot.
Mit dem einen Auge, das noch offen war, blinzelte Henriette Torsten zu. »Wir von Tarows haben immer unsere Pflicht erfüllt, Renk, auch wenn diese uns auf einen Weg ohne Wiederkehr führte. Sie sagen nichts!«
»Sie vergessen, dass ich Ihr Vorgesetzter bin, Leutnant. Ich werde reden, aber nur, wenn unsere Gastgeber Sie ab sofort in Ruhe lassen – und zwar in jeder Beziehung!«, antwortete Torsten, so ruhig er es vermochte, und sah dann zu Rechmann hoch. »Also gut. Leutnant von Tarow und ich sollten der Verbindung zwischen deutschen Neonazis und rechtsradikalen Gruppen in den Niederlanden und Belgien nachspüren. Bei unserer Recherche sind wir auf die Militärschule in Breda gestoßen. Von dort war es nicht mehr weit bis hierher.«
Torstens Erklärung klang so schlüssig, dass Rechmann ihm im ersten Augenblick glaubte. Dabei behielt er die Frau aufmerksam im Auge.
Henriette sah es und fauchte wütend los. »Renk, Sie sind ein elender Schwächling! Und das nennt sich Offizier der Bundeswehr. «
Beim ersten Mal hatte Rechmann Torstens Nachnamen nicht recht verstanden. Doch jetzt horchte er auf. »Sagtest du Renk? Von dem habe ich doch schon gehört. Bist du vielleicht der Idiot, der auf Hajo Hoikens’ Kopf aus gewesen ist? Ich habe in Kameradenkreisen so etwas läuten hören.«
»Sie gehen wohl oft in die Kirche, weil Sie es läuten hören«, gab Henriette wütend zurück.
Ohne auf sie zu achten, versetzte Rechmann Torsten einen üblen Fußtritt. »Hoikens war ein guter Kumpel von mir und der Beste in meiner Ausbildungskompanie. Damals sind wir oft bei einem Bier zusammengesessen und haben Pläne geschmiedet, wie wir diese morsche Republik zerschmettern und aus ihrer Asche ein neues Deutsches Reich errichten können.«
»Heute können Sie auch etwas, nämlich mich am Abend besuchen! « Torsten wälzte sich herum und grinste trotz seiner schmerzenden Rippen zu Rechmann hoch. »Ihr Freund Hoikens hat bereits ins Gras gebissen! Wenn Sie so weitermachen, blüht Ihnen das Gleiche.«
»Von dir vielleicht? Dafür hast du den Hintern zu weit unten! « Rechmann trat Torsten noch einmal in die Rippen und wollte eben das Verhör weiterführen, als einer der anderen Freischärler hereinkam und Sedersen mehrere verkohlte Papierfetzen reichte. Dieser starrte darauf und hielt sie dann Rechmann unter die Nase.
»Die beiden waren in meinem Zimmer und haben dort Gans’ Pläne und meinen Safeschlüssel gestohlen. Wie es aussieht, sind sie hinter meinem Spezialgewehr her!«
Rechmann drehte sich mit einer Miene, die jene, die ihn nicht kannten, als Ausdruck höchster Zufriedenheit angesehen hätten, zu Torsten um. »Du wolltest mich eben verscheißern, du Mistkerl. Ihr seid nicht hinter unseren Verbindungen zu den Holländern her!«
Sedersen sah seinen Gefolgsmann erschrocken an. »Verdammt, woher kann die Bundeswehr erfahren haben, wer das zweite SG21 besitzt?«
»Ich bringe die beiden zum Reden, das verspreche ich.« Rechmann begleitete seine Worte mit einem weiteren Fußtritt und grinste, als er Torstens Rippen knacken hörte.
»Das war nur die erste der Rippen, die ich dir eintreten werde. Wenn ich mit dir fertig bin, hast du mir alles erzählt, was ich von dir wissen wollte, und wirst mich anbetteln, dir endlich den Gnadenschuss zu geben.«
»Sie sind sehr von sich überzeugt.«
»Im Gegensatz zu dir habe ich auch allen Grund dazu. Also, wie seid ihr auf uns gestoßen?« Rechmann hob den Fuß, als wolle er erneut zutreten, ließ es dann aber sein, als Torsten zu reden begann.
»Euer Tippgeber für die Container hat nach eurem Überfall auf den Zug Muffensausen bekommen und uns alles erzählt, was er wusste. Danach mussten wir nur noch euren Spuren folgen.«
Rechmann ballte die Rechte. »Dafür werde ich Mentz sämtliche Gräten brechen!«
Bei dem Namen Mentz klingelte es bei Torsten Sturm. Karl Mentz war der Vorgesetzte seines Freundes Hans Borchart in der Feldafinger Kaserne. Er hatte ihn zwar für einen eigenartigen Kauz gehalten, aber niemals gedacht, er könnte mit Rechtsradikalen und Terroristen in Verbindung stehen. Obwohl Mentz es auf der Karriereleiter nur bis zum Hauptfeldwebel geschafft hatte, bekam er in seiner Position genug mit, um für Schurken wie Rechmann und Sedersen von Nutzen zu sein.
»Wir müssen uns darüber unterhalten, was wir jetzt tun sollen«, forderte Sedersen Rechmann auf, da ihm der Schrecken in die Glieder gefahren war.
»Jetzt aufzugeben ist sinnlos. Wir müssen unsere Aktionen nur schneller umsetzen als bisher geplant.« Rechmann winkte seinen Leuten mitzukommen und verließ den Keller, ohne sich weiter um Henriette und Torsten zu kümmern.
Dunker hielt ihn im Vorraum auf. »Was machen wir mit den beiden?«
»Die sind erst einmal sicher verstaut. Was mit ihnen passiert, überlegen wir morgen oder, besser gesagt, heute bei Tag.« Damit war für Rechmann die Sache vorerst erledigt. Er betrat den Aufzug, in dem Sedersen schon auf ihn wartete, und fuhr nach oben. Bevor sie ausstiegen, lachte er auf. »Sie haben mich gefragt, wie wir die belgische Königsfamilie ausschalten können. Jetzt weiß ich, wie wir vorgehen müssen.«