SIEBZEHN

Auf den ersten Blick erkannte Torsten, dass in diesem Viertel keine armen Leute lebten. Die Fassaden der Gebäude glänzten wie neu. Auch befanden sich Straßen und Parkplätze in bestem Zustand. Verglichen mit den Autos hier gehörte sein Dienstwagen zur unteren Kategorie.

Henriette fuhr auf den Parkplatz des Hauses, in dem Gans gelebt hatte, und stellte den Wagen dort trotz einiger schiefer Blicke von Anwohnern auf einem freien Stellplatz ab. Da der wuchtig gebaute und überdies uniformierte Hünermörder als Erster ausstieg, wagte niemand zu protestieren.

Auch Torsten verließ den Wagen und wandte sich dem Haus zu. Nach ein paar Metern drehte er sich noch einmal zu Henriette um. »Sie können den grauen Koffer aus dem Kofferraum holen und mitbringen!« Er ging weiter und blieb vor dem Klingelbrett stehen.

»Da wohnt unser Mann«, sagte er zu Hünermörder und wies auf das blanke Namensschild.

»Wie wollen Sie hineinkommen?«, fragte der Polizist.

»Irgendetwas wird mir schon einfallen!« Torsten drückte mehrere Klingelknöpfe gleichzeitig. Gewöhnlich drückte dann jemand auf den Öffnungsmechanismus, ohne nachzufragen. Die gestrigen Vorkommnisse hatten die Leute jedoch verschreckt, und so hörte er gleich mehrere Frauen und einen Mann, die wissen wollten, wer vor der Tür stehe.

»Aufmachen, Polizei!«, sagte Torsten barsch.

»Polizei, was …?« Die Frau brach ab, und dann war für eine gewisse Zeit nichts mehr zu hören.

Unterdessen war Henriette mit dem Koffer erschienen. Diesmal beklagte sie sich nicht einmal stumm, dass Renk kein Kavalier wäre. Sie bildeten ein Team, und als Untergebene war es ihr Job, die Sachen zu schleppen.

Als eine Frau die Tür von innen öffnete, sah sie Henriette als Erste. Diese steckte zwar in ihrer Uniform, was die Verwirrung aber eher noch verstärkte. »Sie sind aber nicht von der Polizei!«

»Nein, das ist der Herr hier«, sagte Torsten und zeigte auf Hünermörder.

»Sie sind aber aus Niedersachsen und nicht von hier«, wunderte sich die Frau, die das Emblem mit dem weißen Ross auf rotem Grund auf Hünermörders Uniform entdeckt hatte. »Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl?«

Jetzt wurde es Torsten zu dumm. »Nach dem, was gestern in dieser Stadt passiert ist, bekomme ich jeden Durchsuchungsbefehl, den ich will, selbst für Ihre Wohnung. Und jetzt sagen Sie, ob es hier einen Hausmeister mit einem Generalschlüssel gibt. Ich breche ungern Türen auf!«

Der eisige Ton zeigte Wirkung. Die Frau wich zurück, drehte sich um und lief zu einer Tür im Erdgeschoss. Dort läutete sie Sturm. »Herr Wintrich, Herr Wintrich, kommen Sie rasch! Hier sind Leute, die alles durchsuchen wollen.«

Hünermörder drehte sich grinsend zu Torsten um. »Sie haben wirklich rustikale Methoden. So etwas könnte ich mir nicht erlauben!«

Torsten war froh, dass der Hausmeister aus seiner Wohnung trat, sonst hätte er Hünermörder ein paar passende Worte zurückgegeben.

»Guten Tag! Sie wünschen?« Der Hausmeister blieb vor dem Polizeibeamten stehen und blinzelte diesen aus kurzsichtigen Augen an.

»Wir wollen uns die Wohnung des Ingenieurs Mirko Gans ansehen«, antwortete Torsten anstelle des Niedersachsen.

»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«

»Sie haben heute wohl noch keine Nachrichten gehört? Das Innenministerium von Thüringen hat alle Polizeikräfte, die diesen Aufruhr untersuchen, mit Sondervollmachten ausgestattet. Dazu gehört auch die Durchsuchung verdächtiger Wohnungen, vorausgesetzt, der entsprechende Durchsuchungsbefehl wird nachgereicht«, sagte Henriette, die diese Meldung während ihres Aufenthalts in der Raststätte gehört hatte.

»Dann kommen Sie mit«, brummte der Hausmeister und sah Henriette misstrauisch an. »Seit wann kümmert sich ausländisches Militär um solche Angelegenheiten?«

Auf Henriettes sonst so beherrschtem Gesicht zuckte es. Dann musste sie an den salutierenden Wachtposten in der Kaserne denken, und sie zuckte mit den Achseln. Wenn schon ein Bundeswehrsoldat die Uniform der eigenen Luftwaffe nicht erkannt hatte, wie sollte es ein einfacher Hausmeister können?

Torsten hatte nicht so viel Verständnis wie sie, sondern schnauzte den Mann an. »Leutnant von Tarow ist Angehörige der Bundeswehr! Und Sie zeigen uns jetzt gefälligst die Wohnung von Mirko Gans.«

»Ich bin ja schon dabei«, brummte der Hausmeister und drückte den Aufzugknopf. Dabei warf er immer wieder einen Seitenblick auf Henriette. Er schien nicht begreifen zu können, dass diese zierliche Frau bei der Bundeswehr sein sollte und dann auch noch ein »von« im Namen trug. Er brachte die Gruppe jedoch brav zu Mirko Gans’ Wohnungstür und wollte schon aufschließen, als Torsten die Hand hob.

»Noch nicht. Vorher möchte ich mir das Schloss genauer ansehen. Leutnant von Tarow, wo ist mein Koffer?«

Henriette reichte ihm das Gepäckstück und sah zu, wie er das Zahlenschloss öffnete.

Torsten holte als Erstes ein Paar Gummihandschuhe heraus und streifte sie über. »Ich möchte Sie alle bitten, in der Wohnung nichts anzufassen. Wenn Ihnen etwas auffällt, sagen Sie es mir.« Nach dieser Anweisung untersuchte er das Schloss mithilfe einer kleinen Taschenlampe und eines monokelähnlichen Vergrößerungsglases. »Ich sehe keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens.«

»Meinen Sie denn, es hätte jemand die Wohnung aufgebrochen? «, fragte Henriette neugierig.

»Ich meine gar nichts. Aber ich musste es von vorneherein ausschließen«, antwortete Torsten und wandte sich dem Hausmeister zu. »So, jetzt können Sie aufsperren und dann wieder an Ihre Arbeit gehen. Wenn wir Sie brauchen, rufen wir Sie.«

Der Mann wusste nicht so recht, ob er nicht doch besser ein Auge darauf haben sollte, was hier geschah, verschob die Entscheidung aber auf den Moment, in dem er die Tür geöffnet haben würde. Doch ehe er sich’s versah, hatte Torsten den Generalschlüssel an sich genommen und ihm die Tür vor der Nase zugesperrt.

Während der Hausmeister grummelnd abzog, wies Torsten Henriette und Hünermörder an, im Flur stehen zu bleiben. Er nahm wieder die kleine Taschenlampe und sein Vergrößerungsglas und begutachtete die Tür von innen. Anschließend untersuchte er den Flur. Der Teppichboden schien nagelneu. Verwertbare Spuren fand er dort nicht. Daher öffnete er die Tür der Garderobe und sah dort nach.

Diese war fein säuberlich in zwei Bereiche gegliedert. In dem einen hingen Jacken, Mäntel und Blusen, die einer zierlichen Frau gehören mussten, in dem anderen befanden sich Sakkos und Westen für einen dünnen, mittelgroßen Mann.

Nachdenklich schloss Torsten die Garderobe wieder und ging weiter. Die Küche war neu und durch eine Essecke aus hellem Edelholz erweitert worden.

Als Nächstes betrat er das Wohnzimmer. Der Fernseher war auf Stand-by geschaltet, und auf der ovalen Steinplatte des Couchtisches stand ein noch zum Teil gefülltes Glas, als wäre der Betreffende nur kurz hinausgegangen.

Torsten hob das Glas auf und schnupperte daran. Die Flüssigkeit sah aus wie Orangensaft, aber nicht nur die ebenfalls auf dem Tisch stehende Wodkaflasche, sondern auch ihr Geruch wies eindeutig darauf hin, dass mehr darin sein musste.

Unterdessen erinnerte Henriette sich daran, dass er sie ja ausbilden sollte. »Wonach suchen Sie eigentlich?«

»Nach Auffälligkeiten, die zusammen einen Sinn ergeben«, lautete die nicht gerade erschöpfende Antwort.

Torsten nahm sich nun den aus mehreren Teilen bestehenden Wohnzimmerschrank vor. In den meisten Schubfächern befand sich Porzellan sowie ein recht wertvolles Besteck. Zwei Fächer waren zugesperrt. Allerdings stellten die Schlösser kein Problem dar, denn schon Torstens zweiter Dietrich reichte aus, um sie zu öffnen. Die beiden Kassetten, die sich darin befanden, stellten seine Fähigkeiten stärker auf die Probe. Schließlich waren auch sie geknackt, und die drei starrten auf ein dickes Bündel Geldscheine sowie mehrere Schmuckstücke, die Hünermörder auf mehr als zwanzigtausend Euro taxierte. Das Bargeld ergab etwa noch einmal die gleiche Summe.

Er wandte sich an Henriette. »Sie bekommen hier eindrucksvoll vorgeführt, wie eine Theorie gleichzeitig erhärtet und ad absurdum geführt wird.«

»Sie hatten den Ingenieur im Verdacht, den Brand in der Fabrik gelegt zu haben?« Obwohl Henriette noch kaum Informationen besaß, hatte sie sich aus Torstens kurzen Kommentaren eine erste Meinung gebildet.

»Es geht nicht nur um den Brand in der Fabrik, sondern auch um eine andere Sache, bei der ich den Herrn dort kennengelernt habe.« Torsten streifte Hünermörder mit einem vernichtenden Blick und wies dann auf den Schmuck. »Die Sachen hier waren nicht gerade billig. Dabei hätte Gans sich nach seinem letzten Schufaeintrag von vor zwei Jahren weder diese Wohnung leisten noch solche Klunker kaufen können.«

»Also muss der Ingenieur in letzter Zeit zu Geld gekommen sein, und das nicht zu knapp.« Hünermörder betrachtete seufzend den Schmuck und sagte sich, dass er sich so ein Zeug von seinem Gehalt bestimmt nicht leisten konnte.

Torstens Gedanken gingen derweil andere Wege. Mehr denn je war er sicher, dass Gans mit dem Nachbau des SG21 zu tun hatte. Doch er hatte angenommen, Gans habe die Pläne für das SG21 an einen ausländischen Geheimdienst verkauft und sich aus dem Staub gemacht. In diesem Fall hätte der Ingenieur das Geld und den Schmuck mitgenommen.

Es fand sich keine Spur, wohin der Mann verschwunden sein könnte, auch dann nicht, als er das Arbeitszimmer des Ingenieurs unter die Lupe nahm. Nur in Gans’ Papierkorb stieß er auf etwas Verdächtiges, nämlich ein paar zerknüllte Blätter, auf denen Zeichnungen halbfertiger Bauteile unbekannter Art zu sehen waren. Torsten steckte sie in einen Plastikbeutel und legte diesen in seinen Koffer.

»Darum soll sich Wagner kümmern – oder Petra«, sagte er zu Henriette und sah sich die übrigen Räume an. Im Badezimmer steckten noch die Zahnbürsten in den Bechern, daneben lagen zwei unterschiedliche Sorten Zahnpasta. Nichts deutete darauf hin, dass die Bewohner die Wohnung für längere Zeit hatten verlassen wollen.

Auch die Kleiderschränke in den beiden Schlafzimmern waren voll, und in dem Nachtkästchen in Gans’ Schlafzimmer lag eine Brieftasche mit mehreren tausend Euro. Im Nachttisch der Frau fand Torsten weitere Schmuckstücke.

Enttäuscht fertigte Torsten ein kurzes Protokoll der gefundenen Gegenstände, ließ es von Henriette und Hünermörder unterzeichnen und steckte es zu seinen Unterlagen. »Hier müssen andere ran, Spezialisten, die aus einer aufgefundenen Gewebefaser alles über die Person herausfinden, die das entsprechende Kleidungsstück getragen hat«, kommentierte er die Situation und verließ die Wohnung. Wegen der nicht unbeträchtlichen Geldsumme und des Schmucks versiegelte er die Eingangstür mit mehreren Klebestreifen, die mit seiner, Henriettes und Hünermörders Unterschriften gekennzeichnet wurden, und lieferte den Generalschlüssel wieder beim Hausmeister ab.

»Was haben Sie herausgefunden?«, fragte dieser neugierig.

»Nicht viel. Die Wohnung darf vorläufig von niemandem betreten werden«, antwortete Torsten kurz angebunden.

Der Hausmeister starrte ihn verdattert an. »Aber was ist, wenn Herr Gans und seine Schwester zurückkommen und in die Wohnung wollen?«

»Ich bezweifle, dass sie je zurückkommen werden. Und nun auf Wiedersehen!« Torsten winkte Henriette und dem Polizisten, ihm zu folgen, und schritt mit grimmiger Miene davon.

Die geheime Waffe
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