EINS
Als Petra und Torsten Major Wagners Büro betraten, fuhr dieser sogleich auf. »Und? Was haben Sie herausgefunden, Frau Waitl?«
Petra schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber mit den mageren Daten, die Sie mir geschickt haben, konnte ich nichts anfangen. Vielleicht komme ich weiter, wenn Sie mir neue Informationen geben.«
»Es gibt nichts weiter! Wir wissen nur, dass der Inhalt eines Containers auf dem Weg von hier nach Berbera spurlos verschwunden ist. Wo und wie ist ein Rätsel.«
Torsten versuchte, die Fakten im Stillen noch einmal zu ordnen. Der Zielort der Sendung lag in Nordsomalia oder Somaliland, wie es die dortigen Machthaber nannten. Diese hatten ihr Herrschaftsgebiet vom restlichen Somalia abgespalten und forderten vehement die Anerkennung als unabhängiger Staat. Da es sich um eines der größten Krisengebiete Afrikas handelte, waren Waffenlieferungen in diese Gegend international geächtet. Doch manchmal war es nötig, Leute zu unterstützen, die man für seine Freunde oder zumindest für die Feinde der eigenen Feinde hielt. Allerdings durfte Hilfe dieser Art keinesfalls an die Öffentlichkeit dringen. Vor diesem Hintergrund kam das Verschwinden der Sendung einer Katastrophe gleich.
»Es geht nicht allein um die Geheimhaltung«, erklärte Wagner gerade, als habe er Torstens Gedanken gelesen. »Wir haben uns auch bei den Empfängern blamiert, die statt der versprochenen Gewehre, Maschinenpistolen und leichten Luft- und Panzerabwehrraketen einen Haufen Eisenschrott in den Containern vorgefunden haben.«
Torstens Augen glitzerten. Die Suche nach den verschwundenen Waffen war nun genau der richtige Job für ihn. Übertrieben zackig salutierte er. »Herr Major, Oberleutnant Torsten Renk meldet sich zum Dienst zurück. Wenn Sie wünschen, werde ich mich zusammen mit Petra um diese Sache kümmern.«
»Frau Waitl wird ihren Teil an diesem Job übernehmen. Für Sie, Renk, habe ich jedoch eine andere Aufgabe«, antwortete Wagner mit einem Gesichtsausdruck, der zu Torstens Verwunderung trotz der angespannten Situation amüsiert wirkte.
»Soll ich weiter nach dem Mörder mit dem SG21 suchen?«
Wagner schüttelte den Kopf. »Hinter dem sind längst andere her. Nachdem Sie, Renk, in den letzten Monaten so sehr im Stress waren, haben Sie einen ruhigeren Job verdient. Daher werden Sie einen neuen Kollegen ausbilden. Es handelt sich um Leutnant H. C. von Tarow.«
»Sagten Sie von Tarow?«, fragte Torsten so entgeistert, als habe man ihm ein Erschießungskommando angekündigt.
»Sie haben ganz richtig gehört. Der Leutnant stammt aus einer alten Soldatenfamilie. Sein Vater war Brigadegeneral bei der Bundeswehr, und der ältere Bruder ist im letzten Jahr zum Major befördert worden.«
»Sie müssen mir nichts über Dietrich von Tarow erzählen, Herr Major. Er war mein erster Kompaniechef bei der Bundeswehr. Alle, die ihm zur Grundausbildung unterstellt waren, haben ihn gehasst. Der hat einen Dreißigkilometermarsch mit voller Kampfausrüstung im Laufschritt zurückgelegt, ohne auch nur hastiger zu atmen, während uns bereits die Zunge am Boden schleifte. Wissen Sie, was er geantwortet hat, als ihm einer das sagte? Wir sollen uns die Zunge ein paarmal um den Hals wickeln, dann würde sie uns nicht mehr beim Laufen behindern!« Torsten schüttelte es bei der Erinnerung an jenen Vorgesetzten, der ihn und seine Kameraden geschliffen hatte.
Wagner hörte nicht zum ersten Mal, welchen Eindruck Dietrich von Tarow auf die verweichlichten Rekruten mit ihren Bauchansätzen gemacht hatte. Heute jedoch würde sein Untergebener nicht mehr keuchend hinter diesem Mann zurückbleiben. Dietrich von Tarow mochte ein eisenharter Kerl sein, doch Renk war ihm, was Zähigkeit und Ausdauer betraf, durchaus ebenbürtig.
»Ich glaube, Sie hatten auch schon mit General von Tarows zweitem Sohn zu tun«, sagte Wagner, ohne auf Torstens Bemerkung einzugehen.
Dieser nickte mit verbissener Miene. »Ja, bei einem Offizierslehrgang. Allerdings hat er die Schlägerei vom Zaun gebrochen, nicht ich. Dafür gibt es Zeugen.«
»Ich habe den Eintrag in Ihren Akten gelesen. Sie müssen ganz schön wütend auf Michael von Tarow gewesen sein, denn er brauchte hinterher einen Kieferchirurgen.«
»Er hat unfair gekämpft!«, fuhr Torsten auf.
»Sie haben damals auch einiges abgekriegt.«
»Ein blaues Auge und eine angeknackste Rippe.« Torsten winkte ab und sah Wagner mit vorgeschobenem Kinn an. »Damit Sie es wissen, Herr Major: Ich werde diesen von Tarow nicht ausbilden. Wahrscheinlich ist er derselbe zwei Meter große niedersächsische Kleiderschrank mit Spatzengehirn wie seine Brüder.«
»Die von Tarows stammen aus Westfalen. Das gehört nicht zu Niedersachsen«, klärte Wagner Torsten auf.
»Es ist derselbe Menschenschlag!« Torstens Liebe zu Niedersachsen war seit seinem Unfall und der nachfolgenden Behandlung durch Sven Hünermörder nicht gerade gewachsen.
Wagner war jedoch nicht bereit, die Launen seines Untergebenen zu dulden. »Sie übernehmen den Job, verstanden? So dumm kann dieser von Tarow nicht sein, sonst hätte er die Tests nicht mit Auszeichnung bestanden.«
»Ich will nicht!« In diesem Augenblick glich Torsten mehr einem zornigen kleinen Jungen als einem erfahrenen Agenten des MAD.
»Sie werden mit von Tarow ein Team bilden und ihm alles beibringen, was er wissen muss. Punkt! Auf den Mann werden Sie mehr angewiesen sein, als Sie denken. Oder haben Sie vergessen, dass Ihr Führerschein für ein paar Monate Urlaub in Flensburg macht?«
Die Antwort, die Torsten darauf gab, war nicht stubenrein. Wagner beachtete ihn jedoch nicht weiter, sondern stupste Petra an. »Los, an die Arbeit, Frau Waitl! Von selbst kommen die verschwundenen Waffen nicht zurück. Und Sie, Renk, sehen zu, dass Sie sich und Ihre Angelegenheiten in Ordnung bringen. Am Mittwoch will ich Sie um neun Uhr hier in meinem Büro sehen. Dann lernen Sie Ihren neuen Kameraden kennen.«
»Der Teufel soll ihn holen!«
Petra klopfte ihm gegen den Arm. »Bis dahin adieu! Schön war es mit dir! Aber der Alltag hat uns wieder.« Es war wie ein Abgesang auf ihren Mallorcaurlaub, denn beide wussten, ohne darüber gesprochen zu haben, dass sich jene angenehmen Stunden nicht wiederholen würden.