FÜNFUNDZWANZIG
Jef wusste, dass er handeln musste, sonst würde Sedersen ganz Flandern ins Chaos stürzen. Doch was konnte er tun? Während er die Treppe hochstieg und Sedersens Zimmertür öffnete, dachte er angestrengt nach. Solange die Hauptmacht der Freischärler hier war, hatte er keine Chance, und seine Situation besserte sich auch dann nicht, wenn der Großteil davon Sedersen nach Brüssel folgte. Gegen Dunker und fünfzehn zu allem entschlossene Männer kam er nicht an.
Bei dem Gedanken wünschte er sich nur noch ein Versteck, in dem er ausharren konnte, bis alles vorbei war. Aber Verkriechen nützte ihm auch nicht viel. Irgendwann würden diese Kerle ihn als überflüssig erachten und umbringen. Er dachte an all die Menschen, die Sedersens Rebellion noch zum Opfer fallen würden, und biss die Zähne zusammen. Er durfte nicht tatenlos abwarten.
Die geforderten Pläne fand er auf Anhieb, doch anstatt sofort wieder nach unten zu gehen, sah er sich in dem Zimmer um. Er war schon mehrfach hier gewesen, um Sedersen zu bedienen. Allerdings hatte er es kaum gewagt, die Einrichtung genauer zu betrachten. Nun legte er jede Zurückhaltung ab und entdeckte in der obersten Schublade des Schreibtisches einen Schlüsselbund mit der Aufschrift »Rechmann«.
Der größere Schlüssel musste zu dessen Türschloss gehören, sagte er sich und steckte den Bund ein. Auf dem Weg nach unten kam er an Rechmanns Tür vorbei und probierte den Schlüssel aus. Er passte.
Jef musste sich beherrschen, um nicht zu juchzen. In Rechmanns Zimmer fand er gewiss eine Waffe, die er zu den Gefangenen hineinschmuggeln konnte, und dann sah die Sache schon ganz anders aus. Nachdem Jef auch noch einen kurzen Blick auf den Aufmarschplan geworfen hatte, den er Sedersen bringen sollte, kehrte er in den Besprechungsraum zurück und setzte sich auf seinen gewohnten Platz neben der Tür.
Um ihn herum herrschte rege Betriebsamkeit. Die Männer suchten eilig Waffen und Ausrüstungsgegenstände zusammen. In einer Ecke stand Reinaert und führte ein Handygespräch nach dem anderen. Sedersen hatte den Raum verlassen, kehrte aber bald zurück und hielt einen futuristisch aussehenden Gegenstand in der Hand, den Jef erst auf den zweiten Blick als Schusswaffe einordnete.
»Wo sind meine Pläne?«, fragte Sedersen scharf.
Jef streckte sie ihm hin. »Hier!«
Sedersen las kurz die ersten Zeilen durch und teilte dann mehrere Blätter unter seinen Leuten auf. »Hier sind eure Anweisungen. Haltet euch daran, sonst kommt ihr euch gegenseitig ins Gehege. Wenn jeder seinen Job macht, gehört Flandern heute Abend uns.«
Reinaert hatte die meisten Blätter bekommen und las sie mit wachsender Unsicherheit durch. »Ich weiß nicht, ob ich so viele Leute in Marsch setzen kann. Außerdem ist unsere Parteimiliz kleiner, als Sie anzunehmen scheinen.«
»Arbeiten Sie die Punkte auf der Liste einen nach dem anderen ab. Je weiter oben sie stehen, umso wichtiger sind sie. Und was Ihre Miliz angeht, wird diese durch Eegendonks Reserven verstärkt. Aber jetzt los! Drei Mann kommen mit mir. Der Rest geht so vor, wie es hier beschrieben ist.«
Jef sah zu, wie Sedersen mit Jasten und je einem von Dunkers und Eegendonks Männern das Zimmer verließ. Eegendonk selbst folgte ihm mit seinem Trupp auf dem Fuß. Jeder Freischärler trug Kampfanzug, Splitterschutzweste und Helm und war mit einem Sturmgewehr oder einer Maschinenpistole bewaffnet.
Nachdem auch Reinaert aufgebrochen war, blieb Jef mit Dunker und dessen Leuten allein zurück. Da die fünfzehn Freischärler das ganze Gelände überwachen sollten, schickte Dunker sechs von ihnen hinaus. Sechs weitere bestimmte er als deren Ablösung und behielt die letzten drei bei sich, um genug Mitspieler zum Skat zu haben.
»Jef, bring Bier!«, rief er und schaltete den Ton der Fernsehübertragung wieder lauter.
»Ich möchte hören, wenn Walter es krachen lässt«, erklärte er. Seine Kumpane zogen jedoch saure Mienen.
»Ich könnte mich in den Arsch beißen, weil die anderen den Sieg erkämpfen können, während ich hier sitzen und in die Glotze schauen muss«, rief einer von ihnen und hieb mit der Faust auf den Tisch.
Die beiden anderen stimmten ihm zu, doch Dunker winkte lachend ab. »Sollen doch erst einmal die anderen die Köpfe hinhalten. Wir werden schon noch gebraucht. Erinnert ihr euch an Jekaterinburg?«
»Was soll denn das sein?«
»Eine russische Stadt. Dort haben die Bolschewisten den letzten Zaren und dessen Familie hingerichtet. Vielleicht werden wir die Männer sein, die hier die Herrscherfamilie exekutieren.«
»Kamerad Lutz macht einen auf intellektuell«, spottete einer und sah im nächsten Moment in die Mündung von Dunkers MP.
»Vorsicht, Bürschchen. Hier bin immer noch ich der Chef. Wenn dir was nicht passt …« Dunker ließ den Rest ungesagt, doch die zärtliche Geste, mit der er seine Maschinenpistole streichelte, sprach Bände.
Der Mann ist ein Killer, fuhr es Jef durch den Kopf. Dunker hatte am Töten Gefallen gefunden und sehnte sich danach, es wieder zu tun. Dabei war es ihm mittlerweile vollkommen gleichgültig, ob es Feinde der Bewegung waren oder Kameraden, die er kurzerhand zu Verrätern erklärte. Oder mich, wenn ich ihm nicht schnell genug Bier nachschenke, dachte Jef in einem Anflug von Galgenhumor.
Er versorgte die vier mit Getränken und wollte sich wieder an seinen Platz setzen. Doch da fühlte er den Schlüssel zu Rechmanns Zimmer in seiner Tasche, und das übte eine ungekannte Anziehungskraft auf ihn aus.
»Ich muss nach unseren Biervorräten sehen«, sagte er und wandte sich zum Gehen.
»Bring Chips mit!«, rief Dunker ihm nach.
Eher blaue Bohnen, dachte Jef und schloss die Tür hinter sich. Lautlos stieg er die Treppe nach oben und blieb vor Rechmanns Tür stehen. Mit zitternden Fingern zog er den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss.
Als er es nicht gleich aufbrachte, überkam ihn Panik. Er wollte schon davonlaufen, beherrschte sich aber und versuchte es erneut. Diesmal drehte sich der Schlüssel anstandslos. Die Tür schwang auf, und er konnte eintreten. Sofort sperrte er hinter sich zu, lehnte sich gegen das Türblatt und atmete erst einmal durch. Er riss sich jedoch sofort wieder zusammen und suchte nach den Waffen der beiden Deutschen. Rechmann hatte diese an sich genommen, sie aber nicht bei sich gehabt, als er mit dem Bombentransporter losgefahren war.
Schließlich fand er das Gesuchte im Schreibtisch, der sich mit dem zweiten Schlüssel öffnen ließ. Dort hatte Rechmann nicht nur die MP, die beiden Pistolen und die Dienstausweise, sondern auch alles andere deponiert, das die Deutschen bei sich gehabt hatten. Jef steckte die Ausrüstung in einen großen Plastikbeutel, um den Anschein zu erwecken, als habe er etwas aus dem Lagerraum geholt, und verließ das Zimmer.
Beim Hinabsteigen klopfte sein Herz wie ein Schmiedehammer. Auf dem Flur vor dem Besprechungsraum war niemand zu sehen, lediglich Dunkers Stimme schallte durch die Tür. Anscheinend verlor dieser gerade beim Skat, denn er bellte wie ein gereizter Hund.
Auf seinem weiteren Weg legte sich Jef zurecht, was er den beiden Männern erzählen wollte, die die Gefangenen bewachten. Er würde behaupten, Dunker habe ihn geschickt, die beiden Deutschen zu versorgen. Dann musste er eine der Pistolen ziehen und die Leute damit erschießen. Bei dem Gedanken krampfte sich sein Magen zusammen. Er hatte nicht einmal nachgesehen, wie die Waffen zu entsichern waren. Mit feuchten Händen packte er eine der Pistolen und zog sie aus der Tasche. Es war eine elegant wirkende, schwarz-silberne Pistole. Obwohl er diesen Typ nicht kannte, fand er den Sicherungshebel und schob ihn nach vorne.