SECHS

Es war für Karl Jasten nicht einfach, dem Güterzug auf der Spur zu bleiben, da die Bahnstrecke nur abschnittsweise neben einer Autostraße verlief. Aber er kam jeweils rechtzeitig genug bei den Bahnhöfen in Welkenraedt, Limbourg, Verviers und Pepinster an, um den Zug dort passieren zu sehen. Auch in Lüttich gab es keine Probleme. Als der Zug schließlich Awans hinter sich ließ, stieg Jastens Anspannung auf ein kaum mehr erträgliches Maß.

Da hinter Awans eine Straße in der Nähe der Bahnlinie in die gleiche Richtung führte, konnte er den Zug im Auge behalten. Beim Fahren schnappte er sich das Handy und rief Rechmann an. »Wir sind gleich so weit!«

»Wo bist du?«, fragte Rechmann.

»In Fexhe-le-Haut-Clocher!« Jasten verbog sich beinahe die Zunge bei dem fremdartigen Namen.

»Gut. Du kannst heimfahren!« Rechmann schaltete das Handy aus und tippte eine Nummer ein.

»Ja«, meldete sich ein Flame aus Zwengels Truppe, der von seinen Kameraden Peer, der Rammbock gerufen wurde.

»Start!« Rechmann sagte nur dieses eine Wort und trat aufs Gas. Sein Kranwagen und die anderen Fahrzeuge hatten sich auf dem Autobahnparkplatz bei Waremme getroffen und fuhren nun in einer langen Reihe los. Auf dieser Strecke hätte es einige Möglichkeiten gegeben, den Zug zu überfallen, doch die meisten davon befanden sich in Ortschaften oder zu nahe an der Autobahn. Daher hatte Rechmann sich entschlossen, seinen Coup ein Stück östlich von Remicourt durchzuführen.

Dort parkte bereits der präparierte Toyota unweit der Bahnunterführung. Peer, der den Toyota gefahren hatte, wanderte den Bahndamm entlang in die Richtung, aus der der Zug kommen musste. Nach einer Weile stieg er den Damm hoch und sah sich um. Die Straße hinter ihm war leer. Von der anderen Seite näherte sich ein Traktor der Unterführung.

Er machte eine wegwerfende Handbewegung und zog die Fernsteuerung aus seiner Jackentasche. Als er sie einschaltete, setzte sich der Toyota ruckartig in Bewegung und rollte auf die Unterführung zu. Der Mann lenkte das Auto genau unter die Gleise, wartete noch ein paar Sekunden und drückte den Knopf, den Rechmann mit einem Farbstift markiert hatte.

Ein roter Feuerball flammte in der Unterführung auf, dann hallte der Knall wie ein Donnerschlag über das Land. Staub und Dreck wirbelten hoch und verdeckten die Sicht. Trotzdem war Peer überzeugt, dass die Unterführung schwer beschädigt, wenn nicht sogar ganz zerstört worden war.

Nun rannte er los, stieg auf die Gleise und winkte mit beiden Armen, um den Lokführer des herankommenden Zuges auf sich aufmerksam zu machen. Dieser hatte bereits die Explosionswolke in der Ferne bemerkt und sein Tempo verringert. Wenige Schritte vor dem Attentäter hielt der Zug schließlich an. Der Lokführer öffnete die Tür und sah heraus. »Was ist da vorne passiert?«

»Ein Auto ist gegen die Mauer der Unterführung geknallt und explodiert. Ich weiß nicht, ob es auch die Gleise erwischt hat«, antwortete Peer in stockendem Französisch.

»Was ist denn hier los?« Der Mann, der jetzt von hinten herankam, sprach ein besseres Französisch, allerdings mit einem deutschen Akzent.

»Da war ein Unfall«, erklärte der Attentäter und sah aus den Augenwinkeln die Lastwagen und die Kleinbusse seiner Kumpane herankommen.

Die Kolonne hielt an, und der Beifahrer des vordersten Fahrzeugs, eines Autokrans, stieg aus. »Hat es ein Unglück gegeben?« Sein Französisch klang flüssig und hatte einen wallonischen Unterton, wie er südlich von Brüssel üblich war.

»Ein Auto ist gegen die Unterführung geprallt«, rief der Fahrer des Toyotas ihm zu und zog sich ein paar Schritte zurück, um nicht ins Schussfeld zu geraten.

Danach ging alles blitzschnell. Die Hecktüren der Kleinbusse schwangen auf, je zwei Männer sprangen heraus und schossen ohne Warnung auf den Lokführer, den Zugbegleiter und den MAD-Mann. Noch während diese von Kugeln durchsiebt zusammenbrachen, stürmten die restlichen Männer aus den Kleinbussen den Zug. Schüsse knallten, als sie den zweiten MAD-Mann entdeckten. Dieser hielt zwar seine Pistole in der Hand, kam aber nicht mehr zum Schuss.

Der letzte Überlebende aus Major Wagners Team sah ein, dass er allein gegen die Angreifer nichts ausrichten konnte, und versuchte zu fliehen. Obwohl er jede Deckung ausnutzte, fiel auch er den Kugeln seiner Verfolger zum Opfer. Der Bauer auf seinem Traktor, der hilflos auf die Szene starrte und nicht begriff, was sich vor seinen Augen abspielte, wurde ebenso erschossen wie mehrere Passanten, die von der Explosion angelockt näher gekommen waren.

Rechmann sah zufrieden, dass alles wie am Schnürchen geklappt hatte, und versetzte van der Bovenkant, der mit bleicher Miene bis zum Kranwagen zurückgewichen war, einen Hieb mit der Faust.

»Los, du Idiot! Plärr ein paar Befehle, aber so laut, dass die Kerle, die da hinten gerade stiften gehen, dich hören.« Er zeigte auf ein paar Spaziergänger mit Hunden, die eilig davonliefen.

Der junge Flame nickte und begann französische Worte auszustoßen.

»Lauter!«, fuhr Rechmann ihn an, schwang sich in den Autokran und platzierte diesen so neben dem Zug, dass der Ausleger genau über dem ersten der begehrten Container zum Stehen kam.

Nun traten die Männer, die in den Lastwagen mitgefahren waren, in Aktion. Sie enterten den Container, zerrten Stahlseile hinauf und befestigten ihn. Kurz darauf hing der Behälter am Kran. Der leere Lastwagen fuhr heran. Rechmann setzte den Container darauf ab und sah zu, wie sich das Fahrzeug in Bewegung setzte, damit der Lkw mit dem ersten der Austauschcontainer heranrollen konnte. An diesem waren die Seile, mit denen er hochgehoben werden konnte, bereits angebracht, und so dauerte es nur Sekunden, bis der Behälter auf dem Waggon stand. Mit dem zweiten Container ging es ebenso schnell. Rechmann hätte die Container mit den Waffen auch einfach mitnehmen können, doch er wollte die Behörden und vor allem die Bundeswehr täuschen. Die Container, die jetzt auf den Waggons standen, sahen genauso aus wie die Originale und trugen auch die gleiche Aufschrift.

Rechmann sah noch zu, wie die grauen Planen über die geraubten Container gezogen wurden, dann fuhr er ein Stück zurück und ließ die Überreste des Toyotas an seinen Ausleger hängen. Diese kamen auf den leeren Lkw und wurden dort fixiert. Rasch zogen die Männer eine Plane über das Autowrack, dann fuhren die Lastwagen einer nach dem anderen an. Auch die Männer aus den Kleinbussen kehrten zu ihren Fahrzeugen zurück und verließen den Schauplatz des Überfalls. Als Letzter legte Rechmann den Gang ein, da sah er van der Bovenkant noch immer auf dem Bahndamm stehen und sinnlose französische Befehle brüllen.

»He, zurück in den Wagen!«, rief er und hoffte, dass niemand mehr in der Nähe war und die auf Deutsch gesprochenen Worte vernommen hatte.

Endlich begriff van der Bovenkant, dass er allein auf der Bahnstrecke stand, und rannte zum Autokran zurück. Als er im Führerhaus saß, ließ Rechmann das Fahrzeug anrollen.

Die Leute, die den Überfall aus größerer Entfernung miterlebt hatten, wagten nicht, näher heranzukommen. Einer von ihnen sprach noch ganz aufgeregt in sein Handy, während in der Ferne die Sirene eines Polizeifahrzeugs aufklang.

Die geheime Waffe
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