VIER
Geerd Sedersen streichelte das SG21 auf seinem Schoß, als wäre es ein Haustier. Seit einer Stunde lag er bereits auf der Lauer, gut gedeckt durch ein Gebüsch auf dem Hügel, von dem er die Rückfront von Kaffenbergers Villa unter Kontrolle halten konnte. Mit seinem Lasergerät hatte er die Entfernung bis zur Villa gemessen, beinahe zwei Kilometer. Mit dem derzeitigen Standardscharfschützengewehr der Bundeswehr, dem G22, hätte er keinen sicheren Schuss abfeuern können. Doch mit seiner Spezialwaffe würde es ihm gelingen.
Sein Opfer befand sich bereits in seinem Sichtfeld. Allerdings hatte Nicole Kaffenberger sich zum Sonnen auf die Terrasse gelegt und bot ein zu kleines Ziel. Sedersen wartete, dass sie endlich aufstehen möge.
»Ich darf nicht ungeduldig werden«, mahnte er sich. Dabei war der Wunsch zu töten in ihm übermächtig geworden. Erneut blickte er durch sein Fernglas. Nicole Kaffenberger lag auf der Liege wie ein Stück Fleisch auf dem Grill. Der Vergleich amüsierte ihn. Um für den entscheidenden Augenblick bereit zu sein, setzte er das brillenartige Gestell mit dem kleinen Multifunktionsbildschirm auf. Als er diesen einschaltete, blickte er durch die Sensoraugen des Gewehrs. Zuerst sah er nur das Grün der Blätter vor sich, deren Büsche ihm Deckung gaben. Dann schob er den Lauf der Waffe nach vorne und richtete sie auf die Villa.
Es dauerte einen Moment, bis er sein Ziel fand. Doch die Zeit hatte ausgereicht, um die Situation zu verändern. Nicole Kaffenberger war aufgestanden und hatte die Terrasse verlassen. Sedersen fluchte. Er hätte sich auf sein Supergewehr verlassen und auf die liegende Frau schießen müssen. Jetzt war es vielleicht zu spät, denn er wusste nicht, ob er Nicole Kaffenberger an diesem Tag noch einmal vor den Lauf bekommen würde. Es passte auf keinen Fall in seine Pläne, sich hier tagelang auf die Lauer zu legen, und es war auch zu riskant. Für einen Augenblick erwog er, diese Sache Rechmann zu überlassen, ließ diesen Gedanken jedoch sofort wieder fallen. Er wollte die Frau mit eigener Hand töten.
Er zuckte zusammen. Nicole Kaffenberger kam auf die Terrasse zurück, diesmal nicht mehr nur mit einem Bikinihöschen, sondern mit Rock und weißer Bluse bekleidet. Sedersen wusste, dass er nicht länger zögern durfte. Er schaltete den Zoom des elektronischen Zielfernrohrs auf die höchste Stufe, legte an und wartete, bis der blaue Punkt des Ziellasers genau über dem Herzen der Frau aufleuchtete. Dann drückte er ab.
Wegen des speziellen Treibmittelgemischs war der Knall nicht besonders laut. Bereits in wenigen Metern Entfernung konnte ein Unbeteiligter ihn für das Knacken eines Zweiges halten. Dennoch hallte er in Sedersens Ohren wie Kanonendonner. Er atmete tief durch und sah durch das elektronische Auge des Gewehrs zu, wie die Frau rückwärtstaumelte und der weiße Stoff ihrer Bluse sich rot färbte.
Diesen Schuss soll mir erst einmal einer nachmachen, dachte Sedersen, obwohl er wusste, dass er seine Treffsicherheit der komplizierten Elektronik seiner Waffe verdankte und, wenn er ehrlich war, vor allem auch seinem Ingenieur. In der Hinsicht fand er es bedauerlich, dass Mirko Gans hatte sterben müssen. In diese Überlegung mischte sich das Bedauern, dass er den Mann nicht selbst hatte umbringen können. Es wäre eine Ironie des Schicksals gewesen, Gans mit dem Gewehr zu erschießen, das dieser heimlich nachgebaut hatte.
Während dieser Gedankenspiele verstaute er seine Waffe in dem Kasten, den Rechmann dafür angefertigt hatte. Nach einem prüfenden Blick verließ er sein Versteck und ging die etwa zweihundert Meter zu seinem Wagen. Bei den ersten Morden hatte er noch sein eigenes Auto benutzt, aber diesmal war er mit einem motorstarken Kleinwagen gekommen, den Rechmann ihm organisiert hatte. Gleich nach dieser Fahrt würde sein Leibwächter ihn wieder verschwinden lassen.
Daher fungierte Rechmann an diesem Tag als Chauffeur, während Jasten mit der großen Limousine zwei Dutzend Kilometer entfernt auf einem Wanderparkplatz wartete. Sedersen verstaute den Gewehrkasten auf dem Rücksitz und nahm neben Rechmann Platz. »Die Sache ist erledigt. Wir können losfahren.«