DREI
Henriette bewunderte, wie geschmeidig Renk sich durch das gefährliche Terrain bewegte, das kaum Deckung bot. Zudem schien er förmlich zu riechen, wann die unregelmäßig kreisenden Lichtsäulen in ihre Richtung schwenkten, und konnte sich jedes Mal rechtzeitig in Sicherheit bringen. Als es ihm einmal nicht gelang, presste er sich auf den Boden, der an dieser Stelle ebenso dunkel war wie sein Trikot. Obwohl sie selbst keine zwanzig Meter von ihm entfernt hinter einem Kleinwagen kauerte, konnte sie ihn kaum erkennen. Für einen Augenblick stellte sie sich die Wächter vor, die im Vertrauen auf ihre Sicherheitsmaßnahmen wahrscheinlich nur einen gelangweilten Blick auf ihre Monitore warfen und daher gar nichts wahrnahmen.
Nachdem der Kegel des Scheinwerfers weitergewandert war, sprang Torsten auf und rannte Richtung Villa. Kaum hatte er das Haus erreicht, drehte er sich kurz um und winkte Henriette, ihm zu folgen.
Obwohl sie eine Nachtsichtbrille trug, fiel es ihr schwer, ihn auszumachen, da sein Trikot die verräterische Wärmestrahlung zum größten Teil verbarg. Tief durchatmend blickte sie zu den Scheinwerfern hinüber, die jetzt auf eine der Hallen gerichtet waren, und rannte los, bereit, sich jeden Augenblick zu Boden zu werfen. Sie schaffte es jedoch bis zu Torstens Standort und wurde von diesem sofort in Deckung gezogen.
»Bevor wir in das Haus einsteigen, nehmen wir uns eine der großen Hallen vor.«
»Was glauben Sie, werden wir dort finden?«
»Sie wissen doch, was Wagner immer so gerne sagt: Wir werden vom Vaterland nicht fürs Glauben bezahlt, sondern fürs Wissen. Und dafür müssen wir in die Hütte da drüben hinein. « Er sah sich um, rannte weiter, bis er die größere Halle erreicht hatte, und verschmolz mit der Farbe der Mauer.
Bevor Henriette ihm folgen konnte, hörte sie Schritte und Stimmen. Sie presste sich noch enger an die Wand und blieb stocksteif stehen.
»… bin ich froh, wenn es endlich losgeht«, hörte sie jemanden auf Niederländisch sagen.
»Und ich erst! Langsam kotzt es mich an, hier herumzulungern. Ich komme vor Langeweile fast um«, antwortete ein Landsmann.
»Herumlungern würde ich das, was wir hier tun, nicht nennen. Entweder zwiebelt uns Eegendonk, dass uns das Wasser im Arsch kocht, oder wir schieben nachts Wache. Dabei wird es langsam Zeit, dem Gesindel draußen beizubringen, wer hier das Sagen hat. Aber unsere Bonzen haben einfach nicht den Mut dazu.«
»Der Deutsche hat ihn. Deswegen mögen Zwengel und seine Freunde den Mann nicht. Das sind alles Hosenpisser, sage ich dir. Aber Sedersen packt zu! Du hast doch beim Abendessen auch die Nachrichten gesehen. Dieser Verräter van Houdebrinck wird uns nicht mehr in die Quere kommen.«
»Du tust ja gerade so, als würdest du am liebsten einen Moffen als unseren Anführer sehen!«, rief der andere Freischärler empört aus und erntete von seinem Kumpan ein schallendes Lachen.
»Willst du auf Dauer Zwengels Leibwächter spielen, mit dem einzigen Höhepunkt, gelegentlich mal einen Schwarzkopf vermöbeln zu können? Ich möchte höher hinaus, und das bedeutet derzeit, sich Sedersens Leuten anzuschließen. Das ist ein harter Haufen, sage ich dir! Die zucken nicht zurück, wenn es darum geht, jemanden umzulegen.«
»So wie die armen Hunde in Lauw? Bleib mir mit Sedersen und seinem Gesindel vom Leib. Das sind doch Killer und keine Patrioten!«
Die beiden Freischärler stritten noch, als sie außer Hörweite kamen. Henriette wartete noch einen Moment ab, dann rannte sie los. Erst unterwegs dachte sie wieder an die Scheinwerfer. Sie hatte jedoch Glück, denn sie konnte in dem Augenblick um die Ecke biegen, als einer der Lichtkegel die Stelle streifte, die sie eben passiert hatte.
Torsten erwartete sie bereits und hielt sie fest, damit sie nicht über eine auch mit dem Nachtsichtgerät nicht wahrnehmbare Kante stolperte. »Sie warten hier, bis ich einen Weg hineingefunden habe«, sagte er und rannte weiter. Als chinesischer Pizzabote verkleidet hatte er sich ein Bild von den Gegebenheiten verschaffen können und fand daher auf Anhieb eine Tür. Mit seiner kleinen Stablampe suchte er das Schlüsselloch und probierte einen ersten Dietrich aus. Er musste einen leichten Widerstand überwinden, dann gab das Schloss nach. Noch während er ins Innere schlüpfte, winkte er Henriette nachzukommen.
Kurz darauf standen sie in einer großen Halle, die vom Scheinwerferlicht, das durch Fenster unter dem Dach hereinfiel, in ein unruhiges Halbdunkel getaucht wurde. Auf den ersten Blick konnten sie ein paar Lkws und eine Reihe von Kleinbussen und Lieferwagen erkennen.
Als sie ein Stück hineinschritten, deutete Torsten auf einen wuchtigen Kranwagen am anderen Ende der Halle. »Der dürfte Wagner brennend interessieren!«
Er zog seine Kamera heraus und visierte das Fahrzeug an. Das Objektiv war empfindlich genug für Aufnahmen im Halbdunkel, denn ein Blitz hätte sie verraten können.
Während Torsten den gesamten Wagenpark fotografierte, sah Henriette sich weiter um. Mit einem Mal stutzte sie, warf noch einen zweiten Blick in eine Ecke, in die nur hie und da ein wenig Licht fiel, und zupfte ihren Begleiter am Ärmel. »Stehen dort hinten nicht zwei Container?«
Torsten drehte sich um und sah die Kästen nun ebenfalls. »Tatsächlich! Gut aufgepasst, Leutnant. Bleiben Sie jetzt hier, und decken Sie notfalls meinen Rückzug. Ich will sehen, ob ich ein paar Fotos von den Containern machen kann.«
Ohne Henriettes Antwort abzuwarten, leuchtete Torsten mit dem dünnen Strahl seiner Stablampe den Weg in jene Ecke aus, um nicht über Kisten und Metallteile zu stolpern, die in diesem Teil der Halle herumlagen. Den dünnen Strahl konnte man von draußen nicht sehen, da die Suchscheinwerfer genügend Reflexe in der Halle erzeugten.
Einige Sekunden später hatte er die Container erreicht. Deren Türen standen offen, so dass er hineinsehen konnte. Zwar waren die Großbehälter teilweise entladen worden, aber es lagen noch genug Kisten darin herum, die ihm verrieten, dass sie jene Fracht enthalten hatten, die für Somaliland bestimmt gewesen war. Als mehrere Scheinwerfer gleichzeitig die Halle trafen, schoss er ein paar Fotos und kehrte dann zu Henriette zurück.
»Wäre Belgien ein normales Land, könnten wir jetzt verschwinden, Wagner informieren und gemütlich zusehen, wie die Kerle hier eingebuchtet werden. Da wir aber nicht wissen, wer hier noch Freund ist und wer mit den Freischärlern sympathisiert, müssen wir auf eigene Faust handeln.«
»Was haben Sie vor?«, fragte Henriette.
Torsten wies in Richtung der Villa. »Ich will mich im Wohnhaus umsehen. Bleiben Sie inzwischen hier!«
»Und wer deckt Ihren Rückzug, wenn die Kerle Sie entdecken? «
»Das ist ein Argument. Kommen Sie!« Torsten öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinaus. In dem Augenblick, in dem draußen Dunkelheit herrschte, verließ er die Halle und eilte weiter.
Henriette rannte hinter ihm her. Die Kletterkissen an Knien und Armen behinderten sie, doch sie hatten nicht gewagt, die Dinger abzunehmen und in einem Versteck zurückzulassen. Behielten sie sie an, waren sie jederzeit in der Lage, über die nächste Mauer zu klettern.