ZWANZIG
Torsten wies auf die Parkplätze, die sich zwischen den beiden Fahrbahnstreifen befanden, was Henriette noch nirgends gesehen hatte. »Stellen Sie den Wagen dort ab, Leutnant. Von hier aus ist es nicht mehr weit.«
Henriette blickte misstrauisch auf die langen Reihen von parkenden Autos und fragte sich, wo sie eine Lücke finden sollte. Sie wurde langsamer und verärgerte damit einen einheimischen Autofahrer. Dieser versuchte sich an ihr vorbeizuschieben. In dem Augenblick entdeckte sie eine freie Stellfläche, blinkte und zog den Wagen herum. Der andere Fahrer stieg auf die Bremse, machte eine beleidigende Geste mit der Hand und fuhr dann rechts mit Vollgas an ihnen vorbei.
»Depp!«, kommentierte Torsten das Verhalten des Holländers.
Henriette zuckte mit den Achseln. »Idioten gibt es überall, warum also nicht auch in den Niederlanden?«
Sie hielt den Wagen an und zog die Handbremse. »Da sind wir. Also, wo kann man hier Poffertjes bekommen?«
»Oben auf der Strandpromenade gibt es mehrere Lokale, in denen das Zeug gemacht wird.« Während Torsten ausstieg, amüsierte er sich insgeheim über seine Begleiterin, die unbedingt diese Zwerg-Pfannkuchen essen wollte. Dabei lief ihm bei dem Gedanken an einen Pfannkuchen mit Speck ebenfalls das Wasser im Mund zusammen.
»Ich glaube, wir haben es besser getroffen als die Leute, die heute schon wieder in dieser öden Veranstaltung herumhocken. Es war schon gestern nervig genug, diesem endlosen Geschwätz von Typen zuhören zu müssen, die sich in erster Linie gerne selbst reden hören. Das wollte ich uns nicht noch einmal antun«, sagte er, während sie nebeneinander den leicht ansteigenden Gehsteig hochgingen.
»Dann wollen wir hoffen, dass Major Wagner keinen minutiösen Bericht von uns verlangt.« Auch wenn Henriette das Symposion für ebenso langatmig und ermüdend hielt wie Torsten, fühlte sie sich unsicher. Ihre Art von Pflichtauffassung war es nicht, berufsbedingte Veranstaltungen zu schwänzen.
»Sollte Wagner auf einem Bericht bestehen, wird Petra uns die Redetexte aus dem Internet ziehen. Aber jetzt habe ich keine Lust mehr, an diesen Schmarrn zu denken. Ich habe Hunger.«
»Ich auch!«, sagte Henriette und blieb vor dem Schaufenster eines Modegeschäfts stehen. Eine grüne Bluse hatte es ihr angetan, und sie sah zu ihrem Begleiter auf.
»Halten Sie Ihren Hunger noch so lange aus, bis ich mir dieses Stück gekauft habe?«
»Wenn Sie zu lange brauchen, hole ich mir in der Passage eine Matjessemmel. Darauf habe ich nämlich auch Appetit.«
»Sie könnten schon vorgehen. Ist das dort vorne die Passage? Gut, dann treffen wir uns am Eingang. Bis gleich!« Henriette betrat schnell das Geschäft, ehe Torsten widersprechen konnte. Während er kopfschüttelnd weiterging, dachte er, dass Frauen doch alle gleich waren. Ihre Gedanken drehten sich in erster Linie um Mode und Kosmetik. Ihr Job kam erst an zweiter Stelle. Die einzige Ausnahme, die er kannte, war Petra. Der machte es nichts aus, wahllos in ihren Kleiderschrank zu greifen. Allerdings fanden sich dort nur eine einzige Sorte Jeans, etliche T-Shirts und ein paar Pullover.
Bis jetzt hatte er geglaubt, in Leutnant von Tarows Kleiderschrank würde es nur Uniformen geben, doch Irren war nun einmal menschlich. Er lachte amüsiert auf, tauchte in die Einkaufspassage von Kijkduin ein und erreichte nach kurzer Zeit das Fischgeschäft.
Er hatte sein Matjesbrötchen gerade bestellt, da stand Henriette schon neben ihm und hielt eine Plastiktasche in der Hand, in der sich dem Umfang nach mehr befinden musste als nur eine Bluse. Wie es ihr gelungen war, das alles in der kurzen Zeit einzukaufen, war ihm ein Rätsel.
Henriette wartete geduldig, bis Renk seinen Matjes erhalten hatte. Während er aß, sah sie sich ein wenig in der Passage um. Es gab Läden, in denen verschiedenste Delikatessen verkauft wurden, Modegeschäfte und mehrere Restaurants. Aber in keinem wurden Poffertjes angeboten.
»Nicht so unruhig, Frau Tarow. Sie kommen schon noch an die Futterkrippe.« Torsten stopfte sich den Rest des Matjesbrötchens in den Mund, warf die Serviette in den Mülleimer und schritt kauend voran. Es ging eine Treppe hoch, und dann sah Henriette das Meer vor sich.
Torsten blieb auf der Uferpromenade stehen und zeigte nach Westen. »Irgendwo dort drüben liegt England!«
»Das mich im Augenblick weitaus weniger interessiert als Poffertjes.« Henriette drehte sich um und sah an den dem Meer zugewandten Fassaden entlang. Hier gab es ebenfalls eine ganze Reihe von Gasthäusern, doch zumindest beim ersten stand nichts auf der Speisekarte, das sie reizte.
»Das, was Sie suchen, liegt fast am anderen Ende der Promenade«, erklärte Torsten und strebte selbst in die Richtung. Der salzige Matjeshering war zwar nur ein Bissen für den hohlen Zahn gewesen, aber zum ersten Mal seit langem fühlte er sich mit sich im Reinen. Es war schön, noch einmal an diesen Ort gekommen zu sein, und es tat auch nicht mehr weh, dabei an Andrea zu denken, die ihn damals begleitet hatte. Sein Blick schweifte nach Norden. Dort ragte die Seebrücke ein ganzes Stück ins Meer hinaus. Sie schien zum Greifen nahe. Dennoch hätten sie einige Kilometer fahren müssen, um sie zu erreichen. Allerdings war sie in diesen Tagen nur zu Fuß erreichbar, denn die Gegend dort wurde wegen des Symposions strikt abgesperrt. Nur hier in den Vororten war es noch möglich, das Auto zu benutzen. Aus dem Grund hatte Torsten auch Kijkduin als Ziel ihres kleinen Ausflugs vorgeschlagen.
»Hier gibt es Poffertjes!« Henriettes Ausruf beendete Torstens gedanklichen Ausflug.
»Wollen wir hineingehen, oder setzen wir uns ins Freie?«, fragte er.
Henriette musterte die von einer Glaswand umschlossene Terrasse und zeigte auf einen freien Tisch an der Ecke. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich gerne dorthin setzen. Von da haben wir einen herrlichen Blick auf das Meer.«
Sie ist also doch romantisch, stellte Torsten kopfschüttelnd fest.
»Wenn Sie hier nichts finden, das Ihnen schmeckt, gehen wir eben weiter.«
Erneut riss ihn eine Bemerkung von Henriette aus seinem Sinnieren. Er starrte sie an und sah, dass sie ihm die Speisenkarte hingelegt hatte. »Entschuldigen Sie, ich war gerade in Gedanken. Was haben Sie gesagt?«
»Ich wollte wissen, ob Ihnen etwas auf der Karte zusagt, und da haben Sie den Kopf geschüttelt.«
Sie klang so enttäuscht, dass Torsten ein schlechtes Gewissen bekam. »Ich sagte ja, dass ich in Gedanken war. Ich habe noch gar nicht auf die Karte geschaut.«
»Dann wird es Zeit, denn die Kellnerin kommt schon.«
»Ich muss nicht lange suchen. Ich möchte einen Speckpfannkuchen, ein Wasser und einen Tee.« Torsten lehnte sich entspannt zurück und sah zu, wie seine Begleiterin zwischen mehreren Poffertjesvariationen schwankte und sich schließlich für die mit Eierlikör entschied.
»Wenn ich danach noch Hunger habe, kann ich auch noch etwas anderes nehmen«, sagte sie lächelnd und blickte auf die Promenade hinaus.
»Es gefällt mir hier, Herr Renk. Danke, dass Sie mich hierhergebracht haben.«
»Keine Ursache. Ich sitze auch lieber hier, als mir die furztrockenen Reden irgendwelcher selbsternannter Experten anhören zu müssen, von denen jeder die Patentlösung für alle Probleme der Menschheit zu kennen meint. Nur ist leider keine Einzige davon auch nur entfernt brauchbar.«
»Wenn ich Ihnen so zuhöre, könnte ich fast meinen, Sie hätten jeden Idealismus verloren!«
Torsten zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist das so. Ich habe auf meinen Auslandseinsätzen Dinge erlebt, von denen die Herrschaften, die sich in Den Haag versammelt haben, nichts zu wissen scheinen. Die können sich offensichtlich nicht einmal vorstellen, dass es so etwas gibt.«
»Halten Sie Veranstaltungen dieser Art für sinnlos?«
»Nicht grundsätzlich. Es ist schon richtig, wenn Vertreter der verschiedenen Länder und politischen Gruppierungen miteinander reden. Die Problemlösung muss jedoch vor Ort geschehen. Dort lässt sich nur selten etwas, was woanders geplant wurde, sinnvoll umsetzen. Das verhindern schon die örtlichen Machthaber oder andere Gruppierungen. Diese sind für die eine Seite Terroristen und für die andere Freiheitskämpfer, die auch unschuldige Opfer hinnehmen müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Doch im Grunde geht es allen nur um den eigenen Vorteil.«
Henriette blickte ihn interessiert an. »Also hatten Sie einmal Ideale, wurden aber von der Wirklichkeit enttäuscht.«
»Im Moment habe ich jedenfalls mehr Hunger als Ideale. « Torsten grinste und wies mit einer weit ausholenden Handbewegung auf das Meer. »In Augenblicken wie diesen weiß man, dass es sich lohnt zu leben. Andrea hat diesen Ort sehr gemocht. Wir wären auch wieder hierhergekommen, wenn …« Er brach ab.
»Wenn was?«, bohrte Henriette nach.
»Wenn die Sache damals nicht passiert wäre.«
Henriettes Neugier war zu groß, um über die Bemerkung hinweggehen zu können. »Haben Sie sich getrennt?«
»Andrea wurde ermordet!«
»Oh! Das tut mir leid. Ich wollte wirklich nicht … Entschuldigen Sie meine dumme Frage.« Henriette schämte sich so, dass ihr selbst die heiß geliebten Poffertjes nicht mehr schmecken wollten.
»Das braucht Ihnen nicht leidzutun. Sie können nichts dafür. « Torsten schüttelte sich kurz, als müsste er alten Ballast abwerfen, sah dann einen neuen Gast eintreten und kniff die Augen zusammen. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Gleichzeitig spürte er, wie es in seinem Nacken kribbelte.
Der Neuankömmling sah sich kurz um und setzte sich an den Nebentisch, der gerade frei geworden war.
Torsten lächelte breit und sah Henriette an. »Du wolltest doch noch die Poffertjes mit Erdbeeren, Schatz, und ich hätte noch gerne einen zweiten Speckpfannkuchen.«
Von einem Augenblick zum anderen verwandelte Torsten sich von dem Kollegen, der auf Abstand bedacht war, zu einem munteren Touristen, der mit seiner Frau oder Freundin einen schönen Tag verleben wollte.
Henriette wirkte nur eine Sekunde lang verblüfft, dann ging sie auf das Spiel ein und sah vorsichtig zum Nebentisch. »Das ist doch Caj Kaffenberger, dessen Ehefrau mit dieser scheußlichen Waffe umgebracht worden ist«, flüsterte sie.
Torsten starrte auf die Speisekarte und nickte, als habe er dort etwas entdeckt. »Danke! Ihr Gedächtnis ist besser als das meine«, antwortete er genauso leise, um dann in fröhlichem Tonfall die Kellnerin an den Tisch zu rufen.
Während er bestellte, fragte er sich, warum sein Sinn für gefährliche Situationen ihn warnte. Ein Mann wie Kaffenberger hatte jedes Recht, nach Kijkduin zu kommen und hier ein Glas Bier zu trinken. Zum sichtlichen Missgefallen der Bedienung bestellte der Mann sonst nichts.
»Oh, Liebling, was machen wir denn anschließend?« Henriette versuchte, den Schein des Urlaubspaares aufrechtzuerhalten, auch wenn sie nicht begriff, weshalb Renk auf einmal darauf erpicht war, sich länger im Lokal aufzuhalten.
Unterdessen versuchte Torsten sich zu erinnern, in welchem Zusammenhang ihm Kaffenberger sonst noch aufgefallen war. Es konnte nicht allein daran liegen, dass dessen Frau durch ein Geschoss aus einem SG21 den Tod gefunden hatte. Als aber ein hagerer Mann mit schmalem Gesicht und kurzen, weißblonden Haaren eintrat und an Kaffenbergers Tisch Platz nahm, dämmerte es ihm. Der neue Gast war Frans Zwengel, ein flämischer Politiker vom äußersten rechten Rand, der mit aller Macht Flanderns Loslösung vom Königreich Belgien anstrebte. Nun erinnerte Torsten sich, dass Kaffenberger eine gewisse Nähe zur rechtsradikalen Szene in Deutschland nachgesagt wurde. Zwar hatte der Industrielle sich nie offen zu den Rabauken um Rudi Feiling und dessen Epigonen bekannt, aber die Geheimdienste wussten, dass er die Leute mit Geld und anderen Maßnahmen unterstützte.
Als Nächster gesellte sich ein Mann zu den beiden, den Torsten trotz allen Nachdenkens nicht einordnen konnte. Nun begannen die drei ein leises, auf Deutsch geführtes Gespräch. Dabei bedienten sie sich eines Codesystems, das einem unbeteiligten Zuhörer nicht aufgefallen wäre.
Torsten filterte jedoch einige Worte heraus, die ihn misstrauisch werden ließen. Daher holte er sein Handy heraus, mit dem er nicht nur telefonieren, fotografieren und ins Internet gehen, sondern auch Tonaufnahmen machen konnte. Er verbarg das Gerät in der Hand, drehte es aber so, dass er die drei Männer damit belauschen und heimlich fotografieren konnte. Dabei gab er sich alle Mühe, nicht aufzufallen, und richtete scheinbar seine ganze Aufmerksamkeit auf Henriette. Sie unterhielten sich leise und mit einigen Pausen, um die Tonaufnahme nicht zu überlagern, und als die Bedienung ihre nachbestellten Portionen gebracht hatte, begannen sie genüsslich zu essen.
Nach einer Weile schienen die drei Männer sich einig geworden zu sein. Kaffenberger zahlte die Zeche für alle, dann verschwanden sie in verschiedene Richtungen, und keiner, der ihnen auf der Promenade begegnete, hätte angenommen, dass die drei ein paar Minuten vorher noch an einem Tisch gesessen und eifrig miteinander diskutiert hatten.
»Können Sie mir sagen, was das Ganze sollte?«, fragte Henriette, die mit ihrer zweiten Portion Poffertjes kämpfte.
»Noch weiß ich es nicht. Aber Petra wird uns hoffentlich bald mehr sagen können.« Torsten schob seinen fast leeren Teller zurück, nahm sein Handy, wählte Petras Nummer an und sandte ihr die Fotos wie auch die Tonaufnahme.