NEUN

Die Pensionswirtin hatte das Essen in ihrem Wohnzimmer aufgetragen. Der Raum wurde von einer voluminösen Kredenz beherrscht, auf der allerlei Nippes aus verschiedenen Regionen Belgiens stand. Darüber hing ein großes, helles Kruzifix, das von den Bildern des vormaligen Königspaares Baudouin und Fabiola sowie des jetzigen Königs Albert II. und seiner Frau Paola flankiert wurde. Mit einem gewissen Respektsabstand zierten auch andere Fotos die Wand, auf denen die Hausherrin in jungen Jahren sowie ein honorig wirkendes älteres Paar zu sehen war.

In der Mitte des Raums befanden sich ein wuchtiger Ausziehtisch, vier hochlehnige Stühle sowie ein Sofa, das zwei Personen Platz bot.

Frau Leclerc forderte Henriette und Torsten auf, Platz zu nehmen, und verteilte das Essen. Dabei half ihr eine ältere Frau. »Das ist meine Nachbarin«, erklärte sie. »Sie ist eine bessere Köchin als ich und hat heute für mich gekocht. Wenn nur wir zwei uns an den Tisch hätten setzen können, wäre sie sehr enttäuscht gewesen.«

»Es ist schon ein Kreuz mit unserem Belgien, dass nicht einmal mehr die Züge fahren«, sagte die Nachbarin in ihrem stark vom Dialekt eingefärbten Niederländisch.

Torsten hatte Probleme, sie zu verstehen, während Henriette ihr ganz selbstverständlich antwortete. Als er sie verwundert ansah, lächelte sie. »Ich war als Kind ein Jahr lang Gastschülerin in Hasselt. Damals habe ich die Sprache gelernt und bemühe mich seither, sie immer wieder zu sprechen.«

»Sie waren hier bei uns in Flandern? Das ist aber schön!« Falls Frau Leclerc Vorbehalte gegen die junge Halbasiatin gehegt hatte, so waren diese jetzt verschwunden. Sie und ihre Nachbarin verwickelten Henriette in ein Gespräch, das so munter dahinplätscherte, dass Torsten ihm nur mit Mühe folgen konnte.

Nun ärgerte er sich über seine Begleiterin, die ganz so tat, als wären sie wirklich zur Sommerfrische hier, und wollte sie mehrfach bremsen. Doch gegen die Phalanx der drei Frauen kam er nicht an.

»Kommen Sie, nehmen Sie doch noch mal von dem Soufflé«, forderte Frau Leclerc ihn auf.

»Danke, es schmeckt wirklich ausgezeichnet. Darf ich Sie etwas fragen?«

»Natürlich«, antwortete die Pensionswirtin, während sie ihm eine große Portion auf den Teller wuchtete. »Es sind übrigens auch noch Fritten da. Hausgemacht natürlich, nicht das Zeug aus dem Supermarkt.«

»Ich hätte gerne auch noch welche!« Henriette hatte sich zunächst nur eine kleine Portion der fettglänzenden Kartoffelstäbchen genommen. Die schmeckten ihr aber derart gut, dass sie auf Nachschlag hoffte.

Mit ihrer Bitte kam sie jedoch Torsten in die Quere, der die Wirtin eben nach den Leuten in der Fabrik ausfragen wollte. Doch Frau Leclerc verschwand erst einmal in der Küche. Als sie zurückkehrte, war die große Schüssel wieder voll mit Pommes frites.

Sie füllte Henriettes Teller und sah dann Torsten an. »Sie wollen doch sicher auch noch welche.«

Torsten nickte, obwohl er das Gefühl hatte, bald zu platzen. »Danke! Aber noch einmal zu meiner Frage …«

»Ihr Glas ist leer. Wollen Sie noch einen Saft, oder soll ich Ihnen nicht doch ein Bier bringen?«, unterbrach ihn seine aufmerksame Gastgeberin.

»Nein, danke! Saft reicht.«

Torsten erntete von seiner Gastgeberin einen verwunderten Blick. Anscheinend kam sie nicht darüber hinweg, dass ein Mann wie er ein Bier ablehnen konnte. Sie goss ihm Apfelsaft ein, und auch Henriette bekam welchen.

Als Torsten nun seine Frage stellen wollte, kam Henriette ihm erneut zuvor. »Als wir vorhin die Straße entlanggefahren sind, ist uns ein Autofahrer entgegengekommen, der die ganze Fahrbahn für sich beansprucht und mich gezwungen hat, unseren Wagen in eine Einfahrt zu lenken.«

»Das war sicher wieder einer der Kerle von da drüben.« Frau Leclerc machte eine Kopfbewegung in Richtung Flughafen.

»Das sind keine guten Leute«, setzte ihre Nachbarin hinzu. »Früher war es hier besser, aber seit dieser Deutsche sich dort eingekauft hat …« Dann besann sie sich auf die Nationalität der Gäste und lächelte verlegen. »Nicht, dass Sie denken, ich hätte etwas gegen Deutsche. Ich will auch nichts gegen den neuen Besitzer der Villa sagen, sondern bin nur mit seinen Angestellten nicht einverstanden. Bei denen handelt es sich um Flamen und Niederländer, müssen Sie wissen, und die führen sich hier auf, als gehörte ihnen die ganze Gegend. Wenn einer nur ein Wort gegen sie sagt, durchstechen sie ihm die Reifen seines Autos oder verprügeln ihn.«

»Ich sage, das sind Kerle von der Vlaams Fuist!«, ergriff Frau Leclerc wieder das Wort. »Natürlich darf man das nicht offen sagen. Die Leute haben zwar einen hohen Zaun um das ganze Gelände gezogen, aber man kann trotzdem sehen, was sie dort machen. Die Kerle sind bewaffnet, und manchmal hört man sie schießen.«

Ihre Nachbarin hob warnend den Zeigefinger. »Gehen Sie diesen Leuten lieber aus dem Weg. Die haben einen unserer besten Ärzte von hier vertrieben, weil er dunkelhäutig war. Seine Eltern stammten aus dem Kongo, müssen Sie wissen.«

»Sie haben ihn und seine Familie bedroht, und deswegen musste er den Ort verlassen.« Frau Leclerc seufzte in Erinnerung an den von ihr hochgeschätzten Hausarzt.

»Diese Leute sind ganz schlimm. Sie haben sogar Panzer!«

»Nun ist aber gut! Du willst doch unsere Gäste nicht erschrecken, sonst reisen sie womöglich gleich wieder ab«, wies Frau Leclerc ihre Nachbarin zurecht.

»Keine Sorge, wir bleiben.« Während Torsten seine Gastgeberin zu beruhigen versuchte, lobte er seine Begleiterin im Stillen. Leutnant von Tarow war es gelungen, mit einer scheinbar harmlosen Frage die beiden Frauen dazu zu bringen, Einzelheiten zu berichten. Jetzt wirkten sie erschrocken und baten ihre Gäste, ja nichts weiterzuerzählen.

»Keine Sorge, wir verraten schon nichts«, versprach Torsten und schüttelte dann in vermeintlichem Erstaunen den Kopf. »Warum tun denn die hiesigen Behörden nichts gegen diese Leute?«

»Die haben entweder Angst oder sind bereits von dem Gesindel unterwandert. Wenn heute eine Gruppe junger Burschen die Straße hochkommt und in meinem Haus alles kurz und klein schlägt, rührt kein Gendarm den Finger.« Frau Leclerc klang bedrückt.

Daher wechselte Torsten schnell das Thema. »Das Käsesoufflé und die Fritten waren ausgezeichnet. Ich habe schon lange nicht mehr so gut gegessen.«

Die Pensionswirtin und ihre Freundin sahen ihn mit leuchtenden Augen an. »Wirklich?«, fragte die Nachbarin.

Torsten nickte lächelnd. Um seine Worte zu unterstreichen, bohrte er seine Gabel in mehrere Fritten, tauchte diese in die Sauce und führte sie zum Mund.

»Mir hat es auch ganz wunderbar geschmeckt«, stimmte Henriette ihm zu.

Die beiden älteren Frauen sahen sich glücklich an. »Das freut mich«, erklärte die Pensionswirtin. »Aber Sie waren auch ganz hervorragende Gäste. Das muss auch gesagt werden. «

»Herzlichen Dank!« Henriette lächelte freundlich, während sie überlegte, wie sie das Essen abschließen könnte, um mit Torsten in Ruhe über all das reden zu können, was sie hier erfahren hatten. Sie hatte die Rechnung jedoch ohne ihre belgische Pensionswirtin gemacht.

»So, jetzt trinken wir noch eine Tasse Kaffee und essen Konfekt. Kennen Sie belgische Pralinen?«

»Ja«, sagte Torsten. »Die Dinger schmecken gut, aber man sollte hinterher jede Waage meiden.«

Frau Leclerc nickte lächelnd. »Nun, eine oder zwei werden Sie doch essen können!«

»Wir werden morgen eben ein wenig länger joggen.« Henriette freute sich auf den Kaffee und die Nachspeise, denn es erinnerte sie an zu Hause. Da sorgte ihre Mutter auch immer mit Kaffee und Konfekt dafür, dass die Gäste nicht gleich nach dem Essen vom Tisch aufsprangen. Als sie die erste Praline im Mund zergehen ließ, erschien es ihr skurril, dass weniger als einen halben Kilometer von dieser friedlichen Idylle entfernt Männer leben sollten, die über Leichen gingen.

Die geheime Waffe
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