DREIZEHN

Major Wagner betrachtete das bescheidene Ambiente des kleinen asiatischen Restaurants und runzelte die Stirn. »War es wirklich nötig hierherzukommen, Renk? Wir hätten auch in einem richtigen belgischen Restaurant mit den Spezialitäten der Region feiern können. Chinesen gibt es doch zu Hause mehr als genug.«

»Wenn das Essen schmeckt, ist es mir wurst, in welchem Lokal wir sind«, erklärte Petra, während sie die Karte studierte.

Um Torstens Lippen zuckte es. »Das Essen hier ist gut, Petra. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Und wir sind hier, weil ich es den Leuten versprochen habe.«

»Wenn Sie schon was versprechen«, knurrte Wagner.

»Dieses Lokal hat eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung von Sedersens Plänen gespielt«, gab Torsten gut gelaunt zurück und winkte dem jungen Chinesen, der sofort herbeieilte. »Was dalf ich den ehlenwelten Hellschaften blingen?« Chen musste sich dabei selbst das Grinsen verkneifen, zwinkerte dann aber Torsten zu. »Wenn Sie einmal einen Job brauchen, können Sie jederzeit zu uns als Ausfahrer kommen. Irgendwie sind Sie doch der bessere Chinese als ich.«

Wagners Ärger schwand, und er begann zu lachen. »Wegen mir können Sie diesen Kerl gleich hierbehalten. Ich wäre froh, ihn los zu sein.«

»Dann kündige ich aber auch und arbeite hier als Kellnerin! « Petra klang so empört, dass Wagner erschrocken zurückruderte.

»Um Gottes willen! Sie will ich um keinen Preis verlieren. Dafür nehme ich sogar Renk in Kauf. Aber jetzt sagen Sie, was wollen Sie essen?«

»Hummerkrabben«, antwortete Petra mit leuchtenden Augen, »und zwar so viele wie möglich!«

»Und Sie?«, fragte Wagner jetzt Henriette.

»Ich esse auch Hummerkrabben.«

»Ich ebenfalls«, sagte Hans Borchart. »Und dazu ein Bier!«

»Dann nehme ich auch die Hummerkrabben. Für den da«, Wagner zeigte mit dem Daumen auf Torsten, »reicht eine Schale mit trockenem Reis. Mehr hat er nicht verdient!«

»Also, Herr Major, da sind Sie aber ungerecht. Ohne Oberleutnant Renks Eingreifen wäre hier das Chaos ausgebrochen«, protestierte Henriette.

»Also meinetwegen. Geben Sie ihm ein bisschen Soße zum Reis!« Wagner atmete kurz durch und lehnte sich dann auf dem Stuhl zurück. Nachdem Chens Schwester die Getränke gebracht und sich wieder zurückgezogen hatte, hob er seinen Bierkelch und stieß mit den anderen an. »Erst einmal Prost! Ich bin froh, dass wir alle gesund zusammensitzen können. Eine Zeit lang sah es wahrlich nicht gut aus. Aber Sie alle haben Ihren Job gemacht, von Tarow und Renk ebenso wie Frau Waitl und Borchart. Ich bin zufrieden mit Ihnen.«

»Danke! Das aus Ihrem Mund zu hören ist eine besondere Freude für mich!« Torsten grinste und trank einen Schluck des Pfirsichbiers, das er sich aus Neugier bestellt hatte.

»Und? Kann man das trinken?«, wollte Borchart wissen. Er zog ebenso wie Wagner reines Trappistenbier vor.

»Es ist auf jeden Fall interessant – und sehr belgisch, muss ich sagen.«

»Pfirsichbier? Das muss ich auch mal probieren«, platzte Petra heraus.

Wagner verzog das Gesicht. »Einer Frau kann es vielleicht schmecken. Aber ein Mann sollte was Gescheites trinken.« Er wurde ernst und fixierte Torsten. »Hier hat sich also Sedersens Hauptquartier befunden.«

»Keine zwei Kilometer weiter südlich. Von der Pension aus, in der wir uns eingemietet hatten, konnten wir einen Teil des Flugfelds, der Hallen und der Villa überblicken, von der aus er seine Aktionen gestartet hat.« Torsten zog ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. Zusammen mit Henriette war er vorher noch kurz bei Frau Leclerc gewesen, um ihre Sachen und vor allem ihr Auto abzuholen, und sie hatten zuletzt die Flucht ergreifen müssen, um der redseligen Pensionswirtin zu entkommen.

»Wenigstens haben wir Sedersen und den Nachbau des SG21.« Wagner klang zufrieden, und als Chen ihm einen Riesenteller mit Hummerkrabben hinstellte, war er auch mit der Wahl des Lokals versöhnt.

»Endlich sind wir unter uns«, fuhr er fort und spielte damit auf die beiden Pissenlits an, die ihnen in Brüssel nicht von der Seite gewichen waren. Auch Jef van der Bovenkant vermisste er hier an diesem Tisch nicht. Um den kümmerte sich jetzt die belgische Armee, die verhindern sollte, dass ihr flämischer Held von seinen früheren Freunden umgebracht wurde.

Torsten sah seinen Chef interessiert an. »Also, was gibt es Neues?«

»Es ist uns gelungen, die Sache mit dem aus dem Nichts aufgetauchten Gewehr und den Morden in Deutschland lückenlos aufzuklären. Es geht alles auf Sedersens Konto. Er hatte die Waffenfabrik in Suhl gekauft, um die niederländischflämische Geheimarmee heimlich mit Waffen zu versorgen. Dann erhielt seine Fabrik, vermutlich über seine Beziehungen zu jenen Männern, die er dann ermordet hat, den Auftrag, das SG21 herzustellen, und er konnte seinen leitenden Ingenieur Mirko Gans dazu bringen, die Pläne zu kopieren und die Waffe heimlich nachzubauen. Gans muss ein Genie gewesen sein, sonst wäre ihm das niemals gelungen. Schade, dass er in die falschen Kreise geraten ist. Den Mann hätten wir gut brauchen können.«

»Warum wollte Sedersen das Gewehr? War er von Anfang an auf Attentate aus?«, fragte Henriette.

Wagner schüttelte den Kopf. »Nach dem, was wir beim Verhör von ihm erfahren haben, ging es ihm in erster Linie um Geld. Er wollte hier in Flandern eine Fabrik aufmachen und das Gewehr als eigene Entwicklung an gut zahlende Kunden verkaufen. Aber dann kamen die Hüter der Gerechtigkeit ins Spiel.«

»Was waren das für Kerle?«, wollte Torsten wissen.

»Zuerst ein exklusiver Zirkel. Die Mitglieder hatten seit ihrer Studienzeit zusammengehalten und waren bis auf Sedersen alle über siebzig. Er selbst war der Sohn eines verstorbenen Mitglieds und hat dessen Rang im Kreis geerbt. Nach einem Justizskandal in Berlin sprachen sie darüber, dass es jemanden geben müsse, der Gerechtigkeit übt. Es war im Grunde Stammtischgerede und hätte es auch bleiben können. Doch zwei Männer bohrten weiter. Der eine war Friedmund Themel, ein früherer Richter, der sich fürchterlich über die heutige Justiz ausgelassen haben muss, und der andere eben Sedersen. Dieser sah plötzlich die Chance, sein nachgebautes Gewehr, sozusagen als Vollstecker eines fremden Willens, an menschlichen Opfern ausprobieren zu können.«

»Der Mann kann nicht ganz dicht gewesen sein«, warf Borchart ein.

»Das sind solche Typen meistens nicht. Auf alle Fälle gelang es Sedersen und Themel, die drei anderen Mitglieder ihres Zirkels dazu zu bringen, nicht mehr nur von angeblicher Gerechtigkeit zu reden, sondern diese auch durchzusetzen. Gleichzeitig verstärkte Sedersen seine Beziehungen zu radikalen Kreisen in Flandern. Er hoffte, nach einem Auseinanderbrechen Belgiens dort absahnen zu können. Leute wie Frans Zwengel und die Immobilienmaklerin Giselle Vanderburg, die beide bei dem Anschlag in Berendrecht ums Leben gekommen sind, halfen ihm dabei. Caj Kaffenberger war ebenfalls mit von der Partie. Der Mann hat zwar den Anschlag in Berendrecht überlebt, wird aber die nächsten Jahre wegen Anstiftung zum Mord an seiner Ehefrau im Gefängnis sitzen.

Zwengel und dieser Niederländer Eegendonk wollten mit Sedersens Hilfe an die Macht kommen; der Vanderburg und anderen ging es um Geld und Einfluss. Zum Glück sind ihre Pläne gescheitert. Sonst hätte nicht zuletzt die Gefahr bestanden, dass sie in anderen Ländern Europas Nachahmer gefunden hätten, und danach wäre in der EU das Chaos ausgebrochen! «

»Das war aber eine lange Rede, Herr Major.« Torsten versuchte die Beklemmung, die sich in ihm breitgemacht hatte, mit dieser flapsigen Bemerkung zu vertreiben.

Wagner trank sein Bier aus und bestellte ein neues. Nachdem er es erhalten hatte, sah er Torsten und Henriette nachdenklich an. »Wir hatten Glück, verdammt viel Glück! Wenn ich Sie nicht nach Den Haag und später nach Breda geschickt hätte, wären wir diesen Kerlen nie auf die Spur gekommen. Unsere Aktion hat sie verunsichert. Nur weil Leutnant von Tarow und Sie Eegendonk und seinen Landsknechten auf den Fersen geblieben sind, haben die ihre Pläne überstürzt durchgeführt. Die Kerle hätten vielleicht sogar Erfolg haben können, wenn Sie mich nicht rechtzeitig gewarnt hätten. So konnte ich den Standortkommandanten der König-Albert-Kaserne dazu überreden, entgegen seiner Bedenken mit schwerem Gerät einzugreifen. Frau Waitl, Borchart und Sie beide haben das Ihre dazu beigetragen, dass es trotz der Opfer in Berendrecht und der Verluste in Laeken noch gut ausgegangen ist.«

»Eins will ich noch hinzufügen«, warf Hans Borchart ein und prostete Torsten zu. »Danke dafür, dass du die Ratte in unseren eigenen Reihen ausgeräuchert hast. Mentz war zwar ein eigenartiger Kerl, aber ich hätte ihm niemals zugetraut, dass er uns an solche Schweine wie Sedersen und Kaffenberger verkauft.«

»Warum hat Sedersen eigentlich die Waffencontainer stehlen lassen, wenn er doch selbst eine Waffenfabrik hatte?«, stellte Henriette die Frage, die ihr schon länger auf der Zunge lag.

»In seiner Fabrik wurden außer der Munition für das SG21 nur Pistolen gefertigt. Eegendonk aber verlangte schwere Waffen wie MGs, Flugabwehrraketen und Panzerfäuste. Die Sache mit den Containern ist zwar mit Sedersens Einverständnis geschehen, aber der eigentliche Initiator war Igor Rechmann. Schade, dass wir den Kerl nicht lebend in die Hand bekommen haben. Er hätte uns einiges über die Verflechtungen der rechten Szene verraten können. Rabauken wie dieser Lutz Dunker sind zwar lästig, aber mit denen werden wir fertig. Gefährlicher sind die Männer, die im Hintergrund bleiben und sich dieser Schläger bedienen. Das sind Leute, die Macht und Geld haben und beides skrupellos für ihre Ziele einzusetzen wissen. Sedersen und Kaffenberger sind nur zwei von ihnen. Aber ich fürchte, dass es noch etliche andere gibt. Doch die zu finden ist Gott sei Dank die Aufgabe unserer Kollegen vom BKA. Für uns ist die Sache erst einmal vorbei.«

Damit glaubte Wagner alles gesagt zu haben und widmete sich wieder seinen Hummerkrabben. Auch die anderen aßen weiter, und nach einer Weile hatte sich die Beklemmung, die der Bericht des Majors hinterlassen hatte, wieder verflüchtigt. Henriette lachte über einen Witz, den Hans Borchart erzählte, Wagner bestellte sich sein drittes Bier, und Petra ließ sich eine doppelte Portion gebackener Bananen mit Honig als Nachtisch schmecken.

Nach einer Weile wandte Wagner sich Henriette zu. »Sie haben wohl auch nicht erwartet, Leutnant, gleich bei Ihrem ersten Einsatz in unserem Team einen Orden zu bekommen.«

»Nein, gewiss nicht.«

»Haben wir überhaupt noch ein Team?«, fragte Torsten besorgt.

Der Major winkte lachend ab. »Man hat uns in Gnaden wieder aufgenommen. In Zukunft können wir sogar freier handeln als bisher. Allerdings sind wir fünf hier am Tisch vorerst unsere gesamte Mannschaft. Bei Bedarf können wir auf Kollegen aus anderen Abteilungen zurückgreifen. Aber jetzt reden wir nicht mehr vom Dienst. Wir haben Feierabend, Leute, und wir haben auch etwas zu feiern. Ohne uns wäre das SG21, dessen Entwicklung Millionen gekostet hat, über kurz oder lang in den Händen von gewissenlosen Schurken und Terroristen gelandet. Was meint ihr, was unsere Freunde in der Nato gesagt hätten, wenn diese Waffe in den Bergen Afghanistans und an anderen Orten gegen ihre Truppen eingesetzt worden wäre?«

»Jetzt haben aber Sie wieder vom Dienst angefangen«, sagte Henriette mit einem amüsierten Lächeln.

»Hört euch dieses Küken an. Es ist zwar noch nicht trocken hinter den Ohren, aber sonst vollkommen in Ordnung. Prost, Leutnant! Na, was wird Ihre Familie zu Ihrem blitzblanken belgischen Orden sagen?«

»Mein Vater wird sich freuen, der Ältere meiner Brüder dürfte ihn nicht ernst nehmen, und Michael wird sich vor Neid in den … äh, Hintern beißen.«

»Das vergönne ich ihm!« Torsten hob sein Glas und stieß mit Henriette an. »Auf Ihr Wohl, Leutnant!«

»Auf das Ihre, Herr Oberleutnant«, antwortete sie.

Petra sah die beiden an und schüttelte den Kopf. »Sagt bloß, ihr seid trotz allem, was ihr miteinander erlebt hat, noch immer nicht per du? Das muss anders werden!«

Für einen Augenblick stutzte Henriette, dann lachte sie auf. »Bei unseren Aktionen in Den Haag und hier in Balen waren wir per du, aber nur streng dienstlich.«

»Dann könnt ihr es auch jetzt sein! Oder bist du wirklich so ein Stoffel, Torsten?«

Dieser machte eine beschwichtigende Geste. »Petra, bitte! Aber wenn Leutnant von Tarow nichts dagegen hat, können wir das alberne Sie vergessen.«

»Also, ich habe nichts dagegen. Herr Oberleutnant, es wäre mir eine Ehre, wenn wir uns duzen würden.« Henriette deutete einen militärischen Gruß an und sah Torsten mit glitzernden Augen an. »Auf unseren nächsten Auftrag, Torsten!«

»Auf unseren nächsten Auftrag«, antwortete dieser und ertappte sich dabei, dass er sich darauf freute.

Die geheime Waffe
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