SIEBEN
Dennoch erreichte Torsten die Stadt Lingen so früh, dass er noch ein paar Stunden hätte schlafen können. Aber um zu vermeiden, dass ein weiterer Alptraum an seinen Nerven zerrte, zwang er sich, wach zu bleiben. Er hatte sein Auto nicht direkt auf dem Parkplatz neben dem Gefängnis geparkt, sondern ein paar Meter weiter in der Kaiserstraße.
Übermüdet, wie er war, fröstelte er in der Morgenkühle. Um sich aufzuwärmen, stieg er aus dem Auto und ging die Kaiserstraße mehrfach auf und ab, wobei er immer wieder einen Blick auf den Platz vor der Justizvollzugsanstalt warf. Dabei suchte er nach Stellen, von denen aus der Mordschütze einen Mann ins Visier nehmen konnte, der das Gefängnis verließ.
Gegen fünf Uhr morgens wurde es im Osten hell. Um nicht aufzufallen, beschloss Torsten, durch ein paar andere Straßen zu schlendern. Die Stadt erwachte. Menschen kamen aus den Häusern und hasteten die Gehsteige entlang, ohne Torsten mehr als einen beiläufigen Blick zu schenken. Die ersten Autos fuhren vorbei, und vor einer Verkaufsbude luden zwei Frauen Gemüsekisten aus einem Kleinbus. Torsten bekam Hunger. Doch ihm war nicht nach Obst, und so ging er weiter, bis er auf eine Metzgerei traf, die bereits geöffnet hatte. Die Verkäuferin füllte gerade die Auslage. Als er eintraf, unterbrach sie ihre Arbeit und fragte freundlich: »Was darf es denn sein?«
Torsten hatte Appetit auf Leberkäse, doch dafür war er einige Kilometer zu weit im Norden. »Geben Sie mir zwei Wurstsemmeln … äh, -brötchen oder wie sie hier heißen und eine Flasche Cola!« Kaffee wäre ihm zwar lieber gewesen, doch den gab es hier nicht.
Die Verkäuferin machte die Semmeln zurecht, steckte sie in eine Tüte und stellte sie zusammen mit einer Colaflasche auf die Verkaufstheke. »Vier Euro fünfzig, bitte.«
Torsten kramte in seinem Geldbeutel, fand aber nicht genug Kleingeld und reichte ihr einen Fünfeuroschein. »Stimmt so!«
Er kehrte zu seinem Auto zurück, setzte sich hinein und begann zu essen, wobei er stets die Umgebung im Auge behielt. In der Straße und auf dem Parkplatz waren weitaus mehr Autos unterwegs als vorher, die meisten hatten das Gefängnis zum Ziel. Torsten nahm an, dass es sich um Vollzugsbeamte handelte, die dort Dienst taten. Einige warfen seinem Wagen fragende, wenn nicht sogar abweisende Blicke zu. Möglicherweise hielten sie ihn wegen seines Münchner Kennzeichens für einen Journalisten auf der Suche nach einer guten Story.
Torsten legte seinen Feldstecher bereit. Nun spürte er, wie die Anspannung, die während des Laufens ein wenig nachgelassen hatte, mit voller Wucht zurückkehrte. Sein Jagdtrieb war erwacht, und er betete schier darum, dass der Kerl, der das modernste Gewehr der Bundeswehr gestohlen hatte, hier erscheinen würde.
Dabei ging es ihm nicht allein um die Morde. Jeder, der diese Waffe an die Amerikaner, Russen oder Chinesen verkaufen konnte, hatte für den Rest seines Lebens ausgesorgt. Auch um das zu verhindern, musste die Waffe unbedingt sichergestellt werden.
In Gedanken versunken hatte er nicht auf die Zeit geachtet. Daher schreckte ihn der Stundenschlag vom Kirchturm auf. Acht Uhr. Ein paar Autos fuhren an ihm vorbei, doch keiner schien sich für das Tor der Justizvollzugsanstalt zu interessieren.
Die Minuten vergingen. Torsten fragte sich, ob der Müllkönig das Gebäude bereits verlassen hatte oder ob die Gefängnisleitung doch bis vierzehn Uhr warten wollte. Wenn das der Fall war, würde er sich ein Café suchen und ausgiebig frühstücken.
Auf einmal schreckte ihn der Klang eines schweren Automotors auf. Ein großer Wagen schoss aus der Georgstraße, wurde langsamer und blieb vor dem Tor der Justizvollzugsanstalt stehen. Ein Mann stieg aus und öffnete die dem Gebäude zugewandte, hintere Tür. Beinahe gleichzeitig trat ein groß gewachsener Mann in einem dunkelblauen Anzug aus dem Gefängnistor und stieg in die Limousine ein. Der andere Mann schloss die Autotür und nahm neben dem Fahrer Platz. Dieser gab sofort Gas und raste davon.
Kein Schuss war gefallen. Torsten spürte die Enttäuschung und nahm sich vor, Petra nach seiner Rückkehr kräftig aufzuziehen. Doch als er den Wagen startete, entschloss er sich dennoch, der Limousine des Müllkönigs zu folgen. An der Abzweigung, die der Wagen genommen hatte, war das Fahrzeug nur noch in weiter Ferne zu sehen. Der Chauffeur legte ein Tempo vor, das nicht mit der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit innerhalb einer geschlossenen Ortschaft vereinbar war, und als Torsten Gas gab, stieg sein Tacho auf über siebzig Stundenkilometer, ohne dass er einen Meter aufholte.