SIEBZEHN
Das Klingeln des Haustelefons riss Jef aus den Gedanken. Er schnappte nach dem Hörer. »Hier van der Bovenkant. «
»He Jef, bring acht Bier und einen Cognac herauf!«
Bei diesen herrischen Worten ballte der junge Flame in hilfloser Wut die Rechte. In den letzten Stunden hatte er sich überlegt, wie er Sedersen und dessen Bande in die Suppe spucken könnte. Doch seine Möglichkeiten waren einfach zu gering. Zusammen mit Eegendonks Niederländern verfügte der Deutsche über fast zweihundert Mann, von denen etliche gezeigt hatten, dass es ihnen weniger ausmachte, einen Menschen zu töten als ein Huhn.
Während Jef die Getränke einschenkte, wünschte er sich, Gift zu haben, das er hineinmischen konnte. Aber er hatte rein gar nichts, nur seine Wut auf diese Leute und eine fürchterliche Angst.
Trotzdem goss er in eines der Gläser Kriek, von dem er wusste, dass keiner der Deutschen es mochte. Auch die Niederländer lehnten die meisten belgischen Biersorten ab und forderten von ihm Biere aus ihrer Heimat. Doch damit konnte er ebenso wenig dienen wie mit Chips, Erdnüssen und ähnlichen Knabbereien. Er durfte das Gelände nicht verlassen, um im Ort einzukaufen, und Dunkers und Eegendonks Leute waren zu faul dazu. Sie ließen sich die Getränke und das fertige Essen lieber von Chens chinesischem Restaurant und anderen Lokalen bringen.
»Vielleicht schaffe ich es, Chen eine Warnung zukommen zu lassen«, sagte sich Jef. Einen Bleistiftstummel hatte er in einer der Schubladen in der Küche gefunden. Er brauchte jetzt nur noch einen Fetzen Papier. Es konnte auch die Rückseite eines Bieretiketts sein, dachte er, legte eine Flasche ins Spülbecken und ließ Wasser ein. Dann nahm er das Tablett mit den Gläsern und stieg die Treppe zu Rechmanns Zimmer hinauf.
Auf sein Klopfen machte ihm einer von Dunkers Schlägertypen auf. Der Mann sah das Glas mit dem roten Kriek und nahm rasch ein anderes für sich. Auch Dunker, Maart und einige andere mieden das Kriek, bis dieses allein auf dem Tablett stand.
Sedersen roch bereits an seinem Cognac, als auch Rechmann zugriff und ohne hinzusehen einen tiefen Zug nahm. Zuerst schien er nicht einmal zu merken, was er trank, dann aber sah er die rote Flüssigkeit in dem Glas und fuhr auf. »Verdammter Idiot! Ich habe dir hundertmal gesagt, dass du deine belgische Brühe selber saufen kannst!«
Jef stellte sich dumm. »Ich muss nehmen, was da ist.«
Rechmann sah noch einmal das Glas an und schüttete ihm den Inhalt ins Gesicht. »So, und jetzt bringst du mir ein richtiges Bier, verstanden? Sonst prügle ich dich die Treppe hinunter, bis du keinen gesunden Knochen mehr im Leib hast.«
Da Jef dem Mann zutraute, seine Drohung wahrzumachen, sauste er davon. Das Lachen der anderen begleitete ihn, bis er wieder in der Küche war. Dort wischte er sich mit einem Lappen das Gesicht trocken und sah dann an sich hinab. Auf seinem weißen T-Shirt, das mit einem Ausspruch Zwengels bedruckt war, zeichneten sich rote Flecken ab, die ihn fatal an Blut erinnerten.
Seine Hände zitterten, als er eine Biersorte aus dem Kühlschrank zog, die Rechmann mochte. Auch Jef hatte das gerne getrunken – bis jetzt.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. »Ja, was ist?«
»Bring noch mal fünf Bier, aber diesmal richtiges, sonst setzt es was. Ach ja, Herr Sedersen will noch einen Cognac.« Es war Dunker, der sich in Jefs Augen seit seiner Ankunft von einem schmutzigen Ferkel zu einem ausgemachten Schwein entwickelt hatte.
»Ich komme gleich!«, schrie er in die Muschel, legte auf und füllte die Gläser.
Als er kurz darauf erneut in Rechmanns Zimmer trat, sprach er Dunker an. »Das Bier wird langsam alle. Entweder wird bald neues bestellt, oder ihr müsst das trinken, was noch da ist.« Das waren vor allem die speziellen belgischen Biersorten wie Kriek, Framboise, Gueuze und andere, die von Rechmann und den anderen Kerlen als Jauche bezeichnet wurden.
»Wir bleiben nicht mehr lange. Daher lohnt es sich nicht, noch groß Vorräte anzulegen«, erklärte Sedersen kühl.
»Ein paar Tage wird es noch dauern!« Rechmann hatte keine Lust, auf sein Bier zu verzichten. Dann beugte er sich wieder über seinen Plan und zeigte mit einem Bleistift auf einen Punkt. »Das ist die entscheidende Stelle. Hier müssen alle vorbei, die zum Friedhof wollen. Wenn wir da eine Bombe anbringen, können wir die ganze Königsfamilie auf einen Schlag erledigen.«
»Glaubst du, du schaffst das? Da der König und seine Familie anwesend sind, wird man jeden Quadratzentimeter durchsuchen. « Sedersen hätte die Sache am liebsten auf seine Weise gelöst, doch er wusste, dass er dabei nur ein Mal treffen würde. Bevor er zu einem zweiten Schuss kam, würden die Bodyguards ihre restlichen Schützlinge in Deckung gebracht haben. Diesen Nachteil wog auch das Gefühl, den König von eigener Hand getötet zu haben, nicht auf. Er stellte sich neben seinen Stellvertreter und sah auf die Karte.
Rechmann zeigte auf den Parkplatz vor dem Friedhof und grinste. »Lassen Sie mich nur machen, Chef. Ich verspreche Ihnen, dass ich die ganze Bagage erwische.«
Nicht, wenn ich es verhindern kann, fuhr es Jef durch den Kopf. Er blickte an Sedersen vorbei auf den Plan, konnte aber den Ortsnamen nicht lesen, weil Rechmanns leeres Glas darauf stand. Kurzerhand nahm er eines der vollen Gläser und tauschte es gegen das andere aus.
»He, was soll das?«, fuhr Rechmann auf.
»Ich habe nur ein neues Bier gebracht, so wie Sie es verlangt haben!« Jef gelang es sogar, beleidigt zu klingen.
Rechmann winkte ab und vergaß den Flamen im nächsten Moment. Jef zog sich bis an die Tür zurück, blieb dort aber stehen, als wartete er auf neue Anweisungen. Jetzt, da er den Namen des Ortes kannte, in dem Rechmann seinen Anschlag plante, konnte er die Puzzlesteine zusammenfügen. Die Tat sollte auf Gaston van Houdebrincks Beerdigung stattfinden. Diesen Kerlen war wahrlich nichts heilig. Gleichzeitig begriff Jef, dass bei einem solchen Attentat nicht nur die Königsfamilie sterben würde, sondern auch viele andere Trauergäste, die dem Toten die letzte Ehre erweisen wollten.
»Was machen wir eigentlich mit den beiden im Keller? Brauchen wir sie noch?«
Dunkers Frage überraschte nicht nur Jef, sondern auch Sedersen und Rechmann.
»Wir sollten sie noch einmal verhören und ihnen dann eine Kugel verpassen«, sagte Letzterer nach einer kurzen Pause des Nachdenkens.
»Aber nicht, bevor wir die Frau richtig hergenommen haben«, warf einer von Dunkers Leuten ein.
»Wenn euch die Eier so jucken, dass ihr eine Schwarze vögeln wollt, halte ich euch nicht auf!« Da Rechmann sich nach diesen Worten wieder über den Ortsplan beugte, übersah er den verärgerten Ausdruck auf Sedersens Gesicht. Diesem passte es nicht, dass sein Stellvertreter immer mehr das Kommando ergriff und ihm in dem großen Spiel um die Macht nur noch eine passive Rolle zubilligte.
»Hinter was waren diese beiden Typen von der Bundeswehr überhaupt her? Vielleicht hinter dem Plan, den dieser Renk verbrannt hat?«
Dunkers Frage machte Sedersen noch wütender, denn er hatte Eegendonks Leute bisher in dem Glauben gelassen, Renk und dessen Kollegin hätten deren Spuren aufgenommen.
»Richtig! Die beiden haben hier etwas gesucht«, warf Maart sofort ein.
»Ich glaube nicht, dass sie den Plan gesucht haben. Der ist ihnen zufällig in die Hände gefallen. Aber es nützt ihnen nichts, ihn verbrannt zu haben. Ich habe die Pläne eingescannt und hier auf diesem USB-Stick gespeichert. Damit kann ich sie jederzeit in einen PC laden und ausdrucken.« Sedersen zog einen kleinen, silbrigen Quader aus der Tasche und zeigte ihn wie eine Trophäe herum.
Maart beugte sich interessiert vor. »Was sind das für Pläne? «
Sedersen sah ihn selbstgefällig an. »Es sind Pläne, die dafür sorgen werden, dass die flämische Waffenindustrie eine führende Stellung in der Welt einnehmen wird! Hier in Balen will ich damit beginnen.«
Jef hörte aufmerksam zu und sagte sich, dass diese Information die beiden Gefangenen interessierten dürfte. Nach seinen Erfahrungen mit Sedersen traute er diesem zu, seine Waffen an jedermann zu verkaufen, der genug dafür zahlen konnte. Damit aber würde der Mann Flandern in einen noch schlechteren Ruf bringen als sämtliche flämische Nationalisten zusammen.
Noch während er darüber nachsann, drehte Dunker sich zu ihm um. »Was willst du noch hier? Hol lieber frisches Bier! Und schau zu, dass du Kartoffelchips herbringst.«
»Ich würde ja gerne Chips organisieren, aber dafür muss ich in den Ort.«
Noch während Jef hoffte, Dunker würde ihn hinauslassen, blickte Rechmann mit erwachendem Misstrauen auf. »Mir ist es lieber, der Bursche bleibt hier. Er weiß schon zu viel. Schicke lieber einen der Holländer, um was zu besorgen.«
»Wir sind keine Holländer, sondern Limburger und Brabanter«, korrigierte Maart ihn giftig.
»Von mir aus! Und jetzt seid still. Ich muss nachdenken.« Rechmann nahm sein Bier in die Hand und trank es in einem Zug leer. Im nächsten Moment warf er das Glas Jef zu, der hastig danach griff. »Hier, damit du nicht umsonst gewartet hast. Bring mir noch einmal das Gleiche.«
Grinsend wandte er sich an Sedersen. »So, jetzt habe ich alle Teile beisammen. Allerdings müssen wir uns beeilen. Lutz, einige deiner Leute müssen mir zur Hand gehen. Am besten wären Mechaniker oder Schlosser. Herr Sedersen, Sie sollten sich inzwischen von Zwengel informieren lassen, wo die besseren Herrschaften, die zu van Houdebrincks Beerdigung kommen wollen, ihre Kränze besorgen.«
»Soviel ich von Frau Vanderburg weiß, kommen die meisten Kränze aus Holland!«, erklärte Sedersen.
Maart korrigierte ihn sofort. »Das heißt: aus den Niederlanden! «
Sedersen reagierte nicht auf die Bemerkung, aber seiner Miene war anzusehen, was er von solchen Zwischenrufen hielt.
Dafür erschien auf Rechmanns Kindergesicht ein aufforderndes Grinsen. »Rufen Sie auch Eegendonk zurück. Er soll einen Trupp seiner Leute nehmen und einen der Transporter kapern, der Kränze nach Berendrecht bringen will. Ich muss die Farbe und die Aufschrift des entsprechenden Fahrzeugs wissen. Und jetzt an die Arbeit! Wir sind doch nicht zum Vergnügen hier.«
Seinen letzten Worten zum Trotz sah Rechmann so fröhlich aus, als wolle er einen Kindergeburtstag organisieren und keinen Terroranschlag.