ACHT

Außerhalb der Stadt trat der Fahrer des Müllkönigs das Gaspedal offensichtlich bis zum Anschlag durch. Torsten war froh um seinen schnellen Wagen, denn mit einem schwächeren Fahrzeug hätte der andere ihn locker abgehängt. Während er der Limousine folgte, fragte er sich, wieso sein Instinkt ihn dazu trieb, sich an den Wagen dieses Mannes zu hängen. Die bisherigen Opfer waren direkt vor dem jeweiligen Gefängnis erschossen worden. Und dennoch, sein Gefühl gebot ihm, dem Wagen zu folgen.

Die Straße verlief über flaches Land, die weidenden Kühe hoben beim Lärm der vorbeibrausenden Autos die Köpfe. Torsten hatte jedoch keine Augen für die Umgebung. Nachdem sie ein Dorf durchquert hatten, bog die Limousine ab und wurde langsamer. Kurz darauf kam eine schlossähnliche, mit dunklen Klinkern verkleidete Villa in Sicht. Ein schmiedeeisernes Gitter mit scharfen Spitzen überzog die Krone der mannshohen Mauer, die das Gebäude weiträumig umgab. Als die Limousine auf das Tor zufuhr, schwang dieses auf und schloss sich hinter dem Wagen wieder.

Torsten blieb nichts anderes übrig, als vor der Umfriedung anzuhalten. Er kam sich vor wie ein Trottel. »Wagner wird mich zusammenfalten, wenn ich ihm von dieser Dienstfahrt erzähle«, meinte er sarkastisch zu seinem Abbild im Rückspiegel und wollte wenden. Da glaubte er einen blauen Widerschein im Spiegel zu entdecken.

»Der Ziellaser!« Er griff nach seinem Feldstecher und sprang aus dem Wagen.

Durch die Stangen des Tores sah er den Müllkönig aus der Limousine aussteigen und die Freitreppe zum Eingang hinaufgehen. Ein winziger, selbst mit dem Feldstecher kaum auszumachender blauer Punkt tanzte auf seinem Rücken. Den Bruchteil einer Sekunde später erschien auf derselben Stelle ein schwarzes Loch, dessen Umgebung sich rasch rot färbte. Der Mann wollte sich noch umdrehen, brach aber in der Bewegung zusammen und rollte die Treppe hinab.

Da Torsten den Laserpunkt ganz kurz wahrgenommen hatte, glaubte er zu wissen, aus welcher Richtung der Schuss abgefeuert worden war. Dort aber war weit und breit nichts zu sehen. Erst als er den Feldstecher benützte, entdeckte er mehr als einen Kilometer entfernt einen dunklen Wagen, der eben Fahrt aufnahm.

Torsten hechtete in sein Fahrzeug und legte einen Kavalierstart hin. Innerhalb kürzester Zeit erreichte er die Stelle, an der das fremde Auto gestanden hatte, und konnte es gerade noch mit dem bloßen Auge ausmachen.

Er stürzte sich in die zweite Verfolgungsjagd an diesem Tag. Das Gaspedal trat er bis zum Anschlag durch und schnitt die Kurven so, als gäbe es auf der Welt keine Autos, die ihm entgegenkommen konnten. Das Dorf, das er auf der Hinfahrt durchquert hatte, kam in Sicht, doch Torsten war so konzentriert darauf, den Mörder zu verfolgen, dass ihm nicht bewusst war, wie schnell er durch den Ort fuhr. Eine Frau, die gerade aus einem Haus trat, wurde vom Fahrtwind gegen die Tür gedrückt und schimpfte empört hinter ihm her. Da bog er bereits um die nächste Kurve und sah den verfolgten Wagen nur noch gut zweihundert Meter vor sich. Doch von diesem Augenblick an ging alles schief.

Vor dem Kirchhof stand ein Mann in grüner Schützenjacke und schwarzem Hut und starrte dem heranschießenden Wagen entsetzt entgegen. Er winkte verzweifelt, um Torsten aufzuhalten. Doch der fuhr mit zusammengebissenen Zähnen weiter und bemerkte erst im letzten Augenblick den mit Blumengirlanden geschmückten Wagen, der eben den Parkplatz verließ und auf die Straße einbog.

Torsten riss das Steuer herum, aber es war zu spät. Er rammte den Wagen mit voller Wucht und schleuderte ihn gegen zwei parkende Fahrzeuge. Zu seiner Erleichterung war sein Wagen noch fahrtüchtig, und so wollte er trotz des Unfalls den Mörder weiter verfolgen.

Da versperrten ihm die Fahrer einiger Autos, die weiter vorne gewartet hatten, den Weg. Voller Wut trat Torsten auf die Bremse und ließ das Seitenfenster herab. »Verschwindet, ihr Idioten. Ich habe es eilig!«

Es war nicht gerade der Tonfall, der den anderen angemessen erschien. Sie stiegen aus und kamen auf Torstens Wagen zu. Es waren große Kerle, jeder mindestens ein Meter fünfundachtzig groß und um die neunzig Kilo schwer. Andere Männer gleichen Kalibers keilten Torstens Wagen jetzt von hinten mit ihren Autos ein. In den Gesichtern stand Wut, und sie ballten trotz ihrer festlichen Kleidung die Fäuste.

»Du bist wohl von allen guten Geistern verlassen, was? Rast wie ein Irrer durch den Ort. So etwas wie du gehört ungespitzt in den Boden geschlagen«, schrie einer der Männer. Weiter hinten stieg eine blutende Frau im Brautkleid aus dem beschädigten Auto und heulte Rotz und Wasser, während ihr Bräutigam daneben stand, als hätte ihn der Blitz gestreift.

»Verdammt, Leute, ich muss weiter! Diese Sache hier können wir später regeln«, rief Torsten. Doch die handfesten Niedersachsen um ihn herum schüttelten schweigend den Kopf. Einer packte Torsten bei der Brust.

»Das haben wir gern. Einen Unfall verursachen und dann abhauen wollen. Aber nicht mit uns, Bürschchen. Du bleibst schön hier, bis die Polizei kommt. Du kannst froh sein, wenn ich dir nicht vorher noch eins überziehe. Das ist nämlich meine Schwester, und ich mag es gar nicht, wenn ihr so ein Kerl wie du die Fahrt zum Standesamt versaut.«

Er hielt Torsten kurz seine Pranke vor die Nase. Torsten trat einen Schritt zurück und hob beschwichtigend die Hände. »Lass den Scheiß, sondern organisiere lieber einen Arzt! Ich habe den Wagen nicht mit Absicht gerammt, sondern bin hinter einem Mörder her.« Er wollte noch mehr sagen, doch jetzt drängten weitere Hochzeitsgäste hinzu, und die sahen ganz so aus, als wollten sie handgreiflich werden.

Mit einem ärgerlichen Laut wich Torsten zu seinem Auto zurück und zog seine Waffe. »Halt, stehen bleiben. Sonst schieße ich!« Die Drohung wirkte auf die Festgäste ebenso, wie sie auf einen angreifenden Bullen gewirkt hätte, nämlich gar nicht.

Wütend senkte Torsten den Lauf und jagte zwei Kugeln in den Asphalt der Straße. Jetzt erst hielten sie an und stierten ihn verdattert an.

»Und nun schafft die Autos vor meinem Wagen weg!«, befahl Torsten. Er hatte zwar nicht mehr viel Hoffnung, das Mörderfahrzeug noch zu finden, wollte es aber wenigstens versuchen.

Da klang das Heulen einer Sirene auf. Ein Polizeifahrzeug schoss um die Ecke und hielt an. Zwei Männer stiegen aus, der eine noch recht jung, der andere mittleren Alters. Dieser kam breitbeinig näher und winkte dem Burschen, der Torsten Prügel angedroht hatte, kurz zu. »Es gibt wohl Probleme, Hinner, was?«

»Das kannst du laut sagen, Sven. Der Kerl hier ist wie ein Irrer durch den Ort gebrettert und hat den Wagen mit Saskia und Thiemo gerammt, obwohl Busso die Straße abgesperrt hat, damit der Brautzug ausfahren konnte.«

»Außerdem hat er mit seiner Knarre in der Gegend herumgeballert und uns bedroht!«, rief eine Frau, die sich hinter einem Auto verschanzt hatte.

»Das werden wir sehen!« Der wuchtige Polizist stapfte mit grimmiger Miene auf Torsten zu. Dieser steckte seine Sphinx AT2000 ins Schulterhalfter zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Hände hoch und mit dem Gesicht zum Auto«, schnaubte ihn der Polizist an, während er seine Dienstpistole zog und damit auf Torsten zielte.

Dieser zog ärgerlich die Stirn in Falten. »Lassen Sie diesen Unsinn. Ich bin Oberleutnant Renk von der Bundeswehr und hinter einem Kerl her, der gerade einen Mord begangen hat.«

»Ich habe gesagt, mit dem Gesicht zum Auto. Ich warte nicht gerne!« Die Waffe des Polizisten wanderte ein Stück abwärts und zielte auf Torstens Oberschenkel. Dieser drehte sich zähneknirschend um. Im nächsten Augenblick stöhnte er schmerzhaft auf, denn der Mann rammte ihm den Lauf seiner Pistole in den Rücken.

»Schön ruhig bleiben, sonst … Mit Rowdys wie dir machen wir hier nämlich kurzen Prozess.«

Torsten gelang es nur mühsam, sich so weit zurückzuhalten, um dem Mann keine Lektion im Nahkampf zu erteilen. Die Waffe, mit der dieser ihn bedrohte, schreckte ihn nicht, zumal der zweite Polizist seine Pistole noch im Halfter stecken hatte und sie nicht schnell genug herausbekommen würde, um eingreifen zu können.

Aber er war nicht in diese Gegend gekommen, um Polizisten niederzuschlagen oder gar zu erschießen. Daher ließ er es zu, dass man ihm die Waffe aus dem Schulterhalfter zog und die Papiere abnahm.

Der Polizist steckte diese ein, ohne sie anzusehen, dann bog er Torstens Arme schmerzhaft nach hinten und legte ihm Handschellen an. Schließlich trat er ein paar Schritte zurück und winkte mit dem Lauf der Waffe. »Los, zum Polizeiwagen. Und keine Faxen.«

Dorftrottel!, dachte Torsten und verfluchte sein Pech, bei der Verfolgung des Mörders ausgerechnet auf diese Hochzeitsgesellschaft gestoßen zu sein. Ihm blieb jedoch nichts anderes übrig, als vor dem Beamten zum Polizeiauto zu gehen. Der andere Polizist öffnete ihm die Tür. »Sie sollten besser brav bleiben. Mein Kollege ist eh schon angefressen, weil er für die Hochzeit seiner Nichte keinen Urlaub bekommen hat«, warnte er Torsten, dann setzte er sich wieder hinter das Steuer. Dafür kam der verhinderte Hochzeitsgast an Torstens Seite und fuchtelte ihm mit der entsicherten Waffe vor dem Gesicht herum.

Die geheime Waffe
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