FÜNFZEHN

Jef van der Bovenkant war hundeübel. Zwar hatte Zwengel, sein verehrter Anführer, ihm erklärt, die Tat müsse vollbracht werden, wenn sie das große Ziel erreichen wollten. Trotzdem würgte es ihn bei dem Gedanken, in Kürze mitzuhelfen, eine unschuldige flämische Familie auszulöschen, nur um die Schuld daran den Wallonen in die Schuhe schieben zu können. Natürlich wollte er nicht, dass dieses Französisch sprechende Volk weiterhin von Flandern gefüttert und gehätschelt wurde wie ein Kranker, der in der Klinik am Tropf hängt. Dafür hatten die Wallonen die Flamen zu lange beherrscht und wie dumme Bauern behandelt.

Sollen sie sich doch von Paris ernähren lassen, sagte Jef sich und versuchte, seine Gewissensbisse zu unterdrücken. Doch auch dieser Gedanke wog das Gefühl nicht auf, dass er auf dem Weg war, seine Hände in das Blut von Unschuldigen zu tauchen. Da half ihm auch Zwengels Bemerkung, dass der Zweck die Mittel heilige, wenig.

Die anderen Männer in dem Kleinbus, der seiner Aufschrift nach aus einem Nest bei Namur stammte, schienen keine Zweifel zu kennen. Rechmann, der hünenhafte Deutsche mit dem Säuglingsgesicht, lachte gerade schallend, während sein Stellvertreter Lutz Dunker seine Pistole durchlud und tätschelte, als könne er es nicht erwarten, auf Menschen zu schießen.

Sie waren zu neunt, alle mit Tarnanzügen der französischen Armee bekleidet und mit französischen Pistolen und Sturmgewehren bewaffnet. Trotzdem fragte Jef sich, wie diese Männer eine wallonische Terrorbande darstellen wollten. Er war der Einzige, der fließend Französisch mit Brüsseler Dialekt sprach. Die anderen durften den Mund nicht aufmachen, denn trotz aller Bemühungen klangen die paar französischen Brocken, die er ihnen beigebracht hatte, einfach grauenhaft. Jeder, der diese Sprache halbwegs beherrschte, musste den deutschen Akzent heraushören.

Trotz seiner Übelkeit und seiner Angst war Jef froh, dass Rechmann für dieses Verbrechen außer ihm nur Deutsche ausgewählt hatte. Flamen, die andere Flamen oder gar eine Frau oder ein Kind töteten, wären ein Alptraum für ihn gewesen.

»He, Kleiner, wenn du kotzen musst, halte den Kopf zum Fenster hinaus«, spottete Rechmann, dem der Zustand des neben ihm sitzenden Burschen trotz der Dunkelheit nicht entging. Er saß selbst am Steuer und fuhr die Autobahn in Richtung Lüttich. Hasselt und Diepenbeek lagen bereits hinter ihnen.

»Wir sind bald da«, setzte er sein einseitiges Gespräch mit van der Bovenkant fort.

Jef schluckte und versuchte sich zusammenzunehmen. Das Unternehmen war wichtig für Flandern!, beschwor er sich. Dennoch fragte er sich, ob es der Sache guttat, wenn sie auf diese Art gefördert wurde.

»Du weißt, was du zu tun hast?« Rechmanns Stimme wurde schärfer, denn es hing in erster Linie von dem jungen Flamen ab, ob ihr Vorhaben so gelang, wie er es geplant hatte.

»Ich werde ein paar Sätze auf Französisch sagen, während ihr die Leute umbringt!« Jefs Stimme zitterte so, dass Rechmann wütend schnaubte.

»Nimm dich zusammen, Bürschchen! Wenn du die Sache versaust, nehme ich dich persönlich zur Brust.«

Diese Drohung ließ Jef zusammenzucken. Ich hätte mich nie auf diese Kerle einlassen dürfen, fuhr es ihm durch den Kopf. Doch der Übergang vom fröhlichen Rabauken, der mit anderen Parolen skandierend durch die Straßen gezogen war und sich mit Wallonen geprügelt hatte, zum Handlanger kaltblütiger Mörder war so schleichend vor sich gegangen, dass er zu spät begriffen hatte, worauf er sich einließ. Es war ein Fehler gewesen, sich von Zwengels Parolen begeistern zu lassen und dem Mann bedenkenlos zu folgen. Doch wenn er nun ausstieg, würde Rechmann ihn mit derselben Gleichgültigkeit umbringen, mit der er eine Fliege zerquetschte.

»Junge, wenn ich mit dir rede, erwarte ich eine Antwort!«, schnauzte Rechmann ihn an.

»Ich … ich werde es schon schaffen!« Wie um sich selbst davon zu überzeugen, wiederholte Jef die französischen Sätze, die er sich zurechtgelegt hatte.

»Ist ja schon gut! Hauptsache, du bringst dein Maul in dem Moment auf, in dem es nötig ist.« Rechmann verließ die Autobahn bei der Ausfahrt Tongeren und folgte der Nationalstraße 79 bis in die Stadt und bog dann auf die N 69 ab. Sie näherten sich der Grenze zur Provinz Lüttich. Wenn ich zu weit fahre, erwischt es Leute auf der verkehrten Seite, dachte er mit einem gewissen Amüsement. Irgendwann, hatte Sedersen ihm erklärt, würden sie auch dort Todeskommando spielen müssen. Aber das musste im richtigen Augenblick geschehen. Nun galt es erst einmal, den Zorn der Flamen anzustacheln.

Kurze Zeit später bog er nach links ab in Richtung Lauw. Von hier aus konnte man bereits in die Wallonie hinüberspucken. Rechmann blickte kurz auf die Anzeige des Navigationssystems. Sie waren schon in der Nähe des Hauses, das Karl Jasten am Vortag ausgewählt hatte. Für diese Aktion waren zwei Dinge wichtig: Das Gebäude musste weit genug weg von ihrem eigenen Hauptquartier und gleichzeitig einsam liegen, damit die Nachbarn nicht sofort herbeieilen konnten.

»Kameraden, haltet die Waffen bereit! Wir führen die Sache wie besprochen durch.« Rechmann hielt den Wagen knapp hundert Meter vor dem Haus an und stieg aus. Die deutschen Neonazis mit Lutz Dunker an der Spitze folgten ihm sofort, während Jef wie festgewurzelt sitzen blieb.

Rechmann ging um den Kleinbus herum und klopfte gegen die Beifahrertür. »Rauskommen! Und mach keinen Unsinn, verstanden?« Da einer seiner Begleiter kurz die Taschenlampe einschaltete und in den Wagen hineinleuchtete, sah er den Flamen nicken.

Sein Ärger galt aber dem Mann mit der Taschenlampe. »Mach die Funzel aus, du Idiot! Oder willst du die Leute auf uns aufmerksam machen? Und du, Kleiner, gehst jetzt brav zu dem Haus und sagst dort dein Sprüchlein auf.«

Ein harter Stoß mit dem Ellbogen trieb Jef in Richtung des Gebäudes. Für einen Augenblick überlegte der junge Flame, ob er die Dunkelheit ausnützen und fliehen sollte. Vielleicht konnte er damit das Leben der Menschen retten, die jetzt noch ahnungslos vor ihrem Fernseher saßen oder schon schliefen.

Doch bevor er einen Schritt zur Seite machen konnte, packte Lutz Dunker ihn am Arm. Dieser war in seiner Heimat der Anführer einer kleinen Gruppe Neonazis gewesen, die kaum mehr hatten tun können, als hie und da Ausländer, Obdachlose oder Behinderte zu belästigen und zwischendurch zu Kameradschaftsabenden zu fahren. Nun aber verlieh ihm die Waffe in seiner Hand jene Macht über Leben und Tod, die er sich so lange gewünscht hatte.

»Mach keinen Unsinn!«, warnte er Jef auf Deutsch.

Der blickte nach unten und sah im Licht der schmalen Mondsichel den Lauf der Pistole schimmern, die Dunker in der Hand hielt. Eine Kugel war auf jeden Fall schneller als er, und wenn die Nachbarschaft durch die Schüsse aufmerksam wurde, würden noch mehr Menschen sterben als nur die Familie in dem Haus, das jetzt wie ein dunkler Klotz vor ihm aufragte.

Jef erreichte die Tür und sah das beleuchtete Klingelschild vor sich. Der Name, den er dort las, verstärkte seine Gewissensqualen, denn so hieß auch ein guter Freund von ihm.

Als er sich umdrehte, sah er, dass Rechmanns Leute ihre Positionen eingenommen hatten. Wer auch immer die Tür öffnete, würde sie nicht mehr rechtzeitig schließen können.

»Mach jetzt!«, fuhr Rechmann Jef mit leiser Stimme an. Der junge Mann streckte die Hand in Zeitlupentempo aus und hoffte, die Klingel würde nicht funktionieren oder es käme wenigstens niemand heraus.

Da griff Lutz Dunker an ihm vorbei und läutete Sturm. »So macht man das!«, erklärte er Jef spöttisch.

Dieser starb beinahe vor Schreck, als er im Haus Schritte hörte und plötzlich Licht aus dem kleinen Viereck des Flurfensters drang. Dann drehte jemand den Schlüssel um.

Jetzt ist die letzte Chance, die Leute zu warnen, fuhr es Jef durch den Kopf, doch er brachte kein Wort über die Lippen.

Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet, und ein Mann mittleren Alters sah heraus. »Sie wünschen?« Eigentlich hätte Jef jetzt auf Französisch antworten sollen, doch Lutz Dunker gab ihm keine Gelegenheit dafür. Der Neonazi hob seine mit einem Schalldämpfer versehene Pistole und drückte ab.

Der Knall des Schusses erschien Jef so laut, dass man ihn seiner Meinung nach nicht nur in Lauw, sondern auch drüben in Oreye hören musste. Tatsächlich war es nicht viel mehr als ein unterdrücktes Knacken, das nicht einmal bis ins Innere des Hauses drang.

»Wer ist es denn, Simon?«, rief eine Frauenstimme.

Rechmann gab seinen Männern einen Wink. Sofort drangen vier von ihnen mit Dunker an der Spitze ins Haus, während der Rest draußen Posten bezog.

Jef hörte, wie jemand aufkreischte und sofort darauf verstummte. Das Geräusch der schallgedämpften Schüsse erahnte er mehr, als dass er es hörte. Trotzdem war ihm bewusst, dass Dunker und seine Kumpane ein Massaker veranstalteten.

»Wenn der Idiot alle abknallt, bringe ich ihn um«, fluchte Rechmann und versetzte Jef einen heftigen Stoß.

»Los, rein mit dir! Und plappere gefälligst Französisch!«

Jef stolperte in den gekachelten Flur und stand Sekunden später in einem schmucken Wohnzimmer, an dessen Seitenwand die Fahne Flanderns hing. Er starrte darauf, sah dann zwei starre Gestalten am Boden liegen, eine etwa vierzigjährige Frau und einen halbwüchsigen Burschen. Beide hatten kleine Löcher auf der Stirn und lagen in größer werdenden Blutlachen. Der Anblick drehte Jef die Eingeweide herum, und er glaubte, jeden Augenblick erbrechen zu müssen. Dann bemerkte er ein kleines Mädchen, das etwa acht Jahre alt sein mochte und sich verzweifelt in die Lücke zwischen Couch und Wand presste. Ein älteres Kind versuchte, sich neben der Anrichte unsichtbar zu machen, indem es seinen Rock über den Kopf zog.

Dunker, dessen Gesicht hinter einer Maske in Tarnfarben verborgen war, hob gerade die Pistole, um auch die beiden Kinder zu erschießen. Da versetzte Rechmann ihm einen Schlag auf den Arm und deutete mit einer Bewegung des Kopfes zur Küchentür. Dunker stürmte hin und rammte sie mit der Schulter auf. Neben dem Kühlschrank kauerte eine ältere Frau und versuchte mit zitternden Fingern ein Handy zu bedienen. Rechmanns Komplize trat hinter sie, setzte den Lauf seiner Waffe auf ihren Nacken und schoss.

Die Frau wurde wie durch einen heftigen Schlag nach vorne geschleudert und blieb reglos liegen. Die Mädchen schrien entsetzt auf und versuchten sich noch kleiner zu machen.

Rechmann, der wie alle eine Maske übergezogen hatte, blitzte Jef an. »Jetzt rede schon!«, schien sein Blick zu sagen.

Jef biss sich auf die Zunge, um den Speichelfluss anzuregen, und befeuchtete sich die strohtrockenen Lippen.

»Los, Hände hoch!«, befahl er auf Französisch. Seine Stimme schien kratzig und mit einem fürchterlichen flämischen Akzent behaftet zu sein.

Die Kinder reagierten nicht. Er gab noch einen weiteren Satz von sich und drehte sich dann zu Rechmann um. »Macht endlich ein Ende!«

»Oui, mon capitaine!« Rechmann hob die Linke, um Lutz Dunker daran zu hindern, das Opfer zu töten. Dann schritt er auf das größere Mädchen zu, zielte und schoss.

Jef wandte sich ab. Er hörte den dumpfen Knall der Pistole und schoss förmlich aus dem Haus hinaus.

Lutz Dunker folgte ihm und drückte ihm eine Plastiktüte in die Hand, die er in der Küche gefunden hatte. »Wenn du kotzen musst, dann tu es hier herein. Lass aber kein Bröckchen auf den Boden fallen. Die Spezialisten der flämischen Polizei würden damit rasch herausfinden, wer die Leute hier umgelegt hat!«

»Ich habe sie nicht umgelegt«, fuhr Jef entsetzt auf.

»Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen«, spottete Dunker.

Unterdessen kam Rechmann aus dem Haus. »Gab es was Auffälliges?«, fragte er die Männer, die Wache gehalten hatten.

»Nichts«, antwortete einer.

»Dann nichts wie zurück zum Wagen. Passt aber auf, dass ihr nichts verliert, was uns verraten kann!«

Diese Warnung war überflüssig, denn keiner der Männer hatte etwas eingesteckt, was auf ihn hinweisen konnte. Nicht einmal Zigaretten hatten sie bei sich, damit keine achtlos weggeworfene Kippe zu einer verräterischen Spur würde.

Rechmann hat an alles gedacht, durchfuhr es Jef, und es macht ihm Spaß, Leute umzubringen. Auf einmal fror er, und er war froh, als sie den Kleinbus erreichten und er sich wieder auf den Beifahrersitz setzen konnte. Für sein Gefühl hatte der Überfall Stunden gedauert, doch als er jetzt auf die Leuchtanzeige der Uhr im Armaturenbrett blickte, begriff er, dass er erst vor knapp fünf Minuten ausgestiegen war. Sein letzter Gedanke galt dem kleinen Mädchen, das Rechmann am Leben gelassen hatte, damit es berichten konnte, böse Wallonen hätten sie und ihre Familie überfallen, und er ekelte sich vor sich selbst.

Die geheime Waffe
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