ZWÖLF
In München war das Verhältnis zwischen Henriette und ihrem Ausbilder in einen Wettkampf ausgeartet, bei dem Torsten weder sich noch die junge Frau schonte. Als Major Wagner bemerkte, was zwischen den beiden vorging, beschloss er einzugreifen. Daher fand Torsten an diesem Morgen in seinem Büro einen Zettel auf dem Tisch.
»Bei Ankunft sofort zu mir kommen! Wagner.«
Da Henriette anders als sonst nicht im gemeinsamen Büro auf ihn gewartet hatte, vermutete Torsten, dass sie dem Befehl bereits gefolgt war. Wagner konnte sehr ärgerlich werden, wenn man nicht umgehend bei ihm erschien. Daher verließ er das Zimmer noch mit der Tasche mit dem Laptop über der Schulter. Als er Wagners Büro erreicht hatte, klopfte er an und trat ein. »Guten Morgen, Herr Major. Sie sind ja auch schon da, Leutnant!« Torsten lächelte sowohl Wagner wie auch Henriette freundlich zu und blieb vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten stehen.
»Guten Morgen! Wenn man bei so beschissenen Nachrichten von einem guten Morgen sprechen kann«, antwortete Wagner mit griesgrämiger Miene. »Setzen Sie sich, Renk, und Sie auch, von Tarow! Ich habe endlich den Ausbildungsplan fertig. Das Herumjoggen im Wald und das Verballern ganzer Munitionskisten mag vielleicht mehr Spaß machen, aber in unserem Job muss man auch Theorie lernen.«
»Ich habe nur darauf gewartet, bis Sie mir den Ausbildungsplan geben, damit ich weiß, womit ich anfangen soll.« Torsten grinste insgeheim, denn er wollte Leutnant von Tarow ein so großes Pensum aufhalsen, dass es der jungen Frau endlich zu viel wurde.
Wagner kannte Torsten sehr genau und hatte sich vorgenommen, ihm den Spaß zu verderben. »In Den Haag findet an diesem Wochenende ein internationales Symposion über die aktuelle Weltlage statt, bei dem auch die Folgen militärischer Auseinandersetzungen und regionaler Aufstände auf dem Programm stehen. Da das für Sie beide sehr interessant sein dürfte, habe ich mir zwei Teilnehmerkarten besorgen lassen. Hier sind sie!«
Der Major schob Torsten, der Henriette den freien Stuhl überlassen und sich selbst auf die Kante des Schreibtischs gesetzt hatte, eine eingeschweißte und codierte Karte hin. Die andere reichte er Henriette.
Dabei streifte er ihre Uniform mit einem kurzen Blick. »Sie werden an dieser Veranstaltung in Zivil teilnehmen!«
»Jawohl, Herr Major!« Henriette machte es wenig aus, sich innerhalb eines Tages neu ausstatten zu müssen.
Unterdessen wanderte Wagners Blick zu Torsten. »Sie sollten auch nicht gerade in Jeans, schwarzer Lederjacke und womöglich noch mit einer Sonnenbrille auf der Nase dort auftauchen. «
»Diese Kleidung ist die bequemste Art, unauffällig ein Schulterhalfter zu tragen«, antwortete Torsten abweisend.
»Beim Symposion werden Sie Ihre Knarre nicht brauchen. Die lassen Sie brav im Hotelsafe zurück. Leutnant von Tarow wird es mit ihrer Dienstwaffe genauso machen.«
»Ich habe noch keine Dienstwaffe«, wandte Henriette ein.
»Dann lassen Sie sich von Hauptfeldwebel Borchart eine geben. Aber bitteschön nicht seine ganz spezielle Pistole. Ich habe mir zwar sagen lassen, dass Sie damit zurechtgekommen sind, doch im Ernstfall sollten Sie Zuverlässigeres in der Hand halten. Renk, Sie sorgen dafür, dass der Leutnant entsprechend ausgerüstet wird.«
»Warum soll Leutnant von Tarow sich bewaffnen, wenn wir die Pistolen eh im Hotel lassen sollen?« Dabei überlegte Torsten fieberhaft, wie er diesen Ausflug in die Niederlande torpedieren konnte.
Wagner war sich Renks Suche nach einem Ausweg bewusst und grinste. Seine eigene Situation war bescheiden genug. In den Augen übergeordneter Stellen versagten seine Leute auf ganzer Linie, und da tat es gut, auch einmal jemand anderem eins überbraten zu können. »Wir sind hier nicht zum Diskutieren! Ich gebe meine Anweisungen, und Sie führen sie aus. Also …«
»Wie Sie meinen, Herr Major!« Torsten zuckte mit den Schultern und nahm sich gleichzeitig vor, keinen Finger für Henriette zu rühren. Entweder gelang es ihr auf eigene Faust, sich neue Kleidung und eine Waffe zu besorgen, oder sie blieb hier zurück. Während er Wagner musterte, erschien ihm diese Idee jedoch nicht mehr ganz so gut. Der Major würde explodieren und ihn in die hinterste Walachei schicken, statt ihn mit guten Aufträgen zu versorgen. Daher stand er von Wagners Schreibtisch auf und sah Henriette auffordernd an.
»Kommen Sie, Leutnant! Wir haben nicht viel Zeit, alles zu besorgen, wenn wir morgen fliegen sollen.«
»Sie werden nicht fliegen, Renk, sondern das Auto nehmen. Leutnant von Tarow sieht fit genug aus, um eine Nachtfahrt durchstehen zu können. Sie starten heute Abend um zwanzig Uhr. Um drei Uhr morgens checken Sie im Hotel ein. Wenn Sie sich dann noch ein paar Stunden hinlegen, sind Sie frisch genug, um gegen fünfzehn Uhr an der Eröffnungsveranstaltung teilnehmen zu können.«
»Das haben Sie ja sauber geplant, Herr Major. Hoffen wir, dass Leutnant von Tarow die Strecke in der Zeit auch bewältigt. «
»Sie würde es wahrscheinlich um einiges schneller schaffen. Aber ich will, dass Sie genau um drei Uhr morgens im Hotel ankommen. In unserem Job gewinnt nämlich nicht immer der Schnellste, sondern der, der zur rechten Zeit am richtigen Ort ist. Sehen Sie es als Teil der Ausbildung an. Und noch etwas: Nehmen Sie beide genug Kleidung für zwei Wochen mit. Es könnte sein, dass ich Sie vor Ihrer Rückkehr noch an einen anderen Ort schicke. Also dann bis heute Abend um acht!« Wagner senkte den Blick wieder auf seine Akten und zeigte damit, dass sie entlassen waren.
Während Henriette die Sache pragmatisch nahm, knirschte Torsten mit den Zähnen. »Was sollen wir bei einem solchen Zirkus? Die ganze Idee ist hirnrissig«, murrte er auf dem Flur.
»Irgendeinen Sinn wird sie schon haben«, wandte Henriette ein.
Torsten winkte heftig ab. »Höchstens den, uns zu schikanieren! Und das ist Wagner auch gelungen. Kommen Sie, wir schauen noch schnell bei Petra vorbei. Sie muss uns eine Liste mit allem ausdrucken, was wir unterwegs brauchen, und dazu noch die Adressen, bei denen wir die Sachen am schnellsten bekommen. Wenn wir frei Schnauze in die Stadt fahren, um einzukaufen, schaffen wir es niemals, rechtzeitig zurück zu sein.«
»Ich finde es aufregend!«, rief Henriette, während sie hinter Torsten herrannte und überlegte, was sie dringend brauchte.
Über den Grund, weshalb sie sich für zwei Wochen ausrüsten sollten, machte sie sich im Gegensatz zu Torsten keine Gedanken. Er aber klammerte sich an die Überlegung, dass Wagner ihn und sein weibliches Anhängsel an irgendeiner Stelle doch noch ins Spiel bringen würde. Darauf wies die Anweisung hin, der Leutnant solle sich bewaffnen.