VIERZEHN
Auch der zweite Teil seines Erkundungsganges endete mit einer Enttäuschung, denn Torsten konnte nicht mehr erkennen als die hohe Mauer, die das gesamte Gelände umgab, und das aus Metallplatten bestehende Tor, das bis zur Mauerkrone reichte. Überdies wurde die Zufahrt zu dem Grundstück von zwei Männern bewacht, die ihm bekannte Uniformen trugen.
»Was machen die Niederländer hier?«, fragte Torsten sich und spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Von Petra wusste er, dass die Männer aus der Militärschule von Breda spurlos verschwunden waren. Zwar hatten Henriette und er bei ihrer Ankunft bereits einen dieser Kerle gesehen, aber nicht daran gedacht, dass die ganze Bande hierhergekommen sein könnte. Das war eine unangenehme Wendung der Dinge. Die Niederländer kannten ihn und seine Begleiterin und würden nicht zögern, sie aus dem Weg zu räumen.
Bei dem Gedanken begriff Torsten, dass er mit einem Mal Angst bekommen hatte. Das Gefühl galt jedoch weniger ihm selbst als Leutnant von Tarow. Zuerst sagte er sich, dass sie doch ein Klotz am Bein sei, der ihn bei wichtigen Aktionen behinderte. Dann aber musste er daran denken, wie beherzt seine Begleiterin bisher gewesen war, und schüttelte unwillkürlich den Kopf.
Kneifen und die Schuld daran ihr zuschieben galt nicht. Er würde die Sache hier durchziehen. Daher wanderte er gemütlich weiter wie jemand, der frische Luft schnappen wollte, ohne direkt zu joggen, und inspizierte das ummauerte Grundstück. Zu seiner Enttäuschung bot sich nirgendwo eine Möglichkeit, das Gelände einzusehen. Er hätte auf einen der Bäume klettern müssen, die nur ein paar Schritte von der Mauer entfernt aufragten. Doch das würde den Bewohnern selbst dann nicht entgehen, wenn sie nur halb so aufmerksam waren wie der Mann vom Flughafen.
Als er das Grundstück umrundet hatte und schon nicht mehr daran glaubte, auf diese Weise etwas erfahren zu können, kam ihm der Zufall zu Hilfe. Das Eingangstor wurde geöffnet, und eine schwere Limousine schoss heraus. Sie fuhr so schnell, dass er den Fahrer nicht erkennen konnte. Dafür aber vermochte er einen Blick in das Innere zu werfen. Bei den beiden großen Hallen standen dieselben Wachcontainer, die er vor der Militärschule in Breda gesehen hatte, und in der Nähe der Villa parkten mehrere Autos und Kleinbusse unterschiedlicher Größe und Marken. Ein Stück dahinter standen zwei Panzerspähwagen der französischen Marke Panhard.
Zu seinem Bedauern schlossen die Wachen das Tor wieder, bevor er noch mehr erkennen konnte. Dennoch war er zufrieden. Frau Leclerc hatte zwar die Radpanzer erwähnt, das hätten jedoch auch Fahrzeuge sein können, deren Waffen ausgebaut worden waren und die jemand als Geländewagen benutzte. Nun hatte er mit eigenen Augen gesehen, dass beide Panhards ihre 90-Millimeter-Kanonen und das schwere MG trugen.
Erschreckender noch war für ihn die Tatsache, dass es sich bei den Uniformierten im Gelände nicht um Soldaten der regulären belgischen Armee handelte.
Mit dem Gefühl, seinem Vorgesetzten Wagner und auch Petra einige interessante Neuigkeiten mitteilen zu können, wollte er zur Pension zurückkehren. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, dass es bereits auf Mittag zuging. Er dachte an Leutnant von Tarow, die sicher Hunger hatte, und spürte im gleichen Moment, wie sein Magen zu knurren begann. Aus diesem Grund machte er einen Abstecher in ein asiatisches Lokal, das er auf dem Hinweg entdeckt hatte, und bestellte dort zwei Portionen Bami Goreng.
Bis das Essen fertig war, setzte er sich an einen Tisch und trank ein Glas Wasser. Obwohl der Laden blitzsauber wirkte, war er der einzige Gast. Dennoch schien das Restaurant zu florieren, denn eben packte eine ältere Frau mehr als zehn Portionen in Tüten und rief etwas in ihrer Muttersprache.
Als nicht sofort jemand antwortete, wiederholte sie ihre Worte um etliches schärfer. Jetzt tauchte ein junger Bursche auf, streckte abwehrend die Arme aus und redete wie ein Wasserfall auf die Frau ein.
Schließlich kam noch eine hübsche junge Frau, die anscheinend in der Küche arbeitete. Sie unterbrach den Redefluss des Burschen und deutete energisch nach draußen.
Torsten hatte zwar vor einiger Zeit einen Grundkurs in Chinesisch hinter sich gebracht, aber die beiden Frauen und der Mann redeten viel zu schnell, und außerdem in einem Dialekt, von dem er nur hie und da ein Wort zu verstehen glaubte.
Da die Angelegenheit ihn zu interessieren begann, stand er auf und gesellte sich zu den dreien. »Entschuldigen Sie! Gibt es Probleme?«
»Nein, nein, es ist alles in Ordnung!«, rief die ältere Frau etwas zu schnell.
»Wenn ich Ihnen helfen kann, tu ich das gerne.«
»Das schaffen wir schon«, sagte das Mädchen, das seiner Schätzung nach nicht älter als achtzehn Jahre sein konnte. Während die beiden Frauen seine Einflussnahme heftig abwehrten, war der junge Mann gesprächiger. »Es geht um die Lieferung hier. Ich soll sie in die Villa bringen. Aber die Leute dort sind sehr unfreundlich. Das letzte Mal wollten sie nicht bezahlen, und als ich etwas gesagt habe, bin ich geschlagen worden.«
»Warum nehmt ihr von denen noch eine Bestellung entgegen ?«, fragte Torsten verwundert.
Die junge Frau seufzte und sah ihn ängstlich an. »Wenn wir ihnen nichts verkaufen, kommen sie und schlagen uns alles kurz und klein. Außerdem haben sie uns angedroht, dass sie …« Sie brach ab und sah mit zusammengebissenen Zähnen zu Boden.
An ihrer Stelle berichtete der junge Mann weiter. »Die Kerle haben angedroht, wenn wir ihnen nicht gehorchen, würden sie meine Schwester vergewaltigen, und zwar alle hintereinander. Wir wären schon längst fortgezogen, wenn es uns möglich wäre. Doch dieses Lokal ist unser gesamter Besitz. Und solange diese Leute hier das Sagen haben, finden wir keinen Käufer. Also sind wir gezwungen weiterzumachen, auch wenn uns diese Kerle schlecht behandeln und wir umsonst für sie kochen müssen. Zum Glück helfen uns ein paar Nachbarn. Sie trauen sich zwar nicht mehr in unser Lokal, aber sie bestellen immer wieder bei uns und geben sogar mehr Trinkgeld als üblich, weil sie sich für ihre Landsleute in der Villa schämen.«
In dem Moment ritt Torsten der Teufel. Er klopfte dem jungen Burschen auf die Schulter. »Hast du noch so eine Schürze, wie du sie anhast, und vielleicht eine Mütze oder einen Hut, den ich aufsetzen kann?«
»Was wollen Sie machen?«, fragte die junge Frau.
Torsten lachte übermütig auf. »Ich fahre die Sachen zur Villa. Eine Frage: Hat man dich hineingelassen, oder musstest du das Essen am Eingang abliefern?«
Der Chinese schüttelte den Kopf. »Nein, ich musste es bis ins Haus tragen. Aber das können Sie doch nicht tun!«
»Warum denn nicht? Los, besorge mir die entsprechenden Klamotten, und dann liefere ich für dich aus. Oder bist du so scharf darauf, Prügel zu bekommen?«
»Nein, aber die werden Sie verprügeln!«
»Das werde ich überleben!« Torsten versetzte dem Burschen einen Stoß. Einen Augenblick lang blieb dieser noch stehen, dann rannte er los.
Seine Schwester sah Torsten kopfschüttelnd an. »Sie sind verrückt, ganz verrückt!«
»Ich weiß! Was kostet das Zeug eigentlich?«
»Insgesamt achtundneunzig Euro. Aber Sie werden keinen Cent davon bekommen.« Die junge Chinesin wollte noch mehr sagen, doch da kam ihr Bruder zurück. In der Hand hielt er eine saubere, grüne Schürze, ein Hemd nach der Mode Maos und die dazu passende Ballonmütze.
»Hier, das habe ich mir mal als Souvenirs besorgt. Vielleicht passt es Ihnen.« Er wollte Torsten aus der Lederjacke helfen und berührte dabei das Schulterhalfter. Erschrocken fuhr er zurück. »Wer sind Sie?«
»Niemand, der dich etwas angeht.« Verärgert, weil er auf eine so saudumme Weise die Existenz seiner Waffe preisgegeben hatte, schnappte Torsten sich Hemd, Schürze und Mütze und zog sich um. Den beiden Frauen fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als sie das Schulterhalfter mit der Pistole sahen.
»Kein Wort davon, verstanden? Wenn die Kerle fragen sollten, wer ihnen das Essen gebracht hat, war es ein Bekannter aus Brüssel, der Sie besucht hat.«
»Sie sind aber kein Belgier!«, wandte die ältere Chinesin ein.
»In Brüssel leben viele, die keine Belgier sind.« Da das Hemd weit genug war, zog Torsten es über dem Schulterhalfter an. Danach stülpte er die Mütze auf den Kopf und besah sich kurz im Spiegel der Toilette. In der Verkleidung war er sich selbst fremd. Daher nahm er auch nicht an, dass die Kerle aus der Militärschule von Breda ihn wiedererkennen würden.