83

Die Luft Darthans war feuchtwarm und gesättigt mit fremdartigen Gerüchen, als Richard Drake die Klappleiter hinabstieg und den Beton des Landeplatzes betrat. Der Raumtransporter war auf einer kleinen Insel inmitten eines Sumpfgürtels gelandet, der die Übergangszone von einer blauen Lagune zum Festland bildete. Der Himmel über ihnen war von einem noch blasseren Blau als die Atmosphäre auf der Erde. Eine leicht gelbliche Sonne hing in halber Höhe am Himmel und badete alles in wohltuender Wärme. Am anderen Ufer der Lagune breitete sich die weitläufige Stadt aus.

»Es ist schön!«, sagte Bethany hinter ihm, als sie die Leiter herabgestiegen war.

»Ja, nicht wahr?«, antwortete er. Er fühlte sich beinahe wie einer der alten Entdecker. Wenn er Varlan und Tarsanau, ihre sechs Wachen und fünfzig oder sechzig andere Ryall übersah, konnte er sich leicht in die Rolle Patrick O'Malleys hineinversetzen, als dieser das erste Mal den Boden Altas betreten hatte. Die Kaste der zahlreichen Ryall, die sie umringten, war offensichtlich. Sie waren nicht nur bewaffnet, sondern bildeten einen lückenlosen Kreis um den gelandeten Raumtransporter.

»Wachtposten?«, fragte Bethany.

Richard nickte. »Ein lebendes ›Durchgang verboten‹-Schild, würde ich sagen. Sie sind hier, um dafür zu sorgen, dass wir nicht auf eigene Faust die Gegend erkunden, vielleicht aber auch, um Neugierige auf Distanz zu halten.«

»Glaubst du, der durchschnittliche Ryall ist so neugierig auf uns, wie wir es im umgekehrten Fall sein würden?«

»Warum sollten sie es nicht sein? Neugier ist einer der notwendigen Aspekte von Intelligenz, so habe ich es jedenfalls gelernt.«

»Ich dachte an ihre angeborene Fremdenfeindlichkeit.«

»Diese Ryall scheinen uns nicht sonderlich zu fürchten«, meinte er und zeigte auf den Kreis der Bewacher. »Wenigstens blecken sie nicht die Zähne.«

»Ein gutes Argument«, erwiderte sie. »Aber ich sehe keine Neugierigen. Vielleicht wirken wir so abstoßend auf sie, dass sie schon von selbst wegbleiben.«

Die Ankunft von Tarsanau und Varlan unterbrach ihr Zwiegespräch. Der Unterhändler sagte etwas in der pfeifenden Ryallsprache und Varlan dolmetschte.

»Ich denke, dieses trockene Land ist geeignet, dass du dein Lager aufschlägst, Admiral von den Drakes.«

»Sehr geeignet, Tarsanau. Ihr habt hier eine sehr schöne Stadt. Werden wir Gelegenheit haben, mehr davon zu sehen?«

»Ist das von Interesse für euch?«

»Sehr.«

»Warum?«

»Geradeso wie wir Varlan zeigten, wie wir leben, würde es uns helfen, eure Art besser zu verstehen, wenn wir sehen, wie ihr lebt.«

»Warum wollt ihr uns verstehen? Seid ihr nicht hier, um unsere Kapitulation zu verlangen? Wenn ihr euch in einer Position glaubt, das zu verlangen, was ist sonst noch wichtig?«

»In unserem Volk glauben wir, dass besseres Verständnis zwischen Kulturen dem Frieden förderlich ist.«

»Eine weitere seltsame fremde Idee«, sagte Tarsanau. » Jene Die Herrschen sind noch nicht bereit, euch zu empfangen. Es wird wahrscheinlich mehrere Tage dauern. In der Zwischenzeit kann ich veranlassen, dass euch etwas von unserer Stadt gezeigt wird ... so dass ihr uns besser verstehen könnt.«

»Das würde uns gefallen.«

»Ihr Menschen scheint nicht sehr effiziente Schwimmer zu sein. Täusche ich mich in dieser Beobachtung?«

»Verglichen mit euch Ryall können wir überhaupt kaum schwimmen«, antwortete Drake. »Wir sind Landtiere, keine Amphibien. Unsere Fähigkeiten sind Laufen, Springen und Klettern.«

»Dann werde ich Vorbereitungen treffen. Ich werde ein Wasserfahrzeug beschaffen. Am Morgen werden wir uns einschiffen. Nun muss ich eure Ankunft Denen Die Herrschen melden. Ihr mögt die Arbeit an eurem Lager beginnen, wenn ihr wollt. Ihr sollt nicht belästigt werden, solange ihr innerhalb des Ringes der Krieger bleibt.«

Damit eilte Tarsanau fort. Als er den Rand der Insel erreichte, zögerte er keinen Augenblick, bevor er sich ins morastige Sumpfwasser stürzte und in die kristallblaue Lagune hinausschwamm. Sein schnelles Tempo war nur am leichten Kräuseln an der glatten Wasseroberfläche zu verfolgen.

Die kleine Gruppe der Menschen sah ihm nach, bis Drake sich umwandte und sagte: »Gut, Leute, dann wollen wir unser Lager aufschlagen!«

Fünf Stunden später stand die gelbe Sonne tief am Himmel und warf lange blaugraue Schatten über ihr neues Inselquartier. Neben dem Raumtransporter standen zwei orangerote Kuppelzelte. Als Notunterkünfte für alle Arten von Umweltbedingungen konstruiert, waren sie luftdicht, hatten aufblasbare Seitenwände und integrale Luftschleusen. Jedes Zelt hatte eine eigene Anlage zur Luftzirkulation und -reinigung, die gleichzeitig die Luftfeuchtigkeit regulierte und überschüssige Feuchtigkeit kondensierte und sammelte. Dazu gab es Packkisten mit Notrationen. Die zwei Kuppelzelte konnten ihre fünf Insassen dreißig Tage am Leben erhalten, ohne dass die Notwendigkeit bestand, ihre Nahrung aus der lokalen Biosphäre zu ergänzen. Zusätzlich zu ihren Luftschleuseneingängen, die aufrechtes Eintreten ermöglichten, waren die beiden Kuppelzelte durch einen röhrenförmigen Kriechtunnel miteinander verbunden und wurden durch ein Elektrokabel vom Generator des Raumtransporters mit Strom versorgt.

Zusätzlich zu den Lebensmittelvorräten, den Anlagen zur Luftreinigung und Abfallverwertung hatten die Notunterkünfte kompakte Analysegeräte, die Ablesungen über die Zusammensetzung der Außenluft lieferten. Darthans Atmosphäre war um reichlich fünf Prozent sauerstoffreicher und hatte einen zehn Prozent höheren Druck als die Atmosphären von Alta oder Erde. Dieser zusätzliche Sauerstoff erklärte das euphorische Gefühl, das sie den ganzen Nachmittag verspürt hatten, als sie ihre Unterkünfte aufgerichtet hatten. Nachteilig wirkte sich der Umstand aus, dass die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt war und es schwierig machte, in der windstillen Luft die Körperwärme loszuwerden. Erst gegen Abend kam eine schwache Seebrise auf.

»Wenn diese sumpfige Verlandungszone nicht wäre, würde der Blick auf die Lagune mich an die Insel Pira erinnern«, bemerkte Bethany, als sie mit Richard schwitzend die Packkisten mit den Rationen zu ihrem neuen Heim schleppten.

»Ja, nicht wahr? Man darf nur die Inseln selbst nicht zu kritisch vergleichen«, erwiderte er lächelnd.

»Nun, mich erinnert es hier an nichts«, sagte Phillip und wischte sich Schweiß aus den Augen. »Ich komme von einer kalten Welt.«

Bethany lachte und imitierte ein Frösteln. »Ich erinnere mich.«

Ein Vorteil der hohen Luftfeuchtigkeit war, dass das gesammelte Kondenswasser schon vor der Fertigstellung ihres Lagers die beiden Tanks der Notversorgung gefüllt hatte. Drake schätzte den schalen Geschmack des destillierten Wassers nicht sonderlich, wollte aber den Vorrat an Bord des Raumtransporters nicht angreifen. Das Wasser der Lagune war leicht salzig, und ohnedies dachte niemand daran, die lokalen Mikroorganismen mit dem gefilterten Sumpfwasser zu sich zu nehmen. Soweit er es beurteilen konnte, war Darthan der Erde und Alta nahe genug, dass es in ihren Biosphären ein gewisses Maß an gegenseitiger Empfänglichkeit geben konnte. Als er auf dieser fremden Welt stand und zum Himmel aufblickte, wo jeder Stern wie derjenige aussah, unter dem er das Licht der Welt erblickt hatte, verspürte Drake ein Gefühl von Zugehörigkeit, das ebenso unangebracht wie real war. Ein Ryall am nächtlichen Strand der Insel Pira hätte wahrscheinlich das Gleiche empfunden.

Es war längst dunkel, als Tarsanau zurückkehrte. Die Menschen saßen um ein Feuer vor ihren Zelten und beendeten eben ihr Abendessen aus Konserven mit dem Etikett »Notration Alpha-Vier«, als der Berater und Unterhändler wie ein Seehund aus dem sumpfigen Brackwasser auftauchte und dann auf das Feuer zu kam. Der größere Mond stand beinahe voll am Himmel und goss ein kaltes Licht über die kleine Insel, die Lagune und die Stadt. Das Licht war hell genug, um Drake an Antares in jenen ersten Tagen zu erinnern, als die Wellenfront der Supernova durch das System Valeria fegte. Mit dem Mondlicht rivalisierte ein weiches, bläuliches Licht, das seinen Ursprung irgendwo weiter draußen unter Wasser hatte und die Lagune und die Kanäle der Stadt von innen her beleuchtete. Gleichzeitig strahlte verschiedenfarbiges Licht von Kugeln aus, die hoch auf den Gebäuden angebracht waren.

Als Tarsanau in den Lichtkreis des Feuers kam, standen alle fünf Menschen von ihren Campinghockern auf und wandten sich ihm zu.

» Diejenigen Welche Herrschen werden euch in drei Tagen empfangen«, sagte er ohne Vorrede.

»Gibt es ein Problem?«, fragte Bethany.

Tarsanau wartete auf die Übersetzung und antwortete: »Wir haben eine Delegation von zweibeinigen Ungeheuern, die in unserer Stadt lagert. Sie verlangen eine Audienz bei Denen Die Herrschen, damit sie drohen können, jedes lebende Mitglied Der Rasse zu zerstören. Unter diesen Umständen gibt es viele Probleme.«

Richard überlegte, ob er die Fragen seiner Frau unterbrechen sollte, entschied sich dann dagegen. Offenbar war Tarsanaus Zusammentreffen mit den Herrschern der Ryall nicht reibungslos verlaufen. Es schien angezeigt, alles in Erfahrung zu bringen, was sie konnten.

»Gibt es etwas, was wir tun können, um mit den Problemen zu helfen?«

»Es gibt Sippenführer, die euch vor dem Zusammentreffen zu sehen wünschen. Wird das annehmbar sein?«

»Gewiss«, erwiderte Bethany. »Was kannst du uns über diese Sippenführer sagen?«

»Morgen«, antwortete der alte Ryall. »Wir werden diese Fragen während eurer Rundfahrt besprechen. Das Wasserfahrzeug wird –« es folgte ein kurzer Wortwechsel zwischen Tarsanau und Varlan »–zwei Stunden nach Sonnenaufgang hier sein. Ist das annehmbar?«

»Mehr als annehmbar.«

»Sehr gut. Ich werde euch verlassen und für die Nacht meine Unterkunft aufsuchen. Wenn ihr etwas wünscht, signalisiert den Wachen. Sie werden sehen, dass eure Bedürfnisse befriedigt werden, solange sie innerhalb vernünftiger Grenzen sind. Lebt wohl bis zum Morgen.«

Damit wandte er sich um, kehrte zum Ufer zurück und verschwand im schwimmenden Pflanzendickicht des Sumpfes, um in die blau leuchtende Lagune zurückzuschwimmen.

Drake sah ihm nach, dann ließ er seinen Blick über die Gesichter der anderen gehen. »Nun, ›früh zu Bett und auf zu früher Stund, macht den Menschen glücklich, reich, gesund‹, Leute. Löschen wir das Feuer und legen wir uns schlafen. Versuchen wir es wenigstens. Morgen wird ein geschäftiger Tag sein.«

»Richard, bist du wach?«

Drake erwachte von dem sanften Rippenstoß und der gewisperten Frage an seinem Ohr. Er brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, wo er war und die vertraute, weiche Berührung des warmen weiblichen Körpers neben ihm zu registrieren.

»Was ist los? Kannst du nicht schlafen?«, fragte er seine Frau im Flüsterton. Die beiden teilten einen Schlafsack in einem der Zelte. Ihre einzige Gefährtin war Varlan, die ausgestreckt auf einem anderen Schlafsack auf der gegenüberliegenden Seite des Zeltes lag. Phillip und die beiden Piloten des Raumtransporters schliefen im zweiten Kuppelzelt.

»Nicht sehr gut«, flüsterte Bethany.

»Wo fehlt es?«

»Ich weiß nicht. Die Aufregung, vielleicht. Oder die seltsamen Nachtgeräusche.«

»Oder die Angst?«, fragte er.

»Oder die Angst«, wisperte sie. Ihr heißer Atem hauchte über sein Ohr. »Meinst du, sie könnten uns heute Nachmittag verwanzt haben?«

»Abhörgeräte? Sicher. Es würde einem von ihnen ein Leichtes sein, alle Arten von Geräten unter den Zeltboden zu schieben, während wir um das Feuer saßen. Außerdem gibt es natürlich nur ein paar Hundert Technologien, um unsere Gespräche aus der Entfernung aufzufangen und aufzuzeichnen.«

»Wie sollten sie verstehen, was sie hören?«, fragte sie.

»Nach einem Jahrhundert Krieg müssen einige von ihnen Standard verstehen. Mach dir deswegen keine Sorgen. Was beunruhigt dich?«

»Diese Stadt beunruhigt mich. Sie ist so schön mit ihren Kanälen und der Lagune. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie von unseren Bomben zerstört. Könnten wir wirklich diese Welt mit Milliarden von denkenden, empfindenden Wesen vernichten, falls es dazu kommen sollte?«

Er blieb so lange still, dass sie sich fragte, ob er sie gehört habe. Als er antwortete, war Schmerz in seiner halblauten Stimme. »Ich sehe keine Alternative, wenn sie sich weigern zu kapitulieren. Unsere Städte sind auch schön, und die Ryall würden sie zerstören, wenn sie könnten.«

»Es wäre Verschwendung, ein solcher Verlust«, wisperte sie. Er hörte die Tränen in ihren Worten und beugte sich zu ihr, um beide Augen zu küssen. Und wirklich begegneten seine Lippen der Nässe von Tränen.

»Deshalb dürfen wir in unserer Mission nicht versagen. Wenn sie zugeben, dass sie diesen Krieg verloren haben, werden wir wenigstens eine Generation haben, um sie den Irrtum ihrer Instinkte zu lehren. Zumindest können wir sie lehren, dass der Angriff auf die Menschheit der schnellste Weg zu Darwins Schrottplatz ist. Aber nun schlaf. Der Morgen kann nicht mehr weit sein.«

Sie schmiegte sich an ihn, legte ihre Arme und Beine um seine. »Ich werd's versuchen, Richard.«

Er hielt sie umfangen, bis ihr Atem gleichmäßig und langsam ging. Dann, als er die Augen schloss, begann er die Nachtgeräusche zu bemerken, die verschieden von denen zu Hause waren. Zehn Minuten später sah er ein, dass er hellwach war und wahrscheinlich bleiben würde.