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Arthur Richard Drake – aufgrund seiner Verdienste zum Admiral befördert – lag angeschnallt in seinem zurückgeklappten Sitz an Bord des Raumtransporters und blickte auf die leuchtende Erscheinung, die den ebenholzschwarzen Himmel voraus zur Hälfte ausfüllte. Hier im System Napier erschien der Antaresnebel hundertmal größer als am heimatlichen Nachthimmel.
Der Nebel war ein schimmernder, durchscheinender Ball aus erhitztem Gas und Staub – und ebenso schön wie tödlich. Sein fein strukturiertes, wirbelartiges Geflecht glich einem hauchdünnen Spinnennetz, das in der Schale eines schimmernden kosmischen Eis schwebte. Mit Ausnahme seines scheinbar festen Kerns waren die feinen Fasern des Geflechts annähernd transparent, bis sie sich der äußeren Schale näherten, wo sie wieder die Tönung einer fluoreszierenden Leuchtstoffröhre annahmen. Die Erscheinung verkörperte die Erinnerung an den gewaltigen grausamen Streich, den Gott – oder Mutter Natur oder der heilige Petrus oder sonst jemand – Drake, seiner Frau, der Menschheit und sogar den Ryall gespielt hatte.
Sechs Jahre zuvor hatte Antares als der hellste Stern den Nachthimmel von Drakes Heimatwelt Alta geschmückt. Seit Kolonisten zum ersten Mal den Fuß auf die blauweiße Welt gesetzt hatten, die so sehr der Mutter Erde ähnelte, hatte der unheilvolle rote Stern den Winterhimmel beherrscht. Vierhundertdreißig Winter lang war Antares die lebenswirkliche Version der roten Sterne gewesen, mit denen die Kinder von Alta zur Weihnachtszeit ihre Falasträucher verzierten, ein ockerfarbenes Leuchtfeuer, das jeden Abend nach Sonnenuntergang über der Kette der Colgateberge schwebte. Dann, am Abend des 16. Aquarius 2637 hatte der rubinrote Stern um 17:30 Uhr eine atemberaubende Verwandlung durchgemacht. Innerhalb von Minuten blähte er sich gewaltig auf und wurde zum hellsten Stern in der gesamten Galaxis.
Jenen, die den neu entstandenen elektrischen Funken hoch über der Stadt Homeport beobachteten, war das Geschehen kein Geheimnis. Die Ursache der Verwandlung war offensichtlich.
Antares war in der Sternentwicklung weit fortgeschritten, lange bevor Menschen in den Weltraum vordrangen. Seit Jahrtausenden hatte der rote Riesenstern Unmengen von Wasserstoff verbrannt, einen Kernbrennstoff, der früher oder später unausweichlich zur Neige gehen musste. Dies geschah im Jahre 2512 nach dem Standardkalender. Mit dem Ende des Wasserstoffzyklus geriet die Fusionsreaktion im Sterninneren ins Stocken und hörte auf. Da nun im Sterninneren keine Hitze mehr erzeugt wurde, die der Schwerkraft entgegenwirkte, kollabierte der Kern des Roten Riesen. Gigatonnen von Sternmaterie verloren ihre Stabilität und fielen unter dem Zug der Schwerkraft in sich zusammen. Dadurch stieg die Temperatur im Sterninneren in einem Augenblick explosionsartig um mehr als eine Milliarde Grad an. Die Freisetzung von so viel Energie in derart kurzer Zeit löste eine neue Fusion aus, die noch mehr Energie erzeugte. Die durchgegangene Reaktion war nicht aufzuhalten.
Antares explodierte zu der größten Supernova, die je von Menschen beobachtet worden war.
Die Wissenschaftler wussten seit langem, dass der verheerende Explosionsblitz, der eine Supernova kennzeichnet, lediglich eine weniger bedeutende Nebenwirkung dessen ist, was tatsächlich stattfindet. Eine Supernova überstrahlt in ihrem Ausbruch nicht nur alle anderen Sterne in der Galaxis, sondern erzeugt zugleich einen gewaltigen Partikelsturm im gesamten subatomaren Spektrum. Während diese und viele andere Auswirkungen nur für Astronomen von Interesse sind, hatte die Explosion des Riesensterns etwas mit sich gebracht, was das Leben aller Menschen auf Alta beeinflusste ...
Unsichtbare Bahnen zwischen den Sternen sind das Ergebnis langer Linien gefalteten Raumes, die, Verwerfungen ähnlich, von dem riesenhaften Schwarzen Loch im Zentrum der Milchstraße – und aller anderen spiralförmigen Galaxien – ausgehen. Diese »Faltlinien« bilden komplizierte Vernetzungen gefalteten Raumes, die sich durch die Spiralarme der Galaxien erstrecken und manche Sternsysteme durchkreuzen, während andere unberührt bleiben. Wo eine Faltlinie einen Stern schneidet, gerät sie in den Wirkungsbereich seines Schwerefeldes, und es entsteht eine Schwachstelle im Vakuum des Raumes. Solche Schwachstellen werden als »Faltpunkte« bezeichnet und erreichen Ausmaße vom Volumen eines Planeten. Innerhalb eines Faltpunktes ist es möglich, im Raumzeitkontinuum ein Loch zu erzeugen. Positioniert sich ein Schiff innerhalb eines Faltpunktes und erzeugt ein genau bemessenes Energiefeld, so fällt es aus dem Kontinuum und wird die Faltlinie entlang zur nächsten Schwachstelle katapultiert, wo es ins normale Raumzeitkontinuum zurückkehrt, ohne die zwischen beiden Faltpunkten liegende Entfernung durchqueren zu müssen. Ein halbes Jahrtausend lang hatten Schiffe der Menschheit Faltlinien genutzt, um Einsteins universale Geschwindigkeitsbegrenzung zu unterlaufen. Faltlinien waren die Schnellstraße zu den Sternen, von denen die meisten wenigstens zwei Faltpunkte besaßen, manchmal sogar bis zu vier. In den Tagen vor seinem Novaausbruch war der Riesenstern Antares der größte Faltpunkterzeuger im menschlichen Hegemonialbereich gewesen. Er besaß sechs dieser Tore und machte sich damit zur größten interstellaren Drehscheibe in dem Sektor, der seinen Namen trug.
Valeria, das Zentralgestirn Altas, besaß nur einen einzigen Faltpunkt, ein Mangel, der dieses System zu einer interstellaren Sackgasse machte. Notgedrungen ging der gesamte Verkehr von und nach Valeria durch das System Napier, von dem aus Alta zuerst besiedelt worden war; das war zumindest die Lage vor dem Novaausbruch des Antares gewesen. Die titanartige Explosion hatte die durch das System Valeria verlaufende Faltlinie unterbrochen und Altas einzigen Faltpunkt zum Verschwinden gebracht.
Der Verlust ihres einzigen Tores zu den Sternen hatte die Kolonie Alta in ein Jahrhundert der Isolation gestürzt. Niemand unter den altanischen Wissenschaftlern erwartete, dass sich nach dem plötzlichen Erblühen der Supernova in ihrem Himmel, das zum Verschwinden der Faltlinie geführt hatte, noch einmal eine Veränderung der Lage ergeben würde. Darin sollten sie sich täuschen, denn als die im Ausbruch der Supernova abgestoßene äußere Gashülle des Antares mit ihrer Druckwelle durch den umgebenden Raum expandierte und schließlich Valeria erreichte, kam es zu einer dramatischen Veränderung des Faltraumes. Nach dem Passieren des Systems Valeria schnitt die Druckwelle nicht mehr die zwischen den beiden Sternen verlaufende Faltlinie und Altas Faltpunkt bildete sich hoch über dem Zentralgestirn des Systems von neuem.
Die Tatsache, dass Valeria wieder mit dem Rest des von Menschen besiedelten Raumes verbunden war, wäre vielleicht jahrelang unbemerkt geblieben, hätte nicht wenige Wochen nach dem Durchgang der von einem gewaltigen Sturm ionisierter Partikelstrahlung begleiteten Druckwelle ein ungewöhnliches Ereignis stattgefunden. Ein auf Antares gerichtetes Orbitalteleskop ortete in der Nachbarschaft des seit langem verschwundenen Faltpunktes über Valeria ein geheimnisvolles Schiff. Vor den Augen der verblüfften Astronomen nahm das nicht identifizierte Schiff Kurs auf die Tiefen des Weltraums und begann unerklärlicherweise auch noch zu beschleunigen.
Drake war damals Captain der altanischen Kriegsmarine gewesen und hatte die ASNS Discovery befehligt, einen der drei alten interstellaren Kreuzer, die im System Alta gestrandet waren, als Antares explodierte. Kurz nach dem Erscheinen des mysteriösen Schiffes erhielt Drake von der Admiralität Befehl, den Eindringling abzufangen.
Die Jagd erwies sich als schwierig, da sie vom Anfang bis zum Ende hohe Beschleunigungswerte erforderte. Als sie den Eindringling endlich überholten, fanden sie ein Geisterschiff. TSNS Conqueror, eines der stärksten Schlachtschiffe der terranischen Marine, war nur noch ein Wrack mit auf halber Kraft laufendem Triebwerk, mit einer toten Besatzung an Bord und ohne einen Hinweis darauf, was oder wer sie getötet hatte.
Die Entdeckung stellte die altanische Regierung vor ein Problem. Einerseits bezeugte die Ankunft der Conqueror, dass der Weg zu den Sternen wieder offen war. Andererseits legte ihr Zustand ein stummes Zeugnis für gefährliche Umstände ab, die irgendwo jenseits ihres lokalen Bereiches herrschten. Wenn ein Schiff wie die Conqueror, das imstande war, die gesamte altanische Flotte relativ mühelos zu vernichten, von einem unbekannten Feind zu Schrott zerschossen worden war, stellte sich die Frage, wer dieser Feind war. Hatte Alta ihn zu fürchten?
Die Regierung beschloss, Richard Drake zur Erkundung auszusenden ...
»Kampfgruppe kommt in Sicht, Admiral«, sagte der Pilot des Raumtransporters neben Drake.
Der schüttelte die Gedanken ab, in die er sich verloren hatte. Es war eine dumme Gewohnheit von ihm, wann immer er den Antaresnebel betrachtete, zweifellos ausgelöst von dem Umstand, dass sein eigenes Leben unentwirrbar mit dem Nebel verknüpft gewesen war, seit die Supernova in Altas Nachthimmel aufgeflammt war.
Alta war jetzt weit entfernt, ebenso wie Bethany, seine schwangere Frau. Er vermisste sie, hatte er sie doch in diesen letzten drei Jahren nicht mehr als ein paar Monate gesehen. Der Aufbau der größten Invasionsflotte in der Geschichte interstellarer Kriege hatte seine Aufmerksamkeit vollkommen in Anspruch genommen und ihm nur für ein paar kurze Heimatbesuche Gelegenheit gelassen. Die einzige Ausnahme war ein herrlicher Urlaub gewesen, der eine ganze Woche gedauert hatte. Wenigstens war Bethany meistens in Reichweite der Kommunikationssysteme, und die beiden hatten in den ruhigen Nachtstunden über dem Bildschirm viele erfreuliche Stunden im Gespräch von Angesicht zu Angesicht verbracht. Jetzt trennten sie mehr als einhundert Lichtjahre Vakuum, eine Entfernung, die nur wachsen konnte, wenn die Menschheit sich anschickte, alle Kräfte zu vereinen, um einen unerbittlichen außerirdischen Feind niederzuringen. Mit Hilfe einer fixierten Halteleine zog Drake sich an Bord des Schlachtschiffes Victory. Innerhalb der Hauptluftschleuse erwartete ihn eine Ehrenwache von Marinesoldaten unter der Führung eines jungen Commanders der königlich sandarischen Marine. Die Victory befand sich im Zustand minimaler Schwerkraft, um das Anlegen von Landungsfahrzeugen der anderen Schiffe des Flottenverbandes zu erleichtern. Der Commander schwebte frei und hielt sich mit einer Hand an der Führungsleine fest. Nach dem Verlassen der Luftschleuse hielt Drake inne, als Marschmusik aus den Bordlautsprechern schmetterte. Es war ein Stück, das er schon einmal auf der Erde gehört hatte, aber der Titel war ihm unbekannt. Der ungewohnte musikalische Stil ließ darauf schließen, dass der Marsch in den hundert Jahren der Isolation Altas vom Rest des menschlichen Herrschaftsbereiches entstanden sein musste.
Als der Marsch geendet hatte, rissen die salutierenden Marinesoldaten gleichzeitig die Arme herunter und standen stramm. Drake zog sich die Führungsleine entlang zu dem Offizier, den er wiedererkannte.
»Admiral Drake, wie schön, Sie zu sehen«, rief Phillip Walkirk und streckte ihm die Rechte hin, während er sich mit der Linken an der Führungsleine festhielt.
»Auch ich freue mich über dieses Wiedersehen, Hoheit«, erwiderte Drake, als er Walkirks Hand ergriff. »Ich sehe, Sie sind in der Welt vorangekommen. Ich erinnere mich an Sie als einen bescheidenen Fähnrich.«
Walkirk lächelte.
»Es könnte sein, dass ich Verbindungen am Hof habe.«
Das, wusste Drake, war eine Untertreibung. Vier Jahre zuvor war Phillip Walkirk als Austauschoffizier an Bord der Discovery gekommen. Drake hatte gegen die Abkommandierung Einspruch erhoben, als er zuerst davon gehört hatte, obwohl er nichts Persönliches gegen den jungen Offizier hatte. Das Problem war, dass Phillip Walkirk nicht bloß irgendein Mitglied der sandarischen Marine war. Sein Vater war John-Phillip Walkirk VI., König und Herrscher von Sandar, und Phillip würde ihm eines Tages auf den Thron folgen. Der Gedanke, dass der Kronprinz während seines Dienstes an Bord eines altanischen Kreuzers verletzt oder sogar getötet werden könnte, hatte Drake seinerzeit schlaflose Nächte bereitet.
An Bord der Discovery hatte sich Walkirk bewährt, auch als Führer des Prisenkommandos, das den Frachter Raumschwimmer der Ryall kaperte, eine Tat, die sich als ein Wendepunkt in den Kriegsanstrengungen der Menschheit erweisen sollte. Er hatte mit der Discovery die Erde besucht, wo Vorbereitungen getroffen wurden, die zu der gegenwärtigen Versammlung der Flotte führten.
Alle für die bevorstehende Invasion des von den Ryall beherrschten Raumes erforderlichen Einzelheiten mussten ausgearbeitet werden; gleichwohl hatte in dieser Angelegenheit Drake diese Aufgabe nicht allein zu bewältigen. Tausende von Spezialisten im gesamten menschlichen Hegemonialbereich hatten den umfassenden Plan ausgearbeitet, von dessen Gelingen oder Misserfolg das Schicksal der Menschheit abhängen würde. Aber Drake hatte ein besonderes Interesse daran, war doch das ganze Unternehmen ursprünglich seine Idee gewesen.
Für den aktiven Borddienst galt er mit Anfang vierzig bereits als »alter Mann«, und der Umstand, dass er gezwungen gewesen war, seine schwangere Frau einen Monat vor der Geburt ihres ersten Sohnes zu verlassen, war nicht geeignet, seine Stimmung zu bessern.
»Wie viele sind an Bord?«
»Alle, Admiral. Sie sind der Letzte. Ich bin hier, um Sie zur Einsatzbesprechung zu geleiten.«
»Dann gehen Sie voran.«
Der junge Prinz machte kehrt und zog sich die Führungsleine entlang zur Luke, die aus dem Hangar führte. Drake folgte ihm. Im Gegensatz zu Drakes erstem Kommando, dessen Konstruktion im Wesentlichen aus einem Ring und einem Zylinder bestand, war die Victory ein überdimensionaler Zylinder, der eine bessere Nutzung des inneren Volumens mit der Möglichkeit verband, das Schiff zur Erzeugung künstlicher Schwerkraft in Rotation zu versetzen. Zur Bauweise dieses Typs gehörten zwei Ausleger mit Gondeln, in denen viele seiner Waffen und Instrumente untergebracht waren und die stationär gehalten wurden, während der zentrale Schiffsrumpf rotierte, ähnlich wie es bei Drakes neuem Flaggschiff, der Conqueror II, der Fall war. Während er Phillip Walkirk durch endlose Korridore und Gänge folgte, fragte er sich, wie der Prinz sich in der kurzen Zeit, die er an Bord war, die Route eingeprägt haben konnte. Nachdem sie, wie es schien, die gesamte Länge des großen Schiffes durchmessen hatten, führte Phillip ihn in einen saalartigen Raum, wo sich dreihundert Marineoffiziere drängten und die Umwälzsysteme für Klimatisierung und Lufterneuerung auf eine schwere Belastungsprobe stellten. Diese Männer waren die Kapitäne und leitenden Offiziere der Schiffe, die sich in Vorbereitung auf den Eintritt in den Antaresnebel im System Napier versammelt hatten. Sie stellten jedoch nicht die ganze Invasionsflotte dar, nicht einmal ihren größten Teil. Die Kampfgruppe Spica sollte aus acht größeren Komponenten bestehen, von denen nur zwei an Bord der Victory vertreten waren. Die Flotten, die den Rest der Invasionsstreitmacht ausmachten, versammelten sich in einem halben Dutzend Sternsystemen im gesamten menschlichen Herrschaftsbereich. Sie würden sich zu gegebener Zeit mit den Flotten von Alta und Sandar und dem starken Kontingent der terranischen Marine vereinigen, das zu ihrer Verstärkung entsandt worden war, sobald sie alle im Inneren des Nebels waren.
Die meisten der Anwesenden saßen angeschnallt auf Stühlen, die auf das gekrümmte Deck genietet waren, während mehrere Gruppen von Offizieren frei schwebten, um miteinander zu beraten. Als Drake hereinkam, kündigte ein akustisches Alarmsignal die bevorstehende Beschleunigung an, und eine körperlose Stimme verkündete die Rückkehr zur Schwerkraft durch Rotation. Schnell ergriff Drake eine der entlang der Decke verlaufenden Haltestangen, um seinen Platz am Tisch zu erreichen, der im vorderen Teil des Raumes aufgebaut worden war.
Dort traf er Großadmiral George Terence Belton, der bereits angeschnallt auf seinem Platz saß. Der Admiral sah gerade seine Notizen durch, doch als Drake zu ihm kam, blickte er auf und nickte ernst.
»Willkommen, Drake. Wie war die Reise von Alta?«
»Überstürzt, Sir. Ich wünschte, die Echsenleute hätten uns einen weiteren Monat für Vorbereitungen gelassen.«
»Ha, warum verlangen Sie nicht ein weiteres Jahr?«
»Es hat keinen Sinn, das Schicksal herauszufordern, Sir. Ein Monat wäre ausreichend gewesen.«
Belton rieb sich das Kinn und nickte. »Da könnten Sie Recht haben. Auch ich wäre auf diesen bevorstehenden Kampf besser vorbereitet gewesen. Aber wenn wir schon beim Wunschdenken sind, könnten wir auf den Gedanken kommen, weitere hundert Orbitalfestungen zu verlangen.«
»Hauptsache, wir bekommen diejenigen, die wir bereits haben, rechtzeitig für den Einsatz, Sir.«
G.T. Belton war Oberbefehlshaber der Spica-Operation und Drakes Vorgesetzter. »Alles bereit, den Echsenleuten einen kräftigen Tritt in den Hintern zu verpassen?«, fragte er, als er sich anschnallte.
»Ja, Sir«, erwiderte Drake. »Und danke für das Vertrauen, das Sie zeigten, indem Sie meine Beauftragung mit diesem Kommando unterstützten.«
»Vielleicht werden Sie sich das mit dem Dank noch einmal überlegen, wenn Sie die ersten Gefechte hinter sich haben. Am spitzen Ende des Speers zu sein kann eine undankbare Aufgabe sein, besonders wenn man sich mit Etappenhengsten herumschlagen muss.«
»Etappenhengsten, Sir?«
»Eine alte Bezeichnung aus dem Jargon der Frontsoldaten, Drake. Gemeint war damit das militärische Personal der Stäbe und Versorgungseinheiten im Hinterland, das mit den an der Front benötigten Nachschubgütern knauserte und nichts herausrückte, solange die Anforderung nicht in dreifacher Ausfertigung und mit der Unterschrift des Regimentskommandeurs der betreffenden Fronteinheit vorgelegt wurde. Sie können übrigens sicher sein, dass es ein Minimum von dieser Art Bürokratie geben wird, solange ich den Oberbefehl habe.«
»Ich weiß das, Sir. Ich weiß auch, wie viele dienstältere Offiziere bei der Ernennung übergangen wurden, und welches Gewicht Ihre Meinung in der Entscheidungsfindung hatte.«
Belton dämpfte die Stimme, bis nur Drake ihn vor dem Hintergrundgeräusch hören konnte. »Dann wissen Sie auch, Admiral, dass es tausend Augenpaare geben wird, die jede Ihrer Handlungen beobachten und darauf warten werden, dass Sie etwas vermurksen.«
»Ja, Sir.«
»Möchten Sie gern wissen, was die Entscheidung zu Ihren Gunsten bewirkte?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht ...«
»Weil diese Invasion Ihr Werk war, Drake. Ihre Altaner überbrachten uns auf der Erde eine Karte des feindlichen Faltraumes, etwas, was niemand sonst in mehr als einem Jahrhundert Krieg hatte beschaffen können. Und obwohl Sie uns den Schlüssel zum Sieg auf einem silbernen Tablett präsentierten, erkannte keiner von uns die Implikationen, bis Sie uns darauf stießen. Das beweist eine Unabhängigkeit des Denkens, die im bevorstehenden Feldzug dringend benötigt wird.«
Belton sprach Standard mit einem seltsamen, aber verständlichen Akzent. Er hatte in der legendären Stadt Rom das Licht der Welt erblickt, einem sagenhaften Ort, über den die altanischen Kinder in der Schule lernten, den nach Drakes Kenntnis jedoch kein Altaner jemals mit eigenen Augen gesehen hatte. Ihr erster kurzer Besuch auf der Erde war zu hektisch verlaufen, um die Ewige Stadt zu besuchen, und seine seither unternommenen zwei Reisen hatten allein der Invasionsplanung gedient.
»Gleichwohl weiß ich die Chance zu schätzen, die Sie mir geben, Sir. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«
»Zur Kenntnis genommen«, sagte Belton, dann hob er die Stimme zu einem heiseren Grollen, das sein normaler Gesprächston war. Damit erzeugte er eine Vorstellung, die sich nicht recht mit seiner kleinen Statur und dem spärlichen Haar vertrug. »Nun, Admiral Drake, können wir anfangen?«
»Ja, Sir.«
»Geben wir den Ingenieuren fünf Minuten, um diesen alten Eimer in Drehung zu versetzen, und dann eröffnen wir die Einsatzbesprechung. Ich werde mich kurz fassen, um Ihnen mehr Zeit für Ihre Ausführungen zu geben.«
»Sehr gut, Sir.«
Während Drake die Kampfgruppen der Flotte in das Herz des feindlichen Herrschaftsbereichs führte, würde Großadmiral Belton für die Errichtung der Stützpunkte und Infrastrukturen sorgen, die zum Unterhalt der Angriffsstreitkräfte benötigt wurden.
»Offiziere der verbündeten Streitkräfte, willkommen!«, röhrte Admiral Belton ins Mikrofon, als ein paar Zehntel der normalen Schwerkraft erreicht waren. Während er sprach, ließ er den Blick über seine Zuhörer schweifen. Sie trugen die schwarzen und silbernen Uniformen der terrestrischen Marine, die schwarzen und grünen Farben der Sandarer, und die unauffälligen graublauen Uniformen der Altaner.
»Sie alle sind über den bevorstehenden Einsatz und Ihre Aufgaben darin unterrichtet, also werde ich Sie nicht mit Wiederholungen langweilen. Vielmehr haben Admiral Drake und ich Sie hierher eingeladen, weil dies unsere letzte Gelegenheit sein wird, persönlich zusammenzutreffen. In nächster Zeit werden wir uns wahrscheinlich nicht innerhalb von einigen Millionen Kilometern voneinander wiederfinden, und selbst wenn die Dinge sich so gut entwickeln, wie sie geplant wurden, werden viele von uns für mehrere Jahre nicht in unseren Hegemonialbereich zurückkehren ... und lassen Sie uns ehrlich sein, einige von uns werden überhaupt nicht zurückkehren. Das ist das Wesen des Krieges, eine Notwendigkeit, die wir Krieger als den Preis akzeptieren, den der Dienst an der Menschheit uns abverlangt.
Die Ereignisse werden sich überstürzen, sobald wir in den Nebel eintreten, und es wird wenig Zeit für Konsultationen geben. Deshalb ist es wichtig, dass jeder Flotten- und Kampfgruppenkommandeur, jeder Schiffskapitän, jeder Erste Offizier, jeder Mann an seinem Platz unsere Gesamtstrategie versteht. Gestatten Sie deshalb, dass ich sie Ihnen ohne den üblichen diplomatischen Schnickschnack erläutere.
Wir werden überraschend angreifen, hart und rasch zuschlagen, wir werden den Feind bei jeder Gelegenheit angreifen, wir werden ihm keine Atempause gönnen. Wenn wir kühn und zupackend handeln, werden wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben. Wir müssen es haben, denn ohne Überraschung werden wir den bevorstehenden Feldzug verlieren. Sie alle haben die Liste der Schiffe gesehen, die an dieser Operation teilnehmen, und wissen, was es uns gekostet hat, so viele Kampfeinheiten so fern der Heimat zu versammeln. Verlieren wir, wird die Menschheit auf Jahre hinaus in der Defensive sein, bis unsere Welten unter schweren Opfern das Verlorene ersetzt haben werden.
Der Einsatz ist hoch, meine Herren, aber der Lohn ist es wert. Nach allzu vielen Jahrzehnten hinhaltender Abwehrkämpfe stoßen wir in das Herz der Domäne unserer Feinde vor. Dort werden wir an Zahl und Feuerkraft unterlegen sein. Wir können kein Pardon geben, noch können wir es erwarten. Unsere Gegner sind Xenophoben, denen der bloße Gedanke, dass wir existieren, zuwider ist. Sie können nicht anders, denn diese Reaktion ist genetisch fixiert. Aus diesem Grund können wir ihnen keine Atempause gewähren. Wenn dies schon ein Vernichtungskrieg sein muss, ist es unsere Aufgabe, das Äußerste zu tun, damit die andere Seite den Kürzeren zieht. Bevor wir in den Kampf gehen, möchte ich Ihnen den folgenden Gedanken mitgeben: Wir setzen diese Flotte nicht ein, um einen knappen taktischen Vorteil zu gewinnen. Wir suchen keinen langfristigen strategischen Vorteil. Unser Ziel ist diesmal nichts Geringeres als der totale Sieg.«
Der Admiral ließ ein paar Sekunden verstreichen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Zu seiner Befriedigung sah er weder unechte Bravour noch hirnloses Lächeln über die Aussicht auf einen Kampf um Sein oder Nichtsein. Die Stimmung der versammelten Offiziere schien geprägt von grimmiger Entschlossenheit. Er billigte ihre Haltung. Die kommenden Tage und Wochen würden hart und bitter sein und alle Entschlossenheit erfordern, die ein Mensch aufbieten konnte. Er beendete seinen Rundblick über die Zuhörer mit einem Kopfnicken zu Drake hin.
»Ich werde diese Einsatzbesprechung jetzt dem Mann überlassen, dessen abenteuerliche Idee diese Operation ursprünglich war. Da keine gute Tat jemals unbestraft bleibt, wird er das Kommando über alle Kampfgruppen der Flotte haben, die an der ersten Angriffsoperation teilnehmen. Meine Herren, ich übergebe das Wort an Admiral Richard Drake von der altanischen Marine.«
Drake erhob sich so vorsichtig, wie es unter minimalen Schwereverhältnissen angebracht war. Wäre er zu schnell aufgesprungen, hätte der Schwung ihn ein paar Meter in die Luft katapultiert, möglicherweise mit dem Kopf gegen die nackten Rohrleitungen, die unter der Decke verliefen, auf jeden Fall aber hätte er ein lächerliches Schauspiel geboten, bis er wieder herabgeschwebt wäre. Als er aufrecht stand, schob er sich ebenso vorsichtig mehr gleitend als schreitend zum Podium.
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er sein Material geordnet und die Reihenfolge seiner Darstellung überprüft hatte, die bereits in den Computer der Victory übertragen war. Dann blickte er auf in die erwartungsvollen Gesichter seines Publikums, holte tief Luft und begann den Plan zu erläutern, den er und ein paar tausend andere im Laufe der letzten drei Jahre vervollkommnet hatten.
»Als Kommandeur der Kampfgruppe Spica heiße ich Sie willkommen an Bord der Victory. Wie Ihnen allen bekannt ist, hat die Antares-Supernova des Jahres 2512 diesen Raumabschnitt gründlich in Unordnung gebracht.«
Während er sprach, leuchtete die holographische Raumdarstellung auf und zeigte den explodierenden Stern in ihrer Mitte. Rings herum war die Darstellung durchzogen von den dünnen, in trübem Rot leuchtenden und nicht ganz geraden Bahnen der Faltlinien des Antares-Haufens. »Als Antares explodierte, veränderte sich der Brennpunkt der Faltlinien im gesamten Haufen und ließ hier im System Napier einen neuen Faltpunkt entstehen. Dieser Faltpunkt führt direkt ins Herz der Ryall-Hegemonie.
Sie wissen, wie ihre Flotte durch den Faltpunkt vorstieß und New Providence, dessen Bevölkerung gerade evakuiert wurde, um der Strahlung der Supernova zu entgehen, unprovoziert mit nuklearem Feuer überschüttete. Erst durch diesen Angriff erfuhren wir von den Ryall und ihrer Xenophobie.
Seit jenem ersten Zusammenstoß ist mehr als ein Jahrhundert vergangen, und während dieser gesamten Zeitspanne ist die Menschheit in der Defensive gewesen. Obwohl wir ihnen wissenschaftlich, industriell und waffentechnisch mehr als gewachsen scheinen, haben wir in diesem Krieg seit jetzt zwölf Jahrzehnten regelmäßig Niederlagen eingesteckt. Vor vier Jahren entdeckten wir die Ursache.«
Drake drückte einen Knopf am Podium, und ein Diagramm erschien. Die trübe glimmenden Faltlinien um Antares glichen den Fäden eines Spinnennetzes. Einer dieser Fäden endete im System Napier, wo der Krieg begonnen hatte. Ein weiterer hatte seinen Ursprung innerhalb des Antares-Nebels und zog sich weit durch die Darstellung bis zu einem Stern mit dem seltsamen Namen Eulysta. Im System Eulysta hatten Drake und die gemeinsame Militärexpedition von Alta und Sandar die Bergbaukolonie der Ryall auf Corlis entdeckt, einer sonst unbewohnten Welt. Dort hatten sie das feindliche Schiff Raumschwimmer mit intaktem Astrogationscomputer erbeutet. Dieser hatte der Menschheit zum ersten Mal einen umfassenden Einblick in die Geometrie des Herrschaftsbereiches der Ryall gegeben. Jenseits von Eulysta lag Carratyl, das Heimatsystem einer der landwirtschaftlichen Welten der Ryall. Und jenseits von Carratyl lag Spica, das Herz der Ryall-Hegemonie.
»Hier haben wir die Erklärung, warum die Ryall uns seit mehr als einem Jahrhundert in die Defensive drängen konnten. Spica ist größer als Antares und besitzt acht Faltpunkte. So wie Antares eine bedeutende Drehscheibe für unseren Handel war, bevor er explodierte, ist Spica eine bedeutende Drehscheibe für den interstellaren Handel der Ryall. Tatsächlich ist Spica sogar ihre einzige derartige Drehscheibe; doch mit weniger Sprüngen zwischen den Sternen können sie immer schneller auf unsere Angriffe reagieren als wir auf ihre.
Spica aber ist nicht nur ihre Stärke, sondern ihre Achillesferse. Die Leichtigkeit, mit der sie Waren von Stern zu Stern transportieren können, hat zu einer stark differenzierten Wirtschaftsstruktur geführt. Die Welten der Ryall-Hegemonie werden je nach ihren natürlichen Bedingungen wie Klima und Rohstoffvorkommen überwiegend spezialisiert genutzt. Einige dienen dem Schiffbau, der Schwerindustrie und der Waffenherstellung, andere der Leichtindustrie und dem Bau elektronischer Systeme, und wieder andere der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte. Diese Verteilung ist durchaus sinnvoll in einem Faltraumhaufen, wo die Sterne nur ein paar Sprünge auseinander sind. Es macht sie jedoch abhängig von ihrem interstellaren Handelsverkehr. Während unser Warenverkehr größtenteils aus Luxusgütern sowie Maschinen und Anlagen besteht, die unsere Kolonien von Importen unabhängig machen sollen, befördert ihrer jede Art von alltäglichem Bedarf. Ihre Welten sind so spezialisiert, dass der Warenverkehr für die Ryall lebensnotwendig ist.
Das ist der Punkt, wo wir sie treffen werden. Solange die Ryall Spica beherrschen, können sie ihre Angriffe besser koordinieren, als wir uns gegen sie verteidigen können. Unsere Verteidigungslinien sind zu ausgedehnt, unsere Reaktionszeiten dementsprechend zu lang. Auf der anderen Seite können die Ryall innerhalb von Wochen ihre gesamte Flotte auf ein bestimmtes Ziel konzentrieren.
Wenn wir jedoch Spica blockieren, werden wir eine Brechstange in das Getriebe ihrer gut geölten Maschine stoßen. Verwehren wir ihnen den Transit durch Spica, werden wir die Hegemonie in Faltraumketten von jeweils nur zwei oder drei Sternen zerbrechen. Sie werden nicht imstande sein, miteinander zu kommunizieren, es sei denn, sie wählen den langen Umweg um die wenigen Serien von Faltraumübergängen, die Spica umgehen.
Statt der gut koordinierten, massiven Angriffe, die sie in der Vergangenheit geführt haben, werden isolierte Systeme gezwungen sein, unkoordinierte Angriffe durch Faltpunkte zu führen, wo wir bereitstehen, sie zu vernichten, sobald sie dort erscheinen. Diesmal werden wir die inneren Kommunikationslinien und den Vorteil kurzer Nachschubwege haben. Statt die gesamte Ryall-Flotte auf einmal vor uns zu sehen, werden wir jeden einzelnen unkoordinierten Angriff von Kampfgruppen zerschlagen können.«
Drake ließ einen Blick über die Gesichter seiner Zuhörer gehen.
»Täuschen wir uns nicht, meine Herren. Es wird ein langer Krieg sein. Doch wenn wir lange genug durchhalten können, wird die Wirtschaft der Ryall unter den durch unsere Blockade verursachten Störungen zusammenbrechen. Es wird unsere Aufgabe sein, durchzuhalten, bis das geschieht.«