58

Bethany Drake machte sich Sorgen. Das war zu erwarten in einer Zeit, da ihr Mann und nahezu die Hälfte der männlichen Bevölkerung von Alta in den Krieg gezogen waren, ein feindliches Reich anzugreifen. Nicht einmal das Wissen, dass die kommende Schlacht der künftigen Sicherheit der Menschheit dienen würde, konnte ihre Befürchtungen aus der Welt schaffen. Und dass sie schwanger war, das machte es auch nicht leichter. In ihrem gegenwärtigen Zustand war die natürliche Sorge in einem Maße verstärkt, dass sie beinahe jeden anderen Gedanken ausschloss. Sie konnte von Glück sagen, wenn es ihr gelang, sich zehn Minuten auf ihre Arbeit zu konzentrieren, bevor der kalte Nebel der Furcht wieder aus den Tiefen stieg und ihr Bewusstsein wie eine feuchtkalte Hand umschloss. Wenn sie sich nicht um Richard sorgte, dann grämte sie sich darüber, wie ihre Gemütsverfassung sich auf das Ungeborene auswirken mochte.

»Unsinn«, sagte Dr. Fontain, die alte Ärztin, die über ihre Schwangerschaft wachte, als Bethany ihre Sorgen erwähnte.

»Glauben Sie, dass Sie die erste besorgte Mutter in der Geschichte der Menschheit sind? Das meiste von dem, was Sie empfinden, ist ein Nebenprodukt hormoneller Freisetzungen, die so natürlich sind wie das Atmen. Wenn Ungeborene sensitiv für die Stimmungsschwankungen ihrer Mutter wären, dann wäre unsere Art schon vor Jahrtausenden ausgestorben. Nach unserer letzten Untersuchung ist der Entwicklungsstand ihres Kindes optimal. Wenn sich überhaupt etwas sagen lässt, dann nur so viel, dass der Kleine in der Entwicklung weiter ist als die meisten anderen in diesem Stadium.«

Die Worte der Ärztin hatten Bethany für ungefähr fünfzehn Minuten Mut gemacht, bevor sie wieder grüblerisch wurde. Schließlich waren ihre persönlichen Probleme nicht alles, worüber sie zu grübeln hatte.

Die drei Jahre seit ihrer und Richards Rückkehr von der Erde waren hektisch gewesen. Sie hatte erwartet, dass ihr Mann von seinem Kommando in Anspruch genommen würde, aber nicht geahnt, wie sehr. Oft arbeitete er in der Admiralität vierzig Stunden durch und war, wenn er nach Haus kam, zu müde, um irgendetwas anderes zu tun als noch in Uniform aufs Bett zu fallen. Dann gab es die Reisen in die Umlaufbahn, die manchmal Wochen dauerten, und die Fernreisen durch den Nebel zu anderen Sternsystemen, um Einzelheiten der Invasion zu koordinieren. Sie hatten sehr wenig voneinander gehabt, obwohl ihr Zusammensein die langen Perioden der Trennung wert gewesen war. Ein solches Zusammensein war der Grund, warum sie jetzt die ganze Zeit diese Rückenschmerzen hatte.

Sie war selbst nicht untätig gewesen und hatte ihren Teil getan, um der Menschheit gegen den fremden Feind zu helfen. Allerdings fiel es ihr schwer, die Ryall als »den Feind« zu sehen. Sie sah in ihnen Varlans Vettern und hoffte, dass sie sie eines Tages gut genug verstehen würde, um diesem einfältigen Krieg ein Ende zu machen.

Konnten die Ryall ihre Instinkte beherrschen? Das war es, was Bethany durch das Studium von Varlans Verhaltensweisen primär zu bestimmen hoffte. Bisher waren ihre Resultate uneinheitlich gewesen. Wann immer sie versuchte, Varlan zu Überlegungen zu animieren, wie ihre beiden Arten zusammenarbeiten könnten, hatte die Ryall sich die Vorstellung einen oder zwei Tage durch den Kopf gehen lassen und war dann zu ihrer doktrinären Haltung zurückgekehrt, dass alle denkenden Wesen aus Notwendigkeit Feinde sein müssten.

Es musste einen besseren Weg geben, und Bethany Drake war trotz ihres schmerzenden Rückens und aller anderen Sorgen entschlossen, ihn zu finden.

Wenn nur ihre unkontrollierbaren Stimmungsschwankungen aufhören und ihr Zeit zum Nachdenken lassen würden ...

»Ich hätte nie gedacht, dass Ihre Leute in Städten leben«, sagte Consuela Aragon zu Varlan von den Duftenden Wassern. Varlan, Jorge Santiago, Olivia Southington, Consuela und Bethany waren alle in dem Raum versammelt, wo sie sich das erste Mal getroffen hatten. Varlan lag auf dem Bett aus Schilfmatten, und die vier Menschen hatten ihre Stühle in einem Halbkreis um sie aufgestellt. Jorge Santiago hatte Varlan zwei Stunden lang über Sitten und Bräuche der Ryall ausgefragt, und als Consuela gespürt hatte, dass Varlan ärgerlich wurde, hatte sie eine von Varlans müßigen Bemerkungen benutzt, um das Thema zu wechseln.

»Warum nicht?«, fragte Varlan. »Wir bauen Raumschiffe, warum nicht Städte?«

»Nun, Sie sind Wasserechsen. Wozu benötigen Sie Häuser und kommunale Strukturen, wenn Sie Ihre Lagunen haben, in denen Sie sich tummeln können? Sicherlich haben Sie kein Interesse daran, sich vor dem Regen zu schützen.«

»Wie viele Lagunen gibt es auf irgendeiner gegebenen Welt?«

»Wahrscheinlich nicht genug.«

»Nicht annähernd genug. Gewiss, wir ziehen es vor, in der Nähe des Wassers zu wohnen, und zu unseren Wohnstätten gehören Elemente von Wasser, anders als jene, die Sie bauen – ausgenommen gewisse Siedlungen im Hügelland«, sagte Varlan. »Wenn Wasser in der Nähe ist, verwenden wir Kanäle anstelle von Straßen. Wenn nicht, bauen wir Straßen wie Sie. Was die Notwendigkeit von Dächern angeht, so haben sie mehr den Zweck, vor der Sonne zu schützen als vor dem Regen. Zu den größten Genüssen meiner Art gehört es, im Regen zu liegen und die Zungen herauszustrecken. Die Regentropfen sind von Sauerstoff durchsetzt und haben einen besonders süßen Geschmack.«

Bethany, der endlosen, in leierndem Tonfall vorgebrachten Fragen Jorge Santiagos überdrüssig und müde vom Sitzen auf dem harten Stuhl, erhob sich unsicher, um die Blutzirkulation in den Beinen wieder in Gang zu bringen. Als sie stand, verspürte sie einen vertrauten Schmerz im Unterleib. Sie keuchte und griff haltsuchend nach der Stuhllehne.

»Fehlt Ihnen etwas, Señora Drake?«, fragte Consuela Aragon. Bethany beugte sich über die Stuhllehne und verzog das Gesicht. »Es fehlt mir nichts. Es war nur eine kleine Kontraktion. Seit ein paar Tagen wiederholen sie sich sporadisch.«

»Vielleicht sollten Sie sich setzen.«

»Das Sitzen ermüdet mich. Ich stehe lieber eine Weile.«

»Dann halten Sie sich an der Stuhllehne fest«, meinte Olivia Southington. »In Ihrem Zustand zu fallen könnte sehr unangenehme Folgen haben. Glauben Sie mir, ich weiß es.«

»Um zum Thema zurückzukehren«, unterbrach Santiago und nahm sein Verhör wieder auf, das Varlan zuvor Anzeichen von Unwillen entlockt hatte. »Ich verstehe nicht, warum Sie glauben, die Geschichte von den Schnellen Essern sei mehr als eine Fabel.«

»Die Schnellen Esser gab es wirklich«, erwiderte Varlan.

»Wir haben ihre Skelette in unseren Museen.«

»Daran zweifle ich nicht«, sagte Santiago. »Dennoch leuchtete die zugrunde liegende Geschichte nicht ein. Da ist beispielsweise der Zeitfaktor.«

»Erklären Sie«, konterte Varlan.

»Ich kann Ihnen die Geschichte nur so wiedergeben, wie Angehörige Ihrer militärischen Kaste sie gewöhnlich erzählen. Ist das in Ordnung?«

Varlan bewegte ihren langen Hals auf und ab und erzeugte so eine passable Nachahmung menschlichen Nickens.

»Die Geschichte, wie sie den Jungen erzählt wird, ist die: Einst waren die Ryall ein Volk glücklicher Fischer, die in den Flussmündungen und Lagunen Darthans lebten, der Heimatwelt. Nach vielen Generationen idyllischen Lebens erschien ein neuer Stern am Himmel. Dieser Stern wurde rasch heller, bis er die drei Monde überstrahlte, wenn sie voll waren. Es heißt, dass man im Licht dieses Sterns bei Nacht fischen konnte, weil es die kleinen Tiere zur Wasseroberfläche lockte. Kurz nachdem der Böse Stern erschien, wurde unsere Rasse von einer schweren Seuche heimgesucht. Viele wurden krank und starben. Ihre Schuppen verfärbten sich gelb, sie erbrachen das Gegessene und bald legten sie sich nieder und hörten auf zu atmen. Die Jungen des betreffenden Jahres waren nicht immun gegen die Seuche. Viele Eier konnten nicht ausgebrütet werden, und aus den anderen schlüpften grotesk missgestaltete Junge. Dies dauerte viele tausend Jahre unverändert an, und jede Generation von Ryall wurde von Mutationen geplagt. Auch waren die Geburtsfehler nicht der einzige Nachteil für die Rasse, denn der Böse Stern brachte auch die Schnellen Esser.

Sie waren hirnlose Räuber, welche die tieferen Wasser des Weltmeeres bewohnten. Kurz nachdem der Böse Stern am Himmel erschien, begannen die Räuber über die Fischerdörfer der Ryall und die Brutplätze herzufallen. Sie waren schnell und bösartig und entwickelten im Laufe der Generationen genügend Schläue, dass sie die Ryall aus der See verdrängten. Die Ryall zogen sich ins Innere von Inseln und die Küsten von Kontinenten zurück, wo sie Dörfer auf dem Land bauten. Im Lauf von Jahrtausenden entwickelte sich die Intelligenz der Ryall weiter. Genauso aber verhielt es sich mit den Schnellen Essern. Die Zunahme der Intelligenz half den Ryall, Methoden zu entwickeln, die sie zur Jagd auf die Schnellen Esser befähigten. Zuerst hatten die Jäger nur die Absicht, die schnellen Esser von den Brutplätzen und den Flussmündungen zu verjagen, wo noch immer die kleinen Wasserbewohner gefangen wurden. Die Schnellen Esser wurden im Flachwasser der Küsten gejagt, und nach und nach, weil sie selbst Intelligenz entwickelten, lernten sie die Gegenden meiden, wo Ryall lebten. Dann, nach einem Kampf, der generationenlang geführt wurde, begann man die Schnellen Esser auch im tiefen Wasser zu jagen.

Die Ryall gaben sich nicht mehr damit zufrieden, die gelegentlich auftretenden Räuber zu vertreiben. Nun suchten die Jäger deren Brutplätze auf. Man entdeckte die Stellen, wo sie ihre Eier ablegten, und zerstörte diese systematisch. Im weiteren Verlauf verseuchten die Ryall die tieferen Küstengewässer, wo die schnellen Esser sich aufhielten, mit organischen Giften, so dass die Schnellen Esser krank wurden und starben. Die Ryall studierten biologische Zusammenhänge und züchteten einen Parasiten, der nur von den Schnellen Essern lebte.

So gewannen sie schließlich ihren Kampf mit den Ungeheuern der Tiefe. Eines Tages gab es sie nicht mehr. Trotz einer ausgedehnten Suche konnten die siegreichen Jäger keine Schnellen Esser finden. Die Art der Ryall, durch die Rivalität in ihrer Intelligenz bedeutend gestärkt, beherrschte fortan die Heimatwelt Darthan.

Doch auch das Volk der Ryall hatte sich verändert. Es war kein einfaches Fischervolk mehr. Nun waren viele Ryall Landwirte und Bergleute und Metallbearbeiter und Handwerker geworden – alles Gewerbe der Dörfer auf dem Land. Das Volk der Ryall vermehrte sich, entwickelte die Landwirtschaft und baute Städte. Dann, als die Zeit kam, blickte es zu den Sternen und verließ das übervölkerte Darthan, um andere Welten zu kolonisieren.

Aber trotz aller Verfeinerungen vergaßen die Ryall niemals die Lektion von den Schnellen Essern. Man hatte daraus gelernt, dass eine einzige Welt für zwei intelligente Arten zu klein ist. Wenn zwei intelligente Arten dasselbe Territorium besetzen, müssen sie schließlich in einen Existenzkampf eintreten, bis eine Art unterliegt und ausstirbt. Es ist eine Lektion, welche die Ryall gut gelernt hatten und die sie zu den Sternen exportierte. Es ist die Lektion, die ihnen Anlass gab, instinktiv zu reagieren und das erste menschliche Raumschiff, das ihnen begegnete, zu zerstören. Diese Lektion ist die Triebkraft hinter diesem hundertjährigen Krieg unserer Arten. Die Ryall glauben, dass dieser Krieg nicht enden kann, bis eine unserer Arten ausgerottet ist. Sie glauben es nicht, weil man es sie gelehrt hat, sondern vielmehr, weil es in der grundlegenden genetischen Verschlüsselung ist, mit der sie aus dem Ei schlüpfen.

Es wird ein Krieg auf Leben und Tod zwischen beiden Arten sein, weil es das Gesetz des Universums ist.«

Jorge Santiago blickte in die Obsidianaugen, die ihn musterten. »Das ist die Legende von den Schnellen Essern, nicht wahr?«

»Sie ist es«, sagte Varlan. »Es ist Ihnen überraschend gut gelungen, die lyrische Poesie des Epos einzufangen.«

»Für einen Fremden, meinen Sie.«

»Ja, für einen Fremden.«

Santiago lächelte, ehrlich erfreut. »Ich danke Ihnen für das Kompliment. Ich habe diese Geschichte in Ihrer eigenen Sprache studiert, und obwohl das poetische Gefühl meiner Art nicht das gleiche ist wie Ihres, glaube ich, dass mir viele der Nuancen bewusst sind, die in den Wörtern liegen. Diese Legende der Ryall ist es, die Olivia, Consuela und mich zu diesem Besuch bei Ihnen veranlasst hat, und sie ist es auch, über die ich gern einige Bemerkungen machen möchte.«

»Bitte tun Sie es.«

»Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht kränken werde? Ich versichere Ihnen, dass es nicht meine Absicht ist. Unter Menschen ist es jedoch so, dass Fragen über tiefempfundene Glaubensfragen oft eine heftige Reaktion auslösen. Ich habe nicht den Wunsch, Ihnen das anzutun.«

Varlan dachte lange darüber nach, dann nickte sie mit dem langen Hals. »Ich verstehe den Begriff. Da ich unter den Menschen gelebt habe, musste ich meinen eigenen Standpunkt in vielen Dingen erweitern. Stellen Sie Ihre Fragen. Ich werde nicht Anstoß daran nehmen.«

»Danke. Meine erste Frage ist dann, wie Sie die Wahrheit dieser Geschichte behaupten, obwohl sie voll innerer Ungereimtheiten ist?«

»Ich verstehe nicht.«

»Betrachten Sie es einfach logisch. Wie können Sie glauben, dass wirklich geschah, was ich gerade erzählt habe?«

Varlans Zunge schnellte in einer Schaustellung fremdartiger Gemütsbewegung hervor, dann wandte sie den Kopf seitwärts, um den Mann mit einem Obsidianauge zu fixieren und fragte: »Sind Sie religiös, Señor Santiago?«

»Gewiss.«

»Gehören Sie der Sekte an, die ›katholisch‹ genannt wird?«

»Ja.«

»Dann muss ich Sie fragen, wie Sie an Ihre Religion glauben können, obwohl sie so viele offensichtliche logische Widersprüche enthält. Nehmen Sie zum Beispiel die Sache mit der Jungfrau. War der Ehemann dieser Frau so naiv, dass er glaubte, sie werde gebären, ohne zuvor geschwängert zu sein?«

Bethany, die Varlan vor mehreren Monaten die religiösen Überzeugungen der Menschen erklärt hatte, erstickte beinahe, als sie ein Lachen unterdrückte. Anscheinend hatte Varlans Entgegnung ins Schwarze getroffen, denn Jorge Santiago lief rot an. Aber er bewahrte die Beherrschung.

»Treffer!«, sagte er. »Vielleicht können wir das Wunder von der jungfräulichen Geburt ein andermal diskutieren. Wie auch immer, unser Thema war Zeitabfolge der Legende von den Schnellen Essern.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ihre Geschichte sagt, dass die Ryall an Strahlungskrankheit zu sterben begannen und über Tausende von Jahren eine hohe Mutationsrate erleiden mussten, als eine nahe Supernova zum Ausbruch kam, der so genannte Böse Stern.«

»Ja.«

»Und dass diese Strahlungen die Entwicklung Ihrer Art enorm beschleunigte und auch die Evolution eines hirnlosen Meeresräubers, die Schnellen Esser genannt, forcierte, bis auch sie zu intelligenten Wesen wurden.«

»Ja, Señor Santiago. Das ist wahr.«

»Aber die Zeitskala, Varlan. Wie können Sie die Zeitabläufe erklären?«

»Ich verstehe noch immer nicht.«

»Ausbrüche von Supernovae dauern höchstens ein paar Monate oder Jahre. Danach mögen sie ein benachbartes Sternsystem ein paar Jahrhunderte lang mit Strahlung überfluten. Das ist nicht genug, um die Auswirkungen zu erzeugen, die von der Legende damit in Verbindung gebracht werden. Selbst wenn es so wäre: Wie stellten die frühen Ryall den Zusammenhang zwischen dem kurzzeitigen neuen Licht am Himmel und der Strahlenkrankheit mit ihren Mutationen her? Diese können ja erst Jahre nach dem Verblassen des Himmelslichts aufgetreten sein. Ohne ein wissenschaftliches Verständnis des Phänomens ist es mehr wahrscheinlich, dass die frühen Ryall die beiden Ereignisse als unabhängig voneinander gesehen haben würden.«

Bethany, deren Füße inzwischen schmerzten, erinnerte sich der Nacht damals in Homeport, als das Licht des Antares zum ersten Mal das Land beschienen hatte. Es war wie das Licht eines elektrischen Funkens gewesen, ein sengender bläulich weißer Punkt am Himmel, der die Wälder illuminierte und lange tintige Schatten warf. Es war ein surrealistisches Bild gewesen, so sehr, dass sie und ihr Onkel aufgeblieben waren, bis Antares gegen Morgen unterging. Sie hatten die Veränderung in Altas Himmel bestaunt, ohne zu wissen, was sie hervorgerufen hatte.

Sie erinnerte sich, dass sie damals gedacht hatte, das Licht am Himmel sei ein Omen, das auf künftige Ereignisse voraus weise. Und die Ahnung hatte sich bewahrheitet. Wegen jenes elektrischen Funkens am Himmel hatte sie ihren zukünftigen Mann kennengelernt, und das Leben auf Alta, das bis dahin verhältnismäßig friedlich geblieben war, wurde in der folgenden Zeit mehr und mehr vom immerwährenden Krieg beherrscht.

»So ist es geschehen, Señor Santiago«, erwiderte Varlan, ein wenig störrisch, wie Bethany fand.

»Ich zweifle nicht an Ihrer Aufrichtigkeit, Varlan, nur an der Logik Ihrer Geschichte. Es erfordert Zeit, bis eine neue Spezies entsteht, selbst mit einer durch hohe Mutationsraten forcierten Evolution. Es muss mindestens tausend Generationen gedauert haben, bevor der Intelligenzquotient Ihrer Art deutlich anzusteigen begann.

Was die Schnellen Esser angeht, so waren sie Bewohner der tieferen Gewässer, was bedeutet, dass sie gegen die Strahlungen vom Himmel gut abgeschirmt waren. Sicherlich legten sie ihre Eier im Flachwasser ab, wo sie zum Ausbrüten Sonnenlicht bekamen. Dennoch können Strahlungen nicht die auslösende Ursache ihrer plötzlichen Zunahme an Intelligenz gewesen sein.«

»Was war es dann?«

»Nun, ich glaube, es muss ihr Wettbewerb mit euch Ryall gewesen sein.«

»Das sollten Sie genauer erklären, Jorge«, sagte Olivia Southington. Während der ganzen vorausgegangenen Erörterung hatte sie Varlan aufmerksam beobachtet.

»Es ist ein ziemlich verbreitetes Entwicklungsmuster im Wettbewerb der Arten. Raubtier und Beutetier liefern sich eine Art evolutionäres Wettrennen. Das geschah zum Beispiel unter den Raubkatzen und den Pferden auf der Erde. Wenn wir deren naturgeschichtliche Entwicklung studieren, finden wir, dass beide Arten ursprünglich klein begannen – das Pferd etwa hatte die Größe eines mittleren Hundes. Sie verstehen diese Hinweise, nicht wahr?«

Varlan nickte. »Ich hatte viel Zeit, die Menschen und ihre Kultur zu studieren, Señor Santiago. Ich habe Bilder von all den Tieren gesehen, die sie erwähnen, und mehrere Hunde kennen gelernt. Etwas an meinem Geruch missfällt ihnen.«

»Gut. Im Laufe vieler Jahrtausende begannen sowohl Raubkatzen wie auch Pferde längere Beine zu entwickeln. Zeitweilig mochten die Pferde im Vorteil gewesen sein, und die kurzbeinigen Raubkatzen litten Hunger. Ein andermal gelang es gewissen Raubkatzen, die Pferde einzuholen, und die langsameren Pferde mit kürzeren Beinen wurden gefressen.

So ähnlich stelle ich mir vor, was mit Ihnen und den Schnellen Essern geschah. Ihre Zahl wuchs bis zu dem Punkt, wo der Bevölkerungsdruck sie zwang, in Ihren Lebensbereich vorzudringen. Sie fanden, dass die Ryall der Vorzeit gut zu essen waren, und der Wettbewerb zwischen Ihnen bewirkte, dass beide Seiten statt längerer Beine größere Gehirne entwickelten.«

»Und die Geschichte von missgestaltet geschlüpften Jungen?«

»Vielleicht ist sie übertrieben. Es wird in jeder Generation einige Mutationen und Erbschäden geben. Nach Ihrer Geschichte vom Bösen Stern wurden Ihre Häuptlinge sehr empfindlich dagegen und töteten die frisch geschlüpften Jungen, die erbgeschädigt schienen. Auf diese Weise züchteten sie Ihre Art zu erhöhter Intelligenz.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Varlan nach einer Denkpause.

»Nur darauf, dass Ihre Erzählung von einem durch die Supernova ausgelösten Vernichtungskrieg mit den Schnellen Essern eine übermäßige Vereinfachung dessen sein mag, was wirklich geschah. Wenn wir die Zusammenhänge des wahren Geschehens finden können, gelingt es uns vielleicht auch, Ihre Leute davon zu überzeugen, dass Krieg bis zum Tod nicht immer die Antwort sein muss, wenn zwei intelligente Arten aufeinander stoßen.«

Varlan war im Begriff zu antworten, als Bethany die Hand hob. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich bin sehr ermüdet. Können wir dieses Gespräch morgen fortsetzen?«

»Selbstverständlich, Señora. Meine Entschuldigung, dass ich so viel Zeit beansprucht habe.«

»Danke, Señor Santiago.«

In diesem Augenblick läutete Bethanys Mobiltelefon. Sie zog es aus der Tasche und schaltete ein.

»Ja?«

Die anderen sahen, wie ihr Gesicht einen angespannten Ausdruck annahm. Sie lauschte eine Weile, dann steckte sie das Mobiltelefon wieder ein. Ihre Sorgenfalten waren nicht zu übersehen, als sie sich zu den Besuchern umwandte.

»Was ist geschehen, Bethany?«, fragte Varlan. In den letzten drei Jahren hatte sie gelernt, ihrer Freundin die Stimmungen vom Gesicht abzulesen, und diese Stimmung war eine von schmerzlicher Ungewissheit.

»Das war meine Assistentin. Gerade ist Nachricht von der Flotte eingegangen.«

Drei menschliche Stimmen fragten gleichzeitig: »Was für Nachrichten?«

»Nichts Eindeutiges. Richards Kampfgruppe hat vor zwei Tagen den Transit nach Eulysta vollzogen und ist noch nicht zurückgekehrt. Anscheinend ist die Schlacht im Gange.«

Sie wandte sich zum Gehen. Ihr Bett, wo sie liegen und die Füße hochlegen konnte, war in den vergangenen zwei Stunden zunehmend Gegenstand ihrer Sehnsucht geworden. Sie tat einen Schritt und blieb schwankend stehen, tastete nach der Lehne von Olivia Southingtons Stuhl, verfehlte sie und fühlte sofort eine stützende Hand an ihrem Arm. Jorge Santiago war geistesgegenwärtig aufgesprungen, um einen Sturz zu verhindern.

»Was ist los?«

Bethany hielt sich mit beiden Händen den Bauch und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Nach einem Dutzend Atemzügen, in denen sie nicht sprechen konnte, richtete sie sich auf und seufzte. »Das war die bisher schlimmste Kontraktion.«

Olivia Southington, die Bethanys Rückseite sah, räusperte sich und sagte: »Das war mehr als eine Kontraktion, Bethany. Es ist das Fruchtwasser.«

Auch Varlan hatte den Fleck gesehen und legte als Ausdruck ihrer Sorge die Ohren an. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

Olivia wandte sich mit einem Lächeln zu ihr um. »Kein Grund zur Sorge, Varlan. Bethany bekommt jetzt ihr Kind!«