10
Als Kenil Fallan Richard Drake und Bela Marston eine ganze Reihe von Treppen hinab in immer stärker fühlbare Schwere führte, bemerkte Drake, dass die City of Alexandria ein ziemlich schäbiges Äußeres hatte. Wo das Innere der Discovery im Glanz polierten Metalls und frischer Farbe erstrahlte, waren der Alexandria zwanzig Jahre Vernachlässigung deutlich anzusehen. Die Korridorwände waren früher einmal mit teuren Hartholzvertäfelungen und Lampenfassungen aus massivem Messing ausgestattet gewesen. Das Holz war verschwunden – von einem früheren Eigentümer herausgerissen, um es einem reichen Mann zu verkaufen, der sein Herrenhaus mit den wertvollen Vertäfelungen stilvoll ausstatten wollte. Wohin man sah, blätterte die Farbe ab und gab schmutzige, bräunliche Flecken getrockneten Paneelklebers frei.
»Der Zustand meines Schiffes lässt leider zu wünschen übrig«, sagte Fallan, als sie bei geringer Schwere durch einen Korridor zwischen Treppenhäusern glitten. »Wir waren zu sehr damit beschäftigt, es einsatzbereit zu machen, um uns der Verschönerung anzunehmen.«
»Es wird eine lange Mission sein, Kenil. Für diese Dinge werden wir nach dem Start Zeit genug haben.«
»Ja, das dachte ich mir auch. Ich habe meinen Offizieren gesagt, die Männer mit Abkratzen und Anstreichen zu beschäftigen, sobald wir die Umlaufbahn verlassen.«
Ihr Ziel war der Ballsaal der Alexandria. Auf der äußersten Ebene gelegen, wo die Schwere am höchsten war, hatte der Ballsaal eine eindrucksvolle Größe. So weiträumig war er, dass das Deck unter den Füßen eine wahrnehmbare Krümmung zeigte. Um den großen Raum zu nutzen, war es allerdings erforderlich, das Schiff in Rotation zu versetzen und so die Pseudoschwerkraft zu erzeugen. Während des Fluges unter Antrieb, wenn die Schwere achtern statt außen war, wirkte der Saal wie ein tiefer, bogenförmiger Brunnen von begrenztem Nutzen. Da aber kein Raumschiff sich die Vergeudung von so viel Raum leisten kann, hatten die Konstrukteure des Schiffes vier einziehbare Decks installiert. Aus ihren Wandschlitzen ausgefahren, unterteilten sie den Saal in eine Reihe kleinerer Räume.
In den zwei Wochen, seit die Wissenschaftler und anderen Zivilisten an Bord der Alexandria gegangen waren, hatte Captain Fallan einen nicht abreißenden Strom von Klagen und Beschwerden über die Zuweisung von Kabinen, Arbeitsräumen und die Lebensbedingungen im Allgemeinen gemeldet. Zu seiner Überraschung hatte Drake seine Meldung mit der Bitte um Vorlage einer vollständigen Liste der Beschwerden beantwortet.
»Du solltest dich nicht mit solchen Kleinigkeiten abgeben, Richard«, hatte Fallan gesagt. »In den meisten Fällen versuchen die Beschwerdeführer lediglich ihren Status in der Hackordnung herzustellen. Wir hören Ihnen zu, machen beruhigende Geräusche und lassen es dabei bewenden.«
»Die Beschwerden sind nicht belanglos, Kenil. Auch solltest du sie nicht so behandeln. Sie sind symptomatisch für ein Problem, das wir lösen müssen, bevor es außer Kontrolle gerät. Ich schlage vor, dass du für morgen um acht Uhr eine Versammlung deiner sämtlichen Offiziere und des zivilen Personals einberufst. Ich werde dafür sorgen, dass auch die Tanker-Kapitäne verständigt werden.«
»Ja, Sir.«
Zwei Marinesoldaten vom fünfzig Mann starken Kontingent der Alexandria flankierten den Eingang zum Ballsaal, als die drei Offiziere eintrafen. Die Marinesoldaten nahmen Haltung an und salutierten. Drake grüßte zurück, dann stieg er über den erhöhten Süllrand in den Ballsaal.
Der große Raum war durch Sitzreihen vor einem erhöhten Podium mit Rednerpult in einen Vortragssaal umgewandelt worden. Als Drake den Saal betrat, rief einer der Marinesoldaten am Eingang »ACHTUNG!« Mehrere uniformierte Gestalten sprangen auf und machten Front zum Eingang. Auch einzelne Zivilisten standen auf, wenngleich in einer viel entspannteren Art und Weise. Die meisten der mehr als hundert Anwesenden blickten lediglich auf, um sich dann wieder ihren Einzelgesprächen zuzuwenden.
Drake schritt nach vorn, bestieg das Podium und trat hinter das Rednerpult. Während er auf ein Nachlassen des allgemeinen Gemurmels wartete, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. In der zweiten Reihe sah er Bethany Lindquist und Carl Aster sitzen und Händchen halten; dieser Anblick verursachte einen momentanen Stich von Eifersucht. Auch Professor Pianovich saß in der zweiten Reihe, drei Sitze von Aster entfernt. Drake erkannte ein Dutzend anderer Mitglieder des wissenschaftlichen Personals, darunter mehrere Frauen. Im rückwärtigen Teil des Raums waren die Kapitäne und Offiziere der Cryogentanker sowie die Piloten der Aufklärer und Landungsboote von Discovery und City of Alexandria. Drake befahl den Stehenden, sich zu setzen. Das militärische Personal gehorchte, und allmählich begann das gedämpfte Stimmengewirr zu verstummen. Drake wartete, bis die Menge still geworden war, bevor er das Wort ergriff.
»Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, meine Damen und Herren. Ich bat Captain Fallan, diese Versammlung einzuberufen, um einige Dinge klarzustellen, bevor wir die Umlaufbahn verlassen. Zuerst möchte ich all jene, die nicht aufstanden, als ich den Saal betrat, bitten, dies jetzt zu tun.«
Es folgte eine Erneuerung des Stimmengewirrs, und eine Sekunde lang rührte sich niemand. Dann begannen die Mächtigen von Alta nach und nach zögernd aufzustehen. Zuerst einer, dann zwei, dann kleine Gruppen, bis die Szene schließlich genau das Gegenteil derjenigen war, die sich vor ein paar Minuten geboten hatte.
»In den nächsten Monaten werden Sie alle an Bord dieses Schiffes leben und arbeiten. Sie werden inzwischen bemerkt haben, dass wir zu viele Leute sind, die auf zu engem Raum zusammengedrängt sind, und dass es für inkompatible Persönlichkeiten wenig Gelegenheit gibt, einander aus dem Weg zu gehen. Das ist ganz normal, und wir Raumfahrer haben vor langer Zeit Verhaltensregeln entwickelt, um die Stresserscheinungen des Bordlebens zu minimieren. Die Verhaltensregeln beruhen auf drei Prinzipien: Respekt vor den Mitmenschen, gewöhnliche Höflichkeit und Einsicht in die Tatsache, dass ein Schiff im Raum keine Demokratie ist. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Verhaltensregeln gehört der Respekt, der einem kommandierenden Offizier an Bord des Schiffes entgegengebracht wird. Aus den gleichen Gründen, die verlangen, dass man aufsteht, wenn ein Richter den Gerichtssaal betritt, so sollten auch Sie aufstehen, wenn ein Captain einen Raum betritt. Durch diese Handlung soll die Achtung vor dem Rang ausgedrückt werden, weniger vor dem Mann, der ihn bekleidet. Da jeder von Ihnen, der jetzt steht, es vorzog, diese einfache Höflichkeit zu ignorieren, werden Sie für das Versehen bezahlen, indem Sie sich sofort nach dem Start aus der Umlaufbahn bei Captain Fallan melden. Er wird Ihnen als Buße vierzig Stunden Schiffsinstandhaltung zuweisen.«
Sekundenlang verharrte alles in schockiertem Schweigen, dann folgte eine Explosion von Protesten. Drake ließ den Lärm über sich ergehen und tat nichts, um ihn zum Verstummen zu bringen. Schließlich war alles wieder still.
»Ich entnehme Ihrer Reaktion, dass Sie mich für übermäßig hart halten«, sagte er.
»Verdammt richtig!«, schrie jemand aus einer der hinteren Reihen.
»Sie sollten dankbar sein, dass Sie so leicht davonkommen. Es ist wahr, dass ich Ihre unbeabsichtigte Beleidigung hätte ignorieren können. Ich hätte erläutern können, warum wir diese kuriosen Bräuche an Bord unserer Schiffe haben, und Sie bitten können, darauf einzugehen, indem Sie sich ihnen beugen. Ich hätte das tun können, aber ich unterließ es. In einer Notsituation kann sehr leicht der Fall eintreten, dass Ihr Leben von Ihrem sofortigen, bedingungslosen Gehorsam gegen meine oder Captain Fallans Befehle abhängt. Da solch bedingungsloser Gehorsam niemandem von Natur aus einfällt, habe ich mich entschieden, Sie in einer Weise zu erziehen, die Sie in Erinnerung behalten werden.«
»Und wenn wir uns weigern, klein beizugeben?«, fragte ein weißhaariger Mann in der fünften Reihe.
»Ihr Name, Sir?«
»Greg. Tobias Greg, Vertreter des Dachverbands der Gewerkschaften.«
»Gut, Mr. Greg. Meine Antwort auf bewusste Missachtung von Befehlen hängt von dem Stadium der Mission ab, in dem wir uns zum betreffenden Zeitpunkt befinden. Zum Beispiel, wenn Sie sich weigern, meinen Befehl jetzt auszuführen, werde ich Sie von den Marinesoldaten in eine der Versorgungsfähren stecken und nach Alta zurückbringen lassen. Sollte Ihre Weigerung kommen, nachdem wir die Umlaufbahn verlassen haben, könnte ich Sie erschießen lassen, um für andere ein Exempel zu statuieren.«
Mehrere Adamsäpfel hüpften auf und nieder, als ihre Eigentümer angestrengt schluckten, aber niemand meldete sich zu Wort. Drake fuhr fort: »Nun, genug davon. Wenden wir uns dem eigentlichen Grund dieser Versammlung zu. Commander Marston wird Ihnen die Expeditionsbefehle vorlesen.«
Marston tauschte den Platz mit Drake und begann langsam und gemessen zu lesen. Während sein Erster Offizier las, beobachtete Drake die Menge. Verglichen mit ihrem Verhalten vor einigen Minuten war ihre Stimmung sehr gedämpft. Als Marston geendet hatte, kehrte Drake ans Rednerpult zurück.
»Gibt es irgendwelche Fragen im Zusammenhang mit diesen Befehlen?« Als niemand antwortete, erklärte er: »Lassen Sie im Protokoll festhalten, dass es keine Einwände gab, Captain Fallan!«
»Ja, Sir!«, antwortete Fallan.
»Wird Ihr Schiff in drei Tagen startbereit sein?«
»Ja, Sir.«
»Captain Trousma?«
»Ja, Sir«, sagte der Commander des Cryogentankers Haridan und stand auf.
»Wird Ihr Schiff in drei Tagen startbereit sein?«
»Ja, Sir.«
Drake ging die Liste der Schiffsoffiziere durch und stellte jedem die gleiche Frage. Jede Antwort war eine Bestätigung. Dann begann er mit den Wissenschaftlern.
»Professor Pianovich.«
»Ja, Captain Drake.«
»Ist all Ihr Gerät an Bord und verstaut?«
»So ist es.«
»Ich hörte, dass Sie eine Klage über Ihre Kabine haben.«
Pianovich blickte unschlüssig, dann sagte er: »Nun ja, das stimmt. Es stinkt! Der Geruch ist so schlecht, dass ich nachts nicht schlafen kann. Ich habe Captain Fallan gebeten, mir eine andere Kabine zuzuweisen.«
»Captain Fallan!«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie eine überzählige Kabine für Professor Pianovich?«
»Nein, Sir. Es sei denn, er möchte in eines der Gemeinschaftsquartiere mit Etagenbetten umziehen.«
»Möchten Sie bei den Marinesoldaten schlafen, Professor?«
»Ich denke, meine Stellung berechtigt mich zu einer Einzelkabine.«
»Selbstverständlich. Sie haben eine Einzelkabine, Sir.«
»Aber sie stinkt!«
»Antrag abgelehnt. Wenn Sie den Geruch nicht ertragen können, packen Sie Ihre Sachen und melden Sie sich im Büro des Quartiermeisters. Er wird Ihnen einen Platz an Bord einer der zurückkehrenden Fähren besorgen.« Drake wandte den Blick von dem weißhaarigen Astronomieprofessor und gab vor, die plötzliche Röte in dessen Gesicht nicht zu bemerken.
»Es tut mir leid, wenn andere unter Ihnen unter ähnlichen Unbequemlichkeiten zu leiden haben. Aber dies ist ein altes Schiff mit einer bewegten Vergangenheit und voll von unangenehmen Gerüchen. Je eher wir es reinigen und in Ordnung bringen, desto eher wird das Problem beseitigt. Nun, Mr. Hamadi, ich glaube, Sie hatten eine Beschwerde ...«
Nach der Abreibung, die er Pianovich gegeben hatte, entdeckte Drake, dass niemand sonst an irgendetwas Anstoß zu nehmen schien. Er fuhr fort, seine Liste zu verlesen, und fragte jede Person der Reihe nach, ob sie bereit sei, die Reise anzutreten. Alle erklärten ihre Bereitschaft. Er beendete seine Verlesung mit Bethany Lindquist.
»Miss Lindquist, ist die Repräsentantin der Erde bereit, die Reise anzutreten?«
»Ich bin es, Captain Drake«, sagte sie mit klarer, fester Stimme.
»In diesem Fall, meine Damen und Herren, gebe ich hiermit den folgenden Befehl an alle Schiffe aus: Einsatzgruppe 001, Interstellare Expedition Eins, wird die Umlaufbahn um Alta am fünfzehnten Apollo 2637, um zwölf Uhr verlassen, heute in drei Tagen. Ich fordere jeden von Ihnen auf, dass Sie Ihren Bedarf und Ihr Gerät noch einmal auf Vollständigkeit überprüfen. Wenn etwas bis zum Start nicht an Bord ist, werden Sie ein halbes Standardjahr ohne es auskommen müssen. Sofern es keine weiteren Fragen gibt, erkläre ich diese Versammlung für beendet. Bitte stehen Sie auf und warten Sie, bis ich den Raum verlassen habe.«
Diesmal folgten alle der Aufforderung. Drake schritt hinaus in den Korridor, gefolgt von Captain Fallan und Commander Marston. Als sie eine Biegung umrundet hatten, wandte sich Drake an seinen alten Kollegen.
»Nun, Kenil, wie fandest du meine Vorstellung?«
Fallan grinste. »Ich dachte, mehreren Leuten würden die Gebisse herausfallen, als du ihnen den Befehl gabst, sich zur Arbeit zu melden.«
»Und Sie, Mr. Marston? Glauben Sie, dass ich mit Pianovich zu hart umgesprungen bin?«
»Sie mussten es mit jemandem machen, Captain. Es war sein Pech, dass er oben auf Ihrer Liste stand.«
Fallan nickte. »Sie haben Recht, Mr. Marston. Es musste eine Lektion erteilt werden.«
»Vielleicht, Kenil. Aber damit habe ich dir ein Problem hinterlassen. Du hast jetzt zumindest einen sehr zornigen Wissenschaftler am Hals, und wahrscheinlich noch viel mehr. Ich glaube, wir sollten überlegen, wie du deine Passagiere wieder in eine kooperative Stimmung bringen kannst.«
»Richtig. Gehen wir in mein Büro.«
»Gut. Zeig uns den Weg.«
Zwei Tage später traf Carl Aster in der Messe der City of Alexandria auf Mikhail Pianovich; beide warteten in der Schlange vor der Kaffeemaschine. Ihre Positionen in der Reihe waren nicht ganz zufällig. Aster hatte gemerkt, wohin Pianovich steuerte, und hatte sich beeilt, vor ihm dort zu sein.
»Hallo«, sagte er und reichte Pianovich eine leere Tasse und Untertasse, bevor er sich selbst bediente.
»Selber hallo«, erwiderte Pianovich.
»Ich wollte Ihnen schon vorher sagen, dass Sie meiner Meinung nach mit Ihrer Kabine benachteiligt wurden. Wie ist der Geruch?«
Pianovich hob die Schultern. »Ich habe daran gearbeitet. Es ist mittlerweile erträglich.«
»Drake hätte Sie nicht so behandeln dürfen. Er hätte keinen von uns so behandeln sollen! Wir haben Besseres zu tun, als für die Marine Farbe abzukratzen!«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Pianovich. »Ich arbeite gern mit den Händen. Ich finde, es gibt mir Zeit zum Denken.«
»Mir macht es keinen Spaß, das kann ich Ihnen sagen! Kein bisschen!«, sagte Aster, als er die Tasse füllte, die Pianovich unter den Hahn der Kaffeemaschine hielt. Als beide Tassen gefüllt waren, geleitete Aster den Professor zu einem Tisch.
»Kann ich etwas für Sie tun, Mr. Aster?«, fragte der Astronom.
Aster beugte sich näher und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Ja, Sie können, Professor. Ich würde Sie gern mit jemandem zusammenbringen.«
Der Astronom blickte sich in der Messe um. »Wen meinen Sie?«
»Nicht hier. Gehen wir wohin, wo wir ungestört sprechen können.«
Pianovich zuckte die Achseln. »Warum nicht? Ich habe in der nächsten Stunde nichts zu tun.«
Aster führte den Astronomen halb um eines der dem Schiffsumfang folgenden Decks und eine Treppe hinunter zu dem Teil, wo die Einzelkabinen waren. Unterwegs bemerkte Pianovich, dass die geringe Schwerkraft ihm das Gefühl gab, zehn Jahre jünger zu sein.
Aster machte vor einer Kabinentür halt und klopfte. Eine gedämpfte Frauenstimme forderte ihn zum Eintreten auf. Er öffnete die Tür und ließ Pianovich den Vortritt. In der Kabine saß Alicia Delevan an einem winzigen Schreibtisch.
»Willkommen, Professor Pianovich. Bitte setzen Sie sich«, sagte sie und zeigte zu einem Sessel, der den freien Raum der Kabine beinahe zur Gänze ausfüllte. Pianovich setzte sich, während Aster sich auf das Klappbett niederließ. »Ich bat Mr. Aster, dieses Gespräch zu arrangieren, weil ich vermeiden wollte, dass gewisse Leute Sie mit mir zusammen sehen.«
»Welche Leute?«
»Nun, Stanislaw Barrett zum Beispiel. Und Captain Fallan. Ich glaube, wir sehen uns beide mit einer Situation konfrontiert, in der wir gemeinsame Interessen haben. Vielleicht können wir einander helfen.«
»Welche Interessen?«
»Sie scheinen nicht allzu glücklich mit Ihrem Los als Dr. Gordons Untergebener an Bord dieses Schiffes.«
»Wenn ich es nicht bin, so ist das meine Sache.«
»Richtig«, fuhr Alicia Delevan unverdrossen fort. »Ich bin unglücklich, weil diese Expedition von den Sozialdemokraten organisiert wurde und ihnen auf Kosten meiner Partei nützen wird.«
»Ich dachte, es sei ein Unternehmen der Streitkräfte.«
»Das ist es. Aber die Admiralität empfängt ihre Befehle vom Ministerpräsidenten, der Sozialdemokrat ist. Und er ist es auch, der den Versuch unternimmt, diese Expedition zu einer propagandistischen Goldgrube für sich selbst und seine Partei zu machen.«
»Wie könnte er das tun?«
»Liegt es nicht auf der Hand? Indem er seine Leute gut und meine Leute schlecht aussehen läßt. Glauben Sie mir, Professor, die Techniken sind uralt und erprobt in ihrer Wirkung – das heißt, solange eine Seite vollständige Kontrolle über die Informationspolitik hat und damit beherrschenden Einfluss auf die Medien ausüben kann. Wenn aber beide Seiten Zugang zu den Informationsquellen haben, wird die Partie ausgeglichener.
Hier könnten Sie mir von größtem Nutzen sein. Ich benötige einige ehrliche Makler in der wissenschaftlichen Gemeinde an Bord dieses Schiffes, die mir die gleichen Informationen zur Verfügung stellen, die Stan Barrett über Captain Drake erhält. Ich bitte um nichts Ehrenrühriges oder Unkorrektes, nur dass Sie mir zu fairen Wettbewerbschancen verhelfen.«
»Was habe ich davon?«
»Die Befriedigung, zu wissen, dass Sie den Beauftragten des Ministerpräsidenten auf die Finger gesehen haben, und dass Sie einflussreiche Freunde in der Regierung haben werden, sollten Sie jemals welche brauchen. Schließlich wird dies nicht die letzte Expedition sein, die wir auf den Weg schicken, um die Struktur des Faltraumes zu kartieren. Ich denke, die Position eines wissenschaftlichen Leiters einer künftigen Expedition würde innerhalb der Reichweite eines Mannes von Ihren Fähigkeiten und Leistungen sein.«
Pianovich zog die Stirn in Falten. »Ich muss mir das durch den Kopf gehen lassen.«
»Selbstverständlich«, sagte Alicia Delevan. »Sie können mir Ihre Antwort morgen geben, wenn Sie wollen.«
Um Treibstoff zu sparen, wurde die Reise zum Valeria-Napier-Faltpunkt mit einer relativ bescheidenen Beschleunigungsrate von einem halben g gemacht. Sie dauerte 125 Stunden.
»Wie ist der gegenwärtige Status der Alexandria, Mr. Slater?«, fragte Drake seinen Nachrichtenoffizier von seinem Platz auf der Brücke der Discovery.
»Sie muss mit der Treibstoffübernahme von der Suitana beinahe fertig sein, Sir. Haridan steht bereit, unsere Treibstofftanks aufzufüllen.«
Drake nickte. »Sagen Sie Captain Trousma, dass wir die Triebwerke in zwei Minuten ausschalten. Er kann mit dem Annäherungsmanöver beginnen, sobald er unsere Plasmawolke erlöschen sieht. Geben Sie die Bekanntmachung durch.«
Einen Augenblick später hallte Karl Slaters Stimme aus den Bordlautsprechern: »Achtung, Schwerelosigkeit in zwei Minuten. Ich wiederhole: In zwei Minuten Schwerelosigkeit zum Auftanken.«
Drake wandte sich wieder dem großen Projektionsschirm vor dem vorderen Schott des Brückenraumes zu. Er zeigte ein dreidimensionales schematisches Diagramm. Der Faltpunkt war durch eine Anzahl von Konturenlinien dargestellt. Diese Linien, die geringfügige Abweichungen der örtlichen Gravitationskonstante darstellten, liefen an einem Punkt zusammen und trennten sich wieder. Drake ließ die schematische Darstellung auf den Konvergenzpunkt zentrieren und vergrößern. Einen Augenblick später veränderte sich das Diagramm. Der Konvergenzpunkt nahm fast den gesamten Schirm ein. Um ihn war ein undeutlicher roter Ellipsoid zu sehen; er zeigte, wo die lokale Krümmung des Raumes den kritischen Wert überschritt. Er war tatsächlich der äußere Umriss des Faltpunktes selbst.
Zwei Paare kleiner goldener Funken bewegten sich in der Projektion langsam auf die rote Ellipse zu. Das waren die Schiffe der Einsatzgruppe 001. Sie folgten einer Verlangsamungskurve, die sie in wenigen Minuten relativ nahe am Faltpunkt zum Stillstand im Raum bringen würde. Zu diesem Zeitpunkt würden sie jedoch schon innerhalb des Ellipsoids sein und – wenn alles gut ging – das System Valeria verlassen, um mehr als hundert Lichtjahre entfernt im System Napier herauszukommen. Das führende Paar der goldenen Funken waren Discovery und Haridan, das nachfolgende City of Alexandria und Suitana.
»Bereit für Schwerelosigkeit, Captain«, sagte Lieutenant Cristobal von der Navigationsstation.
»Schalten Sie ab, wenn Sie bereit sind.«
»Triebwerke ausgeschaltet, Captain.«
Eine Serie von Alarmsignalen ertönte, und dann kam das vertraute, momentane Gefühl, zu fallen, als Drake gegen die Gurte gedrückt wurde. Die Darstellung der Projektion wurde umgeschaltet auf eine Außenkamera am Rumpf. In der Mitte des Bildes lag eine kleine silbrige Kugel. Winzige Funken von Fluglage-Steuerungsdüsen blitzten auf ihrer Oberfläche, und sie begann zu wachsen. Haridan war viermal so groß wie die Discovery, doch trotz seiner gewaltigen Abmessungen benötigte der Tanker nur ein Dutzend Mann Besatzung, denn der größte Teil seines Volumens bestand aus isolierten Tankabteilungen, die bis zum Rand mit cryogenischem Wasserstoff gefüllt waren.
Der Tanker näherte sich langsam und glich seine Geschwindigkeit an. Dann wurde eine ferngesteuerte, isolierte Leitung über den Abstand von zweihundert Metern Raum geschossen, der die zwei Schiffe trennte, fand mit der mathematischen Genauigkeit der Computerkontrolle den Treibstoffeinfüllstutzen des Schlachtkreuzers und schloss sich an. Während der nächsten zehn Minuten floss Wasserstoff bei einer Temperatur von zwei Grad über dem absoluten Nullpunkt durch die Leitung, um die Tanks der Discovery aufzufüllen. Danach zog der Tanker die Leitung wieder ein und trieb langsam ab in sicherere Distanz.
»Captain Trousma meldet Abschluss des Auftankens«, sagte Slater über die Bordsprechanlage.
»Sehr gut. Schaffen Sie eine Konferenzschaltung für die Kapitäne.«
»Zu Befehl, Sir.«
Eine Minute später blickte Drake in die Gesichter der Kapitäne Fallan, Trousma und Lee – Letzterer war der kommandierende Offizier der Suitana. »Nun, meine Herren, es sieht so aus, als ob wir angekommen wären. Ich bitte um die Statusmeldungen.«
» Alexandria, bereit zum Sprung.«
» Haridan, bereit zum Sprung.«
» Suitana, bereit zum Sprung.«
»Und auch die Discovery ist bereit zum Sprung«, sagte Drake.
»Gut, Sie kennen Ihre Anweisungen. Wir gehen zuerst. City of Alexandria folgt uns eine Minute später, dann Haridan und Suitana in den gleichen Abständen. Schalten Sie Ihre Computer zu, und wir beginnen die letzte Annäherung.«
Drei Bestätigungen folgten, bevor die Bildschirme erlöschten. Drake rief seinen Chefingenieur. »Alles bereit, Mr. Arnam?«
»Bereit, Captain. Masseumwandler unverändert.
Strahlungsabschirmung hat einen Verdünnungsfaktor von Zehn gemessen.«
»Alles bereit, Mr. Marston?«
»Gefechtsstationen sind besetzt und einsatzbereit. Faltraumgeneratoren eingeschaltet, nur der Computer der Springertriebwerke wartet noch auf die Eingabe der Autorisationscodes, um einsatzbereit zu sein.«
»Bleiben Sie in Bereitschaft. Mr. Cristobal.«
»Ja, Captain?«
»Bringen Sie das Schiff auf null Komma fünf g.«
»Zu Befehl, Sir.«
Wieder ertönten die Alarmglocken, und das Gewicht kehrte zurück. Wieder änderte sich das Bild der Projektion. Das nahe herangerückte Schema des Faltpunktes beherrschte die Darstellung. Diesmal waren die goldenen Funken dem roten Ellipsoid beträchtlich naher gerückt. Drake schaltete die Bordsprechanlage ein.
»Wir sind bereit für Sie, Miss Lindquist.«
Bethany, die ihren Platz neben dem Navigator gefunden hatte, blickte über die Schulter zu Drake.
»Ich bin auch bereit, Captain Drake.«
»Zwei Minuten bis zum Übergang. Bitte autorisieren Sie unseren Gebrauch des Computers.«
Bethany widmete sich wieder ihrer Arbeitsstation. Ihre Konsole war eine Standardausführung, mit der einen Ausnahme, dass über der Tastatur eine undurchsichtige Kunststoffhaube angebracht war, die Außenstehenden verwehrte zu sehen, welche Tasten sie betätigte. Drake war der Meinung, die Vorsichtsmaßnahme sei überflüssig, denn jeder aufeinander folgende Faltraumübergang würde einen anderen fünfzehnstelligen Autorisationcode erfordern, der nur Bethany Lindquist und Clarence Whitlow bekannt war. Die Kenntnis des jeweils vorausgegangenen Codes würde beim nächsten Übergang also nicht helfen. Nichtsdestoweniger hatte Clarence Whitlow auf der zusätzlichen Sicherheit einer visuellen Abschirmung bestanden, und Drake hatte sie anbringen lassen.
Sein Platz auf der Brücke gab ihm einen Überblick über alle Arbeitsstationen im Raum. Er beobachtete Bethanys Handgelenke, während ihre Finger sich unter der Haube bewegten. Einen Augenblick später erschien eine Botschaft auf dem Bildschirm:
FALTPUNKTÜBERGANG AUTORISIERT
»Danke, Miss Lindquist. Sobald wir am anderen Ende herauskommen, autorisieren Sie bitte unsere sofortige Rückkehr für den Fall, dass wir einen überstürzten Rückzug antreten müssen.«
»Kein Problem, Captain«, antwortete sie. »Die Rückkehrautorisation ist immer aktiv.«
Auf dem großen Projektionsschirm trat der erste kleine goldene Funken in die unscharfe Übergangszone des roten Ellipsoids ein. Das Sichtzeichen begann rasch zu blinken. Drake schaltete die Gegensprechanlage ein. »In Ordnung, Mr. Cristobal. Sie sind am Zug. Machen Sie den Sprung, wenn Sie bereit sind.«
»Jawohl, Sir. Fünfzehn Sekunden zum Übergang ... Generatoren eingeschaltet. Das Springerfeld baut sich auf. Zehn Sekunden ... Fünf, vier, drei, zwei, eins ... null!«