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Unter Laien herrscht die verbreitete Ansicht, dass die Brücke eines Raumschiffes irgendwo in der Nähe des Schiffsbugs liegen müsse. In Wahrheit ist das so gut wie nie der Fall. Die Discovery war durch ihre Bauweise, die aus einem Zylinder und einem Ring bestand, für eine derartige Anordnung besonders ungeeignet. Wie bei den meisten Kriegsschiffen befand sich die Brücke des Kreuzers am sichersten Ort, den die Konstrukteure finden konnten – in der Mitte der Innenkurve des Ringes.

Tatsächlich besaß die Discovery drei Kontrollräume, von denen jeder allein imstande war, die Aufgaben der Navigation, der Überwachung der Bordsysteme und die Funktionen einer Feuerleitzentrale zu übernehmen, sollte die Notwendigkeit entstehen. Für normale Operationen gab es jedoch eine traditionelle Arbeitsteilung zwischen den drei Nervenzentren. Kontrollraum 1 versah die üblichen Funktionen einer Brücke: Navigation, Kommunikation und Steuerung; Nummer 2 diente als Feuerleitzentrale für Waffen und Sensoren; Nummer 3 diente dem Chefingenieur zur Überwachung der Bordfunktionen und der Energieerzeugungs- und Antriebssysteme.

»Beginnen Sie mit der Startzählung, Mr. Cristobal«, befahl Drake, als er sich im Kontrollraum 1 auf seinem Platz anschnallte. Weniger als eine Stunde war vergangen, seit er an Bord der Discovery gekommen war, und fünf Minuten, seit er Stan Barrett in einer der Gästekabinen zwei Decks achtern angeschnallt hatte. Die Schiffsrotation hatte aufgehört, und das Innere des Habitatringes war wieder in Schwerelosigkeit. Drake hörte die kurzen Bereitschaftsmeldungen aus den verschiedenen Abteilungen des Schiffes, während er darauf wartete, dass die roten Nummern auf dem Bildschirm vor ihm auf Null heruntergingen. Die Stimme von Lieutenant Argos Cristobal, des Navigators der Discovery, rief fest und deutlich die verbleibenden Sekunden ab: »Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins ... Start!«

Ein zusätzlicher Bildschirm leuchtete auf, als eine am Habitatring befestigte Kamera den Glutschein aufnahm, der plötzlich aus dem Achterende des zentralen Torpedokörpers der Discovery hervorbrach. Theoretisch hätte der Photonenantrieb des Kreuzers im Vakuum des Raumes unsichtbar bleiben sollen. Überschüssiges Plasma aus den Masseumwandlern des Schiffes wurde jedoch in den Abgasstrom der Triebwerke gepumpt und ließ den Ausstoß rötlich weiß erstrahlen, als die Discovery ihre Parkumlaufbahn verließ und Kurs auf die Schwärze des tiefen Raumes nahm. Drake beobachtete die Instrumente mehrere Minuten lang; als er sich vergewissert hatte, dass das Schiff in Ordnung war, wählte er die Nummer von Barretts Kabine. »Wie kommen Sie zurecht?«

Der Sonderbeauftragte lag entspannt in einem rückklappbaren Ruhesessel, der wie eine Kreuzung zwischen Wasserbett und Badewanne aussah. Er grinste in die Kameralinse. »Kein Problem, Captain. Es ist nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte.«

Drake lachte. »Das liegt daran, dass wir erst bei einem g Beschleunigung sind. Wir werden sie beibehalten, bis wir die innere Verkehrszone hinter uns haben. Sie können aufstehen, wenn Sie wollen, verlassen Sie aber Ihre Kabine nicht. Und kehren Sie zurück an Ihren Platz, sobald Sie die erste Beschleunigungswarnung hören.«

»Wird gemacht.«

Eine Stunde später beschleunigte das Schiff entlang einer normalen Startspirale mit einem g, während Besatzungsmitglieder an der Arbeit waren, ganze Räume und Abteilungen von der ›Außen-ist-unten‹-Orientierung der Parkumlaufbahn in die ›Achtern-ist-unten‹-Orientierung der Beschleunigungsphase umzubauen. Die einzigen Räumlichkeiten, die dieser Umwandlung nicht bedurften, waren die Kontrollräume, die kardanisch aufgehängt waren, um das Deck horizontal zu halten, und die größeren Abteilungen wie Hangarbucht und Maschinenraum, die so konstruiert waren, dass unabhängig von der Richtung des ›Unten‹ jederzeit Zugang möglich war.

»Die Verkehrsüberwachung meldet, dass wir die innere Zone verlassen haben und freizügig navigieren können, Captain«, berichtete Lieutenant Cristobal.

»Das wurde Zeit! Bringen Sie das Schiff auf unseren Kurs, Mr. Cristobal.«

»Ja, Sir. Welchen Vektor?«

»Sie werden den Flugplan bereits im Computer finden.«

Cristobal rief die Einstellung auf seinem Bildschirm ab und runzelte die Stirn. »Ich bekomme einen Nordkurs mit drei Komma fünf g Beschleunigung, Captain.«

»Das ist richtig, Lieutenant. Geben Sie ihn ein.«

»Jawohl, Sir.«

Drake hatte die unausgesprochene Frage in der Stimme des Navigators gehört, als der Mann festgestellt hatte, dass sie einen Kurs nahmen, der neunzig Grad von der Ekliptik Valerias abwich. Er musste lächeln, als er an die bevorstehende Überraschung dachte; dann wählte er die Nummer der Nachrichtenzentrale. »Mr. Slater, ich werde in fünf Minuten das Wort an die Besatzung richten, machen Sie die Ankündigung.«

»Ja, Sir.« Ein paar Sekunden später drang Lieutenant Karl Slaters Stimme überall im Schiff aus den Deckenlautsprechern.

»Achtung, alle Stationen. Der Captain wird in fünf Minuten eine Erklärung abgeben. Halten Sie sich bereit.«

Das Schiff begann sein Wendemanöver mit eingeschaltetem Antrieb; die dabei entstehenden Corioliskräfte wirkten seltsam auf den Gleichgewichtssinn. Zwei Minuten später meldete Cristobal: »Manöver ausgeführt, Captain. Bereit zur Beschleunigung.«

»Sehr gut, Lieutenant. Nachrichtenmaat, verbinden Sie mich mit dem Chefingenieur.«

»Hier Chefingenieur, Sir.«

»Ich hörte, Sie hatten einen störrischen Computer, Gavin.«

»Nichts, womit wir nicht fertig werden können, Captain.«

»Glauben Sie, dass Sie aus dem alten Eimer dreieinhalb g herausquetschen können?«

»Kein Problem.«

»Dann halten Sie sich bereit für Dauerbeschleunigung gleich nach meiner allgemeinen Durchsage.«

»Verstanden, Captain.«

Drake rief nacheinander die verschiedenen Abteilungen an und ließ sich von jedem leitenden Offizier den Status seiner Abteilung und ihre Bereitschaft bestätigen. Besorgnis erregend war die Personallage. Der Startbefehl war so kurzfristig ergangen, dass keine Zeit gewesen war, das Personal auf Landurlaub zurückzurufen. Die Discovery hatte die wichtigste Mission ihrer langen Geschichte mit einem Fehlbestand von zwölf Prozent ihres Personals angetreten.

Als fünf Minuten um waren, rief Drake erneut die Nachrichtenabteilung an. »Schalten Sie mich jetzt auf den Kanal für öffentliche Durchsagen.«

»Fertig, Captain. Drücken Sie Kanal sechs.«

Drake sammelte seine Gedanken, befeuchtete sich die Lippen und schaltete das Mikrofon ein.

»Hier spricht der Captain. Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Ich weiß, dass Sie alle sich fragen, warum wir in solcher Eile die Umlaufbahn verließen. Dies geschah, weil wir mit einer Mission beauftragt wurden, die keinen Aufschub duldet. Vor vierundzwanzig Stunden wurde ein fremdes Raumschiff in der nördlichen Hemisphäre Valerias geortet. Wir haben den Auftrag, es einzuholen und abzufangen.«

Drake machte eine Pause, um seinen Zuhörern Gelegenheit zu geben, die Nachricht zu verdauen. Nach zwölf Sekunden setzte er seine Durchsage fort, verlas einen Auszug aus dem Befehl der Admiralität, erläuterte die Folgerungen, die sich aus einer möglichen Wiedereröffnung des Faltpunktes ergaben, und schloß mit den Worten: »Wir haben uns seit langem auf einen Fall wie diesen vorbereitet. Ich erwarte von jedem, an welchem Platz er auch stehen mag, dass er seine Pflicht tut. Bereiten Sie sich jetzt auf eine starke Dauerbeschleunigung vor. Sie haben zwei Minuten. Ein Glückauf uns allen!«

Die hundertfünfundzwanzigjährige Isolation des Systems Valeria war für die große Mehrzahl seiner Bewohner nicht mehr als eine Unannehmlichkeit gewesen, die durch Gewöhnung längst zum Normalzustand geworden war. Wirkliches Leiden – wie etwa durch Hungersnot, Seuchen oder Krieg – hatte es nie gegeben. Zumindest für Alta hätte der Zeitpunkt des Ausbruchs der Antares-Supernova kaum günstiger gewesen sein können.

Während der ganzen Geschichte hatten die hohen interstellaren Frachtkosten immer als Ansporn zur raschen Entwicklung einer eigenen landwirtschaftlichen und industriellen Versorgungsbasis gedient. So war es auch mit der Kolonie Alta gewesen. Um 2512 n.Chr. hatte sich Alta von seiner Mutterkolonie New Providence nahezu unabhängig gemacht. Die Bevölkerung war von den paar Millionen harten, anspruchslosen Pionieren der Frühzeit auf mehr als eine Milliarde angewachsen. In vielerlei Hinsicht ist eine Bevölkerungszahl von einer Milliarde Menschen die optimale Zahl für ein Sternsystem – nicht genug Münder, um eine Gefahr für das natürliche Gleichgewicht und die vorhandenen Ressourcen darzustellen, doch mehr als genug Hände und Köpfe, um eine moderne, technische Zivilisation zu erhalten. Rohstoffe und Bodenschätze waren niemals ein ernstes Problem gewesen. Das Einzige, was die Bedeutung der Eisen- und Buntmetallproduktion übertraf, war die landwirtschaftliche Produktion, deren Erzeugnisse zum größten Teil aus den weiten, fruchtbaren Ebenen des altanischen Ostkontinents kamen. Dieser Kontinent war mit einem idealen Klima für irdische Feldfrüchte gesegnet. Seit fünfzig Jahren hatte Altas Kornkammer immer wieder neue Rekordernten eingebracht.

Obwohl der Verlust des Faltpunktes relativ wenig Einfluss auf das physische Wohlergehen der Kolonie gehabt hatte, ließ sich das Gleiche nicht von den psychologischen Auswirkungen sagen. Die Nachricht vom Verschwinden des Faltpunktes verbreitete sich in Windeseile, und verschiedentlich kam es zu Panik. Im Lauf der ersten Woche war die Zahl der Selbstmorde auf mehr als zehntausend angestiegen. Und in den nächsten fünfzehn Monaten, die das altanische Jahr ausmachten – weil Alta so lange benötigte, um den Zentralstern Valeria einmal zu umkreisen –, wurde über eine Million Menschen wegen mehr oder minder schweren Depressionen behandelt.

Am härtesten traf die Nachricht vom Versagen des Faltpunktes natürlich die nun im System Valeria gefangenen Fremden. Zu diesen zählten die Besatzungen verschiedener Raumschiffe von anderen Systemen sowie der Botschafter der Erde in Alta. Dieser war ein Mann namens Granville Whitlow, der erst 2510 als jüngster Botschafter im diplomatischen Dienst der Erde in Homeport eingetroffen war. Seine Laufbahn sah eine zweijährige Dienstzeit als Botschafter ›bei den Kolonisten‹ vor, worauf er heimkehren und anderswo einen wichtigeren Posten übernehmen sollte.

Wie viele andere der auf Alta festsitzenden Ausländer (und nicht wenige Altaner), klammerte sich Whitlow an die Hoffnung, dass die Störung des Faltpunktes nur vorübergehend sein würde. Er verbrachte seine Zeit mit Warten auf den Zeitpunkt, da der Faltpunkt sich von selbst wieder etablieren würde, und tat im Übrigen so, als hätte sich nichts geändert: Er versah seine Pflichten, half gestrandeten Touristen mit Pässen und Überbrückungsdarlehen, veranstaltete Feste für das kleine diplomatische Korps von Homeport und betätigte sich in Fragen, die von Interesse für die Zentralregierung waren, als Lobbyist beim altanischen Ministerpräsidenten und den Parlamentsabgeordneten . Zu seinen Obliegenheiten gehörte die Versorgung und Instandhaltung von drei Einheiten der Großen Flotte, die im System Valeria festsaßen. Eine Zeit lang bezahlte Whitlow diese Unkosten wie auch den Sold der Schiffsbesatzungen aus den ihm zur Verfügung stehenden Etatmitteln. Als diese zur Neige gingen, gab er Schuldscheine zu Lasten der Zentralregierung aus. Auch diese Regelung hatte nicht lange Bestand. Als Lieferanten und altanische Regierungsstellen zu argwöhnen begannen, dass der Verlust des Faltpunktes von Dauer sein könnte, verlangten sie Zahlung in harter Währung. Ungefähr zur gleichen Zeit, als seine Kreditquellen auszutrocknen begannen, sah sich der Botschafter der Erde einer weiteren Krise gegenüber. Nachdem ihre Dienstzeiten abgelaufen waren, auf die sie sich verpflichtet hatten, machten immer mehr Besatzungsmitglieder von ihrem Recht Gebrauch, aus dem Militärdienst auszuscheiden und sich auf Alta eine Existenz aufzubauen.

Als runde 20 Prozent der Besatzungen das freie Leben auf dem Planeten gewählt und dem eintönigen Garnisonsdienst in Parkumlaufbahnen den Rücken gekehrt hatten, trat Granville Whitlow mit einem Angebot an die Regierung und das Parlament Altas heran. Er schlug vor, das durch die Isolation vom Rest des besiedelten Raumes entstandene Machtvakuum durch die Schaffung einer altanischen Streitmacht auszufüllen. Als Kern dieser Streitmacht bot er die drei gestrandeten Schlachtkreuzer an, die er der altanischen Regierung ›für die Dauer des gegenwärtigen Notstands‹ zur Verfügung stellen wollte. Seine Überlegung war, dass die Kolonialregierung verpflichtet sein würde, die Kreuzer instand zu halten, zu versorgen und mit Personal zu versehen, sobald sie die Befehlsgewalt über sie ausübte.

Die Entscheidung zur Aufgabe der Schlachtkreuzer war Whitlow nicht leicht gefallen. Später betonte er gern, es sei die schwerste Entscheidung gewesen, zu der er sich jemals habe durchringen müssen. Denn als Kenner der Geschichte war ihm klar, dass Jahre der Trennung unausweichlich zu einer Lockerung der Bande von Verwandtschaft und Freundschaft zwischen der isolierten Kolonie und der Mutterwelt führen mussten. Ohne interstellaren Handel und ohne gemeinsame Interessen würden die beiden Gesellschaften zwangsläufig verschiedene Wege gehen. Er sorgte sich, dass beide eines Tages in Konflikt miteinander geraten und womöglich sogar in einen Krieg verwickelt werden würden.

Im Jahr 2512 war der Gedanke, das winzige Alta könne die mächtige Erde angreifen, beinahe zu lächerlich, um einen Gedanken darauf zu verschwenden. Granville Whitlow war jedoch ein Mann, der dank seiner Ausbildung als Diplomat langfristig zu denken gewohnt war, und er nahm seine Verantwortung als Repräsentant der Erde sehr ernst. Bevor er der altanischen Regierung die Überlassung seiner kleinen Flotte anbot, beschloss er, dass, sollte Alta jemals Krieg gegen die Erde führen, dies ohne die Hilfe seiner drei Schlachtkreuzer geschehen würde.

»Onkel, wo bist du?«

»Hier draußen, Kind!«

Bethany Lindquist schloss die Tür hinter sich und ging durch Clarence Whitlows geräumiges Haus dem Klang seiner Stimme nach. Whitlow war der Urenkel Granville Whitlows und der ältere Bruder von Bethanys Mutter. Als sie und Bethanys Vater bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, nahm Clarence Whitlow die Zehnjährige in sein Haus auf und erzog sie als sein eigenes Kind. Jetzt, achtzehn Standardjahre später, lebte sie in der Stadt und besuchte ihn mehrmals im Jahr in seinem Haus in den Vorbergen des Colgate-Gebirges.

Bethany fand ihren Onkel im Solarium bei der Pflege seiner Rosen. Sie schlängelte sich zwischen den stachligen Pflanzen durch Rosenduft zu der Stelle, wo er einen Rosenstrauch beschnitt, der sich zwei Meter aus der Mitte eines Labyrinths komplizierter Rohrleitungen erhob. Als sie dem gebeugten, weißhaarigen Mann im schmutzigen Gärtnerkittel gegenüberstand, küsste sie ihn zärtlich auf die Stirn. »Wieder mal bei deinen Pflanzen, Onkel?«

Er nickte. »Nächsten Monat ist in Homeport die Blumenschau, und dieses Jahr möchte ich ein blaues Band gewinnen.«

»Du hättest schon letztes Jahr gewinnen sollen!«

Er lachte. »Das finde ich auch, aber wir sind beide voreingenommen. Was bringt meine Lieblingsnichte so weit aus der Stadt?«

Sie zuckte die Achseln. »Kein bestimmter Grund. Ich wollte bloß meine Familie besuchen. Ist das ein Verbrechen?«

Whitlow antwortete nicht gleich. Stattdessen legte er umständlich seine Gartenschere weg und zog die dicken Arbeitshandschuhe aus. Dabei betrachtete er seine Nichte. Was er sah, war eine junge Frau von etwas mehr als durchschnittlicher Größe, mit einer wohlproportionierten Figur und von anmutiger Haltung. Schulterlanges, kastanienbraunes Haar rahmte ihr Gesicht ein. Sie hatte klare graue Augen und einen Mund, der für den Rest ihrer Züge ein wenig zu groß war, aber der Gesamteindruck war der unauffälliger Schönheit. Zum hundertsten Mal musste er an die Verwandlung denken, die eine verängstigte Zehnjährige zu dieser schönen jungen Frau gemacht hatte. Wo waren all die Jahre geblieben?

»Deine Worte passen nicht zu deiner Haltung, Kind. Du bist so nervös, wie ich dich selten gesehen habe. Nun sag, was hast du auf dem Herzen?«

Ihr Ausdruck wurde nachdenklich, und sie tat einen tiefen Atemzug, bevor sie antwortete. »Carl hat mir einen Heiratsantrag gemacht.«

»Meinst du Carlton Aster?«

»Wen sonst?«

Whitlow nickte. Aster war Assistent und Berater von Jonathan Carstairs, dem Führer der oppositionellen Konservativen Partei im Parlament. Whitlow schätzte Aster nicht sonderlich, doch war er als Botschafter der Erde kraft Erbfolge zu vorsichtig, um es sich anmerken zu lassen. Er war mehrere Male in offiziellen Angelegenheiten mit dem jungen Mann zusammengekommen und hatte ihn bald als einen Opportunisten abgestempelt, einen unaufrichtigen Händeschüttler jenes Typs, der sich stets von der Politik angezogen fühlt. Ein prüfender Blick in Bethanys Gesicht sagte ihm, dass er nicht das Recht hatte, dieser Einschätzung Ausdruck zu geben. »Liebst du ihn?«

»Ich glaube schon.«

»Das klingt nicht sehr überzeugt.«

»Ich habe manchmal meine Zweifel. Das ist normal, nicht?«

Whitlow zuckte die Achseln. »Mag sein. Möchtest du einen Rat?«

»Von dir, Onkel? Natürlich.«

»Lass dir Zeit mit deiner Antwort auf seinen Antrag. »Heirat in Eile bereut man alleweile‹, sagt ein jahrhundertealtes Sprichwort.«

»Ich möchte, dass du ihn kennen lernst.«

»Ich bin ihm schon begegnet.«

»Ich spreche nicht von geschäftlichen Dingen. Ich möchte gern, dass ihr zwei euch privat kennen lernt. Gesellschaftlich. Kannst du nächste Woche nach Homeport kommen und mit uns zu Mittag essen?«

»Zu dumm, dass ich gestern nicht davon wusste. Dann hätten wir zusammen essen gehen können.«

»Ach, du warst in der Stadt?«, fragte Bethany überflüssigerweise.

Whitlow nickte. »Ich war in der Botschaft, um ein paar alte Akten durchzusehen.«

Bethany ächzte. »Nicht die Admiralität, Onkel, wirklich!«

Whitlow lächelte und breitete resigniert die Hände aus. Dass er darauf bestand, seinen Pflichten nachzugehen, hatte immer zu Reibungen zwischen ihnen geführt. Bethany behauptete, dass die Leute ihn hinter seinem Rücken auslachten und sagten, er sei ein alter Mann, der sein Leben mit Träumen von vergangenem Ruhm verbracht habe. Er glaubte selbst, dass sie Recht hatte. Der Umstand aber, dass er die Zielscheibe des Spottes seiner Nachbarn war, würde ihn niemals davon abhalten, seine Pflicht zu tun. Das hatte er Bethany oft klargemacht.

»Ich fürchte, dass ich es tun musste, Bethany. Einige Diskrepanzen in den alten Einwanderungsakten bedurften der Aufklärung. Wie du dich bestimmt erinnerst, besorgtest du voriges Jahr selbst Kopien einer Anzahl von Akten aus der Universität. Ich verglich diese Daten mit den Aufzeichnungen im alten Botschaftscomputer. Es gelang mir nicht, sehr weit voranzukommen, aber die Zeit war durchaus nicht vergeudet. Gestern gab es eine Art Krise in der Admiralität, und ich verbrachte mehrere erfreuliche Stunden damit, die Aufregung zu beobachten.«

»Was für eine Krise?«

»Ich weiß es nicht. Sie wollten es mir nicht sagen. Aber sie rannten durcheinander in der heißen Sonne herum wie die Hühner. Ich sah mehrere Bekannte von der Akademie der Wissenschaften, die am Eingang empfangen und die Treppe hinauf zum Büro des Admirals geführt wurden. Das war der interessanteste Teil der ganzen Geschichte. Sie gingen mit verdrießlichen Mienen hinauf, als wären sie kurzfristig von wichtiger Arbeit abgezogen worden. Doch als sie wieder herauskamen, waren sie wie verwandelt.«

»In welcher Weise verwandelt?«

»Sie schienen ... nachdenklich und besorgt.«

»Wahrscheinlich hat der Admiral sie gebeten, die Auswirkungen der Supernova auf die Flottenkommunikation oder was zu untersuchen.«

»Könnte sein.«

»Kommst du nächste Woche zum Essen?«

»Selbstverständlich, Bethany. Ich werde sogar meine Diplomatenschärpe zu Hause lassen, um dich nicht in Verlegenheit zu bringen.«

»Ach, Onkel!«

»Nun, da wir diese Einzelheit aus dem Weg geräumt haben: Kannst du zum Abendessen bleiben?«

»Ich weiß nicht ...«

»Nicht einmal, um einen alten Mann glücklich zu machen?«

Sie lächelte. »Ich nehme an, ich kann auch später am Abend noch zurückfahren.«

»Ausgezeichnet«, sagte er und rieb sich die Hände. »Um achtzehn Uhr werden wir dann bei Kerzenschein im Innenhof speisen und zusammen Antares aufgehen sehen.«

»Das würde mir gefallen«, sagte Bethany.

»Mir auch, Kind. Mehr als du dir vorstellen kannst.«

Jonathan Carstairs, Anwalt des gemeinen Mannes, Führer der Demokratisch-Konservativen Koalition im Parlament und – wenn bestimmte politische Erwartungen sich erfüllten – nächster Ministerpräsident der Republik Alta, saß in seinem Büro und verfluchte den Tag, an dem er von der Antares-Supernova gehört hatte. Nicht, dass das verdammte Ding keinerlei Reiz gehabt hätte. Anfänglich war Carstairs von dem nächtlichen Phänomen bezaubert gewesen, das die Kommentatoren ›Antaresdämmerung‹ nannten. Jede Nacht wurde das Land bei Novaaufgang von einem silbernen Lichtschein überflutet, der niemanden gleichgültig ließ, der ihn sah. Im Gegensatz dazu waren Altas vier kleine Monde entschieden unansehnlich.

Aber hübsch oder nicht, die Supernova kam die Staatsfinanzen zu teuer! Mit der bläulich weißen Strahlung war ein deutlicher Anstieg der Hintergrundstrahlung im System Valeria einhergegangen. Für Alta selbst war es kein Problem, da die Atmosphäre die schädlichsten Strahlen herausfilterte, aber das Gleiche ließ sich von den Raumhabitats nicht sagen. Schon wurden im Parlament Stimmen laut, welche die Freigabe zusätzlicher Mittel zur Verstärkung der Strahlungsabschirmung der Raumstationen verlangten.

Hinzu kamen die kleineren Verdrießlichkeiten. Kinder wollten abends nicht ins Bett gehen, weil das silbrige Licht draußen den Tag verlängerte. Jugendliche trieben sich nach Sonnenuntergang mehr als bisher auf den Straßen herum, was zu einem Anstieg der Belästigungen und mutwilligen Zerstörungen geführt hatte. Auch die Zahl der Verkehrsunfälle war im Ansteigen begriffen, desgleichen asoziale Handlungen jeglicher Art. Und dann das Wetter! Die Landwirte im Brandttal machten die Nova für die Trockenheit in der Region verantwortlich, während auf den Neubritischen Inseln ganze Dörfer von Schlammlawinen begraben wurden. Beide Gruppen verlangten von der Regierung Entschädigungen und Hilfsgelder. Carstairs hatte keine Ahnung, ob die Nova das Wetter beeinflusste oder nicht, aber er wusste, wer unter Druck geraten würde, Hilfsgelder bereitzustellen und zinslose Darlehen zu garantieren, wenn die Lage sich nicht bald besserte. Woher, zum Teufel, sollte all das zusätzliche Geld kommen?

Carstairs' düstere Gedanken wurden vom Summen der Gegensprechanlage unterbrochen. Er beugte sich vor. »Ja?«

»Mr. Aster ist hier.«

»Schicken Sie ihn herein.« Carstairs drehte sich mit seinem Bürosessel zur Tür, als sein Assistent aus dem Vorzimmer hereinkam. Carl Aster erinnerte Jonathan Carstairs an sich selbst, wie er vor drei Jahrzehnten gewesen war. Carl sah gut aus, hatte gewandte Umgangsformen, Rednertalent und besaß die Fähigkeit, sich nicht allzu auffällig bei denen einzuschmeicheln, die seiner Karriere förderlich sein konnten. Wichtiger war, dass er einen politischen Instinkt zu besitzen schien, der ihm half, den Fehltritten auszuweichen, die eine beginnende politische Laufbahn ruinieren konnten. Ein solcher Fehltritt wäre es zum Beispiel, wenn er die falsche Frau heiratete. Es sah so aus, als hätte Aster die Bedeutung dieses Punktes erkannt. Carstairs billigte von Herzen die jüngste Wahl seines Assistenten. Bethany Lindquist würde die vollkommene Ergänzung eines aufstrebenden jungen Politikers sein. »Nun, was haben Sie erfahren?«, fragte er den jungen Mann.

»Die Admiralität verweigert jegliche Auskunft, Sir. Man sagte mir, die Bewegungen ihrer Schiffe unterlägen der Geheimhaltung.«

»Und Sie ließen es dabei bewenden?«

Aster lächelte. »Sie kennen mich besser, Sir. Ich rief einen Freund an, der mir eine Gefälligkeit schuldet. Die Gerüchte sind zutreffend. Die Discovery ist ausgesandt worden, ein fremdes Raumschiff zu stellen, das von außen in das System eingedrungen ist.«

Carstairs erlaubte sich den Luxus einer diskreten Verwünschung. Die Nachrichten der parlamentarischen Flüsterpropaganda waren so erstaunlich gewesen, dass er sich verpflichtet gefühlt hatte, eine Bestätigung zu erlangen, bevor er etwas unternehmen würde. Nun sah es so aus, als hätte er zu lange gewartet.

»Wie steht es mit diesen anderen Gerüchten? Ist Stan Barrett an Bord?«

»Mein Informant war nicht sicher, aber er glaubt es.«

»Verdammt! Das bedeutet, dass der Ministerpräsident uns kaltgestellt hat, Carl. Wären wir ihnen auf die Schliche gekommen, bevor dieses Schiff aus der Umlaufbahn startete, hätten wir einen oder zwei unserer eigenen Leute aus dem parlamentarischen Sicherheitsausschuss an Bord bringen können. Nun wird uns nach Lage der Dinge nichts übrig bleiben als in den Jubel einzustimmen, wenn die Sozialdemokraten den ganzen Ruhm einheimsen und damit die Unfähigkeit ihrer Regierung bemänteln.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte Aster.

»Nicht? Welche Partei wird denn die Gesichter ihrer Führer in den nächsten paar Wochen am meisten ins Rampenlicht der Medienöffentlichkeit bringen? Welche Partei wird sich damit brüsten, die Verbindung mit dem äußeren Universum wiederhergestellt zu haben? Und am schlimmsten von allen: Welche Partei wird am meisten von dieser Entwicklung profitieren und in der Wählergunst nach vorn rücken, wenn wir an unserem Plan zur Erzwingung vorgezogener Neuwahlen festhalten?«

»Was können wir tun, um wirkungsvoll zu kontern?«

»Hmm.« Carstairs rieb sich den Nacken. »Das ist ein interessantes Problem in angewandter Politik. Natürlich gibt es verschiedene Manöver, die wir ins Auge fassen könnten. Wir könnten ihre Entscheidung zur Geheimhaltung dieses Ereignisses angreifen und unsere Sache mit dem Recht der Öffentlichkeit begründen, unterrichtet zu werden. Oder wir könnten den entgegengesetzten Kurs fahren und den Medien selbst die Nachricht zuspielen, um die Regierung dann wegen mangelhafter Geheimhaltung anzugreifen. Oder wir könnten versuchen, völlig ruchlos zu sein und mit ihnen zusammenarbeiten. Diese letztere Strategie könnte uns Punkte für verantwortungsbewusstes Handeln einbringen, weil wir das Wohl des Ganzen über das der Partei stellen – als ob man die beiden voneinander trennen könnte! Wie ich schon sagte, ein interessantes Problem.«

Plötzlich richtete sich der Oppositionsführer in seinem Stuhl auf und schlug mit der offenen Hand auf die Schreibtischplatte. »Als Erstes müssen wir herausbringen, wie viel Manövrierraum wir haben. Gehen Sie nach nebenan, Carl, und vereinbaren Sie für heute Nachmittag einen Gesprächstermin mit dem Ministerpräsidenten.«

»Und wenn sein Sekretariat mich nach dem Gesprächsthema fragt?«

»Sagen Sie ihm, dass es eine Angelegenheit von größter Bedeutung für die Republik ist.«