15

Zwei Standardtage nach der Entdeckung der Universitätsbibliothek ließ Richard Drake die Bodenoperationen auf New Providence einstellen. Die Auflösung des Basislagers, der Abbau der strahlungssicheren Fertigteilbaracken und der Rücktransport des Personals und Materials nahmen danach noch mehrere Tage in Anspruch. Bethany Lindquist schob ihre Abreise auf, solange sie konnte, indem sie sich nach Möglichkeit nützlich machte. Sie verpackte Aufzeichnungen, nahm Geräte auseinander und sortierte mit anderen die Berge von Kleingegenständen und Bruchstücken, die von den Suchtrupps gesammelt worden waren. Schließlich war das Einpacken und Abtransportieren abgeschlossen, und das Auseinandernehmen der Fertigteilbaracken des Lagers musste sie den Marinesoldaten überlassen. Mit den letzten Angehörigen des wissenschaftlichen Personals stieg sie in ein Landungsboot und warf einen letzten Blick zurück zum Basislager, wo die Männer in ihren gefleckten grünen Kampfanzügen die Baracken abbauten.

Das Landungsboot stieg zur Umlaufbahn empor und dockte ohne Zwischenfall bei der City of Alexandria an. Die Passagiere warteten geduldig auf das Anbringen der Andockröhren, dann schoben sie sich im Gänsemarsch durch die Luftschleuse am Bug. Bethany verließ das Boot als vorletzte der Passagiere. Mit dem Kopf voran schwebte sie in die Andockröhre, dann zog sie sich an den Leitkabeln, die an den Wänden festgemacht waren, weiter hinein, bis sie die Mündung erreichte. Dort verhielt sie für einen Augenblick, momentan verwirrt von dem organisierten Chaos im Korridor der Schiffsachse.

Eine Kette von Besatzungsmitgliedern, die mit magnetisierten Stiefelsohlen am Metallgitter des Bodens hafteten, reichten große, schwerelose Kisten und Lattenverschläge aus der hinteren Luftschleuse des Landungsbootes weiter zu einer offenen Luke, die in einen der höhlenartigen Frachträume des Passagierschiffes führte. Zwischen dem weitergereichten Frachtgut bewegten sich Bethanys Mitpassagiere mehr oder minder geschickt nach achtern zu den drei radial nach außen abzweigenden Treppen, die zu den unteren Decks führten. Einige Leute, die sich bemühten, anderen nicht im Weg zu sein, indem sie sich an den Wänden des Durchgangs festhielten, taten ein Übriges zur Mehrung des Durcheinanders. Zu dieser letzteren Gruppe gehörte Carl Aster.

»Bethany!«

Bethany winkte mit einer Hand, während sie sich mit der anderen festhielt. Aster stieß sich von seinem Platz ab, segelte schräg durch die Kette der Ladearbeiter mit ihren Lasten, wobei er mehrere Flüche auf sich zog, und kam zielsicher neben Bethany an. Er legte ihr beide Arme um die Taille und küsste sie leicht auf die Lippen. Ein rauer Chor anfeuernder Zurufe von Zuschauern begleitete die Zärtlichkeit.

Bethany ließ den Kuss ein paar Sekunden andauern, dann versuchte sie sich von Carl Aster zu lösen. »Hör auf«, flüsterte sie. »Alle schauen her!«

»Na und?«, fragte Aster im normalen Gesprächston.

»Bestimmt haben sie alle schon gesehen, wie ein Mann sein Mädchen küsst.«

»Bitte, du bringst mich in Verlegenheit.«

Aster grinste sie an. »Gut, aber ich finde, du stellst dich schrecklich zimperlich an.« Er wandte sich zu den Ladearbeitern um. »Die Vorstellung ist beendet, Leute. Zurück an die Arbeit.«

Gelächter hallte durch den röhrenförmigen Korridor, und die Lasten setzten sich wieder in Bewegung. Bethany fühlte eine Hand auf ihrer Schulter und hörte ein Räuspern. Sie wandte den Kopf und sah Dr. Wharton geduldig in der Andockröhre hinter ihr hängen. »Ich möchte nicht gefühllos scheinen, Bethany, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich an Ihnen und diesem jungen Mann vorbeizwänge?«

»Entschuldigen Sie, Dr. Wharton.«

»Komm mit, lass uns aus dieser Menge verduften. Ich habe einen Tisch an der Bar bestellt.«

»Ich wünschte, ich könnte, Carl, aber ich bin bloß auf der Durchreise. Ich muss mich an Bord der Fähre zur Discovery melden.«

»Kein Problem. Ich habe einen Befehl für dieselbe Fähre. Sie geht erst in einer Stunde ab. Unser hochgeschätzter Expeditionsleiter hat eine Konferenz des wissenschaftlichen Personals einberufen. Sie sollen ihm erklären, was sie aus den Aufzeichnungen gelernt haben, die du gefunden hast, bevor wir wieder starten.«

»Dann ist es schon entschieden, dass wir die Umlaufbahn verlassen?«

»Es verlautet gerüchtweise.«

»Wann soll es losgehen, und wohin?«

»Umgehend, wenn du der Version des zweiten Hilfskochs Glauben schenken willst. Über das Ziel gehen die Meinungen auseinander. Einige sind überzeugt, dass Drake die Heimreise anordnen wird, um Parlament und Regierung vor der Drohung der Ryall zu warnen. Andere sind überzeugt, dass er den Faltraumübergang zu Sandarsons Welt machen wird. Andererseits hoffen verschiedene Wissenschaftler, dass wir bleiben, wo wir sind. Hier bietet sich ihnen die einmalige Gelegenheit, die Antares-Gaswolke aus der Nähe zu studieren. Aber genug von diesem Klatsch. Wie wär's mit einem Gläschen?«

»Gläschen? Du meinst Alkohol?«

Aster lachte. »Du hast zu lange an Bord dieses verdammten Kriegsschiffes gelebt!«

Er begleitete sie hinunter zum Alpha-Deck und in die Abteilung, die den Wissenschaftlern als Aufenthaltsraum zur Entspannung und zum Austausch von Klatsch und Daten diente. Bethany war überrascht, Alicia Delevan in der Nische zu finden, auf die Aster sie zusteuerte. Offensichtlich hatte sie dort auf sie gewartet.

»Ich glaube, du kennst meine Chefin, Sonderbotschafterin Delevan«, sagte Aster.

»Ich bin geehrt, Mrs. Delevan«, sagte Bethany und streckte ihr die Hand hin.

»Sagen Sie Alicia zu mir, Bethany. Das tun alle meine Freunde.«

»Gut denn, Alicia.«

»Was möchten Sie trinken, meine Liebe?«

»Martini, bitte.«

»Ich nehme auch einen. Wollen Sie so gut sein, Carl?«

»Selbstverständlich.« Aster eilte davon, die Getränke zu besorgen, während Bethany gegenüber der Vertreterin der Konservativen Allianz in der Nische Platz nahm.

»Ich habe mich darauf gefreut, Sie kennen zu lernen, Bethany«, sagte Alicia. »Carl redet die ganze Zeit von Ihnen. Ich hoffe, ich störe nicht Ihre Wiedersehensfeier.«

Bethany lächelte. »Mit weniger als einer Stunde bis zum Abgang der Fähre würde es ohnehin nicht viel von einer Feier gewesen sein.«

»Trotzdem, es ist unbedacht von mir. Ich hätte es auch nicht getan, wenn es nicht mein Job wäre.«

»Ihr Job ...?«

»Sie sind eine wichtige Person, Bethany. Es ist der Job von Politikern wie mir, wichtige Leute kennen zu lernen. Und da ich nicht sicher sein konnte, ob ich später noch eine Gelegenheit haben würde, Sie zu sprechen, bat ich Carl, diese Zusammenkunft zu arrangieren.«

»Ich glaube, Sie überschätzen mich, Alicia.«

»Tue ich das? Wer sonst in dieser Expedition hat ein absolutes Vetorecht über alle Entscheidungen, die Richard Drake trifft? Glauben Sie mir, der Sicherungscode, den Sie in Ihrem Kopf haben, verleiht Ihnen Macht. Sie müssen sich bloß entscheiden, Gebrauch davon zu machen.«

»Wirklich, es ist überhaupt nicht so ...«

Alicia lächelte. »Und Sie sind auch noch bescheiden. Kein Wunder, dass Carl Sie so liebt. Ich kann jetzt verstehen, warum er außer sich war, als Captain Drake ihm eine Kabine an Bord der Discovery verweigerte.«

»Carl wollte eine Kabine an Bord des Kreuzers?«

»Wussten Sie das nicht? Ich gab ihm die Erlaubnis zum Transfer, bevor wir die Umlaufbahn verließen. Er wollte in Ihrer Nähe sein, und ich wollte jemanden an Bord des Flaggschiffes haben, der mich über die Entwicklungen auf dem Laufenden halten würde. Daraus wurde nichts, und nun muss ich mich herablassen, die Piloten der Fähren in die Bar einzuladen und mit Getränken zu bearbeiten, wenn ich wissen will, was drüben vorgeht. Carl ging zu Richard Drake und bat um eine Versetzung. Drake lehnte ab. Als Grund nannte er Überfüllung. Carl glaubt, er habe einen anderen Grund, dass er ihn nicht an Bord der Discovery haben will. Nun, da ich Sie kennen gelernt habe, neige ich dazu, ihm beizupflichten.«

»Wollen Sie damit sagen, dass ich der Grund gewesen sei?«

»Sie sind die am besten aussehende Frau im Umkreis mehrerer Lichtjahre. Und unser hochgeschätzter Expeditionsleiter ist in einer Position, die es ihm erlaubt... sagen wir mal, die Konkurrenz zu begrenzen.«

Bethany schüttelte seufzend den Kopf. »Sie könnten sich nicht mehr täuschen. Als ich Richard Drake zuletzt sah, sagte er mir, wie dumm ich sei, mich vom Antaresaufgang überraschen zu lassen, als wir die Bibliothek fanden.«

»In meinen Ohren hört sich das wie wahre Liebe an.«

»Was hört sich wie an?«, fragte Carl Aster, der mit den Martinis zurückkam.

»Die Art, wie Sie und Bethany übereinander sprechen«, erwiderte Alicia geistesgegenwärtig.

»Schade, dass ich es verpasst habe. Der verdammte Spender ist außer Betrieb, und ich musste die Martinis von Hand mischen. Hoffentlich schmecken sie.«

Bethany nahm das tiefe Glas und nippte von der klaren Flüssigkeit. »Vollkommen.«

»Nicht schlecht, Carl«, sagte Alicia und stellte ihr Glas auf den Tisch. »Nun, genug geschwatzt. Einige von uns hatten nicht das Glück, Landurlaub zu bekommen, Bethany. Erzählen Sie uns, wie es unten an der Oberfläche war. Haben Sie Städte gesehen, die von den Ryall zerstört wurden?«

Bethany schüttelte den Kopf. »Eine Gruppe Marinesoldaten unternahm eine Kurzexpedition zu den Hekate am nächsten gelegenen Ruinenstädten. Ich wollte mitfahren, aber Dr. Wharton ließ es nicht zu. Immerhin sah ich die Bilder. Die Stadt war eine Trümmerwüste bis zum Horizont, aus der vereinzelte Ruinen ragten. Sie erinnerte mich ein bisschen an die Bilder von Hiroshima.«

»Wie bitte?«, sagte Alicia.

»Eine Stadt auf der Erde«, erwiderte Carl Aster. »Japanische Insel. Zeichnet sich dadurch aus, dass sie die erste Stadt war, die durch Atomwaffen zerstört wurde. Im Ersten Weltkrieg, glaube ich.«

»Zweiten«, berichtigte ihn Bethany.

Aster legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich, dann wandte er sich an Alicia Delevan und sagte: »Sie werden sich daran gewöhnen. Bethany ist ein wahres Füllhorn von interessanten historischen Belanglosigkeiten.«

»Ja, Sie sind von Beruf Historikerin, nicht wahr?«

Bethany nickte. »Mein Spezialfach ist vergleichende Geschichte.«

»Haben Sie eine professionelle Meinung dazu, was wir dem Parlament im Hinblick auf diese Bedrohung durch Außerirdische, die Sie entdeckten, empfehlen sollten?«

»Wir wissen nicht, ob die Ryall eine Bedrohung für uns sind«, erwiderte Bethany. »Diese Ruinen sind hundert Jahre alt, und der Faltpunkt, den die Ryall für ihren Einfall ins Napier-System benutzten, besteht längst nicht mehr. Außerdem kann sich das Problem von selbst erledigt haben, wenn ihr Heimatsystem in der Nähe ist.«

»Weshalb?«, fragte Alicia Delevan.

»Ist es nicht offensichtlich? Wenn ihr Sternsystem irgendwo in der Nähe ist, dann hat die Supernova ihre Welt genauso gründlich sterilisiert wie New Providence.«

»Hmm. Eine interessante Hypothese, an die ich nicht gedacht hatte. Trotzdem glaube ich, dass es besser sein würde, wenn wir im Hinblick auf diese Zentauroiden keine Risiken eingehen. Darin werden Sie mir sicherlich beipflichten. Der gesunde Menschenverstand sagt, dass wir uns schützen sollten, bis wir wissen, dass keine Notwendigkeit dafür besteht.«

»Richtig.«

Alicia nahm einen Schluck von ihrem Martini und betrachtete Bethany. »Nun, da wir von ihrer Existenz erfahren haben, stellt sich die Frage nach unserem nächsten Schritt.«

»Um darauf zu antworten, sollten wir jemanden suchen, der uns sagen kann, was vorgeht.«

»Das war meine erste Reaktion«, sagte Alicia mit einem entwaffnenden Lächeln. »Aber nachdem ich darüber nachgedacht habe, bin ich zu dem Schluss gelangt, dass es das Schlimmste wäre, was wir im Moment tun könnten.«

»Wieso?«

»Weil ich der Meinung bin, dass wir gar nicht wissen, welches Glück wir gehabt haben. Seit mehr als einem Jahrhundert haben wir unsere erzwungene Isolation als einen Fluch betrachtet. Wir haben so lange gestöhnt und geächzt, bis wir daran geglaubt haben. Nun aber, nachdem wir entdeckt haben, was nach der Antares-Supernova aus New Providence geworden ist, beginne ich zu glauben, dass unsere lange Isolation ein Segen war. Wäre unser Faltpunkt vor hundert Jahren offen gewesen, könnte auch unsere Welt heute in Schutt und Asche liegen.«

»So hatte ich es noch nicht gesehen.«

»Niemand scheint es so gesehen zu haben«, erwiderte Alicia.

»Führen wir diesen Gedanken noch einen Schritt weiter. Soweit es das äußere Universum betrifft, ist unser Faltpunkt noch immer geschlossen und wird es bleiben, bis das Gegenteil bewiesen ist.«

»Siehst du, worauf Alicia abzielt?«, fragte Aster. »Solange wir unsere Anwesenheit nicht preisgeben, wird niemand – weder Ryall noch Menschen – einen Grund haben, uns zu suchen. Wir werden so sicher sein, wie wir es immer waren.«

»Sie schlagen vor, dass wir uns verstecken sollen?«, fragte Bethany.

»Nicht unbedingt«, antwortete Alicia. »Ich will sagen, dass die Entscheidung, uns dem äußeren Universum zu öffnen, nicht von uns auf dieser Expedition getroffen werden kann. Sie steht rechtmäßig dem Parlament zu. Ich bringe dies zur Sprache, weil Gerüchte umlaufen, denen zufolge Captain Drake beabsichtigt, einen weiteren Übergang zu Sandarsons Welt zu machen. Ich möchte das verhindern. Wenn das Parlament eine zweite Expedition zu Sandarsons Welt – oder anderswohin, was das angeht – genehmigt, so sei es. Aber wir sollten uns diese Verantwortung nicht selbst anmaßen.«

»Wenn der Expeditionsleiter den nächsten Übergang machen will, wie sollte jemand ihn daran hindern können?«

»Wie ich vorher sagte, Bethany, sind Sie die einzige Person, die gegen Richard Drakes Entscheidungen ein wirksames Veto einlegen kann. Sie verwahren die Springercodes der Discovery. Ohne diese wird er nirgendwo hingehen.«

»Verlangen Sie von mir, dass ich gegen Captain Drakes Willen eine Rückkehr nach Alta erzwingen soll?«

»Nichts so Drastisches«, versicherte Alicia. »Wir ersuchen Sie lediglich, sorgfältig abzuwägen, was ich gesagt habe, und uns zu helfen, vernünftig mit ihm zu reden, wenn die Zeit kommt.«

Bethany nagte an ihrer Unterlippe. »Das werde ich mir noch überlegen müssen.«

»Selbstverständlich. Das ist alles, was wir erbitten.« Ein Deckenlautsprecher kündigte die Ankunft der Fähre von der Discovery an. Die drei tranken ihre Martinis aus, verließen die Nische und gingen wieder hinauf zum Achsenkorridor.

Die Fähre war bis auf den letzten Platz besetzt. Bethany hatte einen Fensterplatz neben Carl und Alicia Delevan. Die beiden sprachen über die bevorstehende Konferenz und die Strategie, mit der sie für eine Rückkehr in die Heimat argumentieren wollten. Bethany lauschte mit halbem Ohr ihrem Gespräch, während sie aus dem Fenster zu den winzigen Szintillationen hinausblickte, die aufgeladene Strahlungspartikel aus der Antares-Gaswolke im Strahlenabschirmungsfeld der Fähre erzeugten. Hauptsächlich aber dachte sie über Alicias Anregung nach, dass sie in ihre Isolation vor dem Auftauchen der Conqueror zurückkehren sollten.

Nachdem die Fähre am Kreuzer angedockt hatte, warteten sie, bis zwei Dutzend andere Passagiere vor ihnen von Bord gegangen waren. Nicht alle waren Teilnehmer an der Wissenschaftlerkonferenz; einige waren Besatzungsmitglieder oder Marinesoldaten, deren Pflichten sie zum Passagierschiff geführt hatten und die nun zu ihrem Schiff zurückkehrten. Von den Konferenzteilnehmern waren Dr. Wharton, Professor Pianovich und mehrere andere aus der wissenschaftlichen Gemeinde der Alexandria, die Bethany nicht kannte, an Bord der Fähre.

Jenseits der Andockbucht erinnerte nichts an die Desorganisation, die früher am Tag an Bord des Passagierschiffes erkennbar gewesen war.

Besatzungsmitglieder waren zur Steile, um die zur Teilnahme an der Konferenz geladenen Ankömmlinge in Empfang zu nehmen und weiterzuleiten. Bethany sah überall die Zeichen zielgerichteter Aktivität und staunte darüber, wie froh sie war, wieder an Bord des Kreuzers zu sein; sie fühlte sich in ihm schon zu Hause.

»Ich zähle außer uns nur acht Leute, die zur Konferenz wollen«, sagte Bethany. »Wo sind die anderen?«

»Die meisten kamen mit einem früheren Flug«, antwortete Carl.

»Und wohin gehen wir?«

»Zur Mannschaftsmesse im Gamma-Deck«, antwortete Alicia.

»Wissen Sie, wo das ist?«

»Natürlich. Dort werden die Sonntagsgottesdienste gehalten. Folgen Sie mir.«

Bethany führte sie zum nächsten Speichenaufzug, hinunter zum Gamma-Deck und dann eine Vierteldrehung um den Habitatring der Discovery, um den großen Raum zu erreichen, wo die Konferenz stattfinden sollte.

Die Einrichtung der Mannschaftsmesse war umarrangiert worden, seit Bethany das letzte Mal an einem der wöchentlichen Gottesdienste teilgenommen hatte. Anstelle der auf dem Deck angeschraubten Sitzreihen hatte man mehrere Tische zu einer langen Tafel zusammengeschoben und auf jeder Seite eine Stuhlreihe angeordnet; weitere Stühle standen um die Peripherie des Raumes.

Ein Marineunteroffizier in Ausgehuniform mit roten Kragenspiegeln und Achselklappen konsultierte einen Sitzplan, dann dirigierte er Bethany und Alicia zu ihren Plätzen am Tisch. Anschließend wies er Carl Aster einen Stuhl an der Wand zu, bevor er sich umdrehte, die nächste Teilnehmergruppe zu begrüßen. Zehn Minuten später waren nahezu alle Plätze besetzt. Pünktlich um 14:00 Uhr klappte der Unteroffizier die Hacken zusammen und befahl den Konferenzteilnehmern aufzustehen.

Es folgte ein eiliges Scharren von Stühlen auf Metall, als die Leute sich gehorsam von ihren Plätzen erhoben. Richard Drake, dichtauf gefolgt von Bela Marston, schritt in den Raum. Beide trugen die dunkelblaue, reichlich mit goldenen Tressen und Streifen besetzten Ausgehuniformen der altanischen Raumstreitkräfte. Drake steuerte das Kopfende der Tafel an, während sein Erster Offizier am Fußende Platz nahm.

Der Kapitän wartete, bis alle sich wieder gesetzt hatten und ein Dutzend Gespräche allmählich verstummt waren. Dann ließ er seinen Blick über die Reihen der erwartungsvollen Gesichter wandern und sagte:

»Ich begrüße Sie, meine Damen und Herren, und bedanke mich für Ihr Kommen. Ich habe diese Konferenz anberaumt, um die wissenschaftlichen Ergebnisse unseres sechswöchigen Aufenthalts im System Napier zu erörtern. Bitte beschränken Sie alle Bemerkungen, die Sie zu machen wünschen, auf dieses Thema. Dr. Wharton, ich glaube, Sie sind heute der Erste.«

»Ja, Sir«, sagte der Soziologe. Er stand an seinem Platz auf und stützte die geballten Fäuste auf den Tisch. »Wir kamen mit der Erwartung in dieses System, eine tote Welt vorzufinden. Wir erwarteten jedoch nicht den Anblick von Städten, die durch Massenvernichtungsmittel in Trümmerwüsten verwandelt wurden.« Wharton skizzierte rasch die wichtigsten Einzelheiten der Ryall-Angriffe für jene Anwesenden, die noch keine Gelegenheit gehabt hatten, die ganze Geschichte zu hören. Sein Bericht enthielt mehr Fakten als Bethany Lindquist geboten hatte, war aber sonst ähnlich. Er schloss mit den Worten: »Wie viele von Ihnen bereits gehört haben, ging die Mehrzahl der Städte dieser Welt in einem späteren Angriff unter, über den wir keine Aufzeichnungen gefunden haben. Ich denke aber, dass wir aus dem geborgenen Material aus der Universität von Hekate relativ zuverlässig rekonstruieren können, was mit dieser Welt geschehen ist.«

»Professor Pianovich«, sagte Drake, als Wharton geendet hatte. »Ihr Bericht, bitte.«

»Meiner Arbeitsgruppe war die Nachprüfung und Bewertung der seinerzeit in New Providence erarbeiteten Analyse des Faltpunktes übertragen, durch den die Ryall dieses System angriffen. Wir können in der Methodologie keinen Fehler finden und müssen daher annehmen, dass ein solcher Faltpunkt während der fünfzehn Jahre zwischen dem Augenblick der Antares-Explosion und der Zeit existierte, als die expandierende Druckwelle durch dieses System ging.«

»Aber der Faltpunkt existiert jetzt nicht«, sagte Drake.

»O nein, gewiss nicht!«, rief Pianovich aus. »Wir haben dieses System sehr gründlich kartiert. Heute gibt es darin drei Faltpunkte, genauso wie vor der Nova. Wenn man es verlassen will, hat man die Wahl von Alta, Sandarsons Welt und dem Herzen der Anrares-Gaswolke. Letzteres Reiseziel empfehle ich jedoch nicht. Die Verhältnisse am anderen Ende sind entschieden ungesund.

Was den vierten Faltpunkt betrifft, durch den die Ryall angriffen, so haben sich die besonderen Verhältnisse, die eine zeitweilige Verbindung des Napier-Systems mit einem unbekannten, von Ryall bewohnten Sternsystem verursachten, seit damals längst geändert.«

»Dann besteht kein Grund zu der Sorge, dass die Ryall zu diesem System zurückkehren könnten?«, fragte Drake.

»Es besteht kein Grund zu dieser Sorge, Captain Drake.«

»Aber wie kann ein Faltpunkt einfach verschwinden?«, fragte einer der Anthropologen, die im Basislager gewesen waren.

»Genauso wie unser eigener Faltpunkt verschwand«, antwortete Pianovich. »Die Antares-Explosion störte den Faltraum in dieser gesamten Region der Galaxis. Ich halte es für gut möglich, dass sie die Hälfte der vor der Nova bestehenden Verbindungen verändert hat. Die Verbindung, von der hier die Rede ist, war ein Sonderfall. Er setzte voraus, dass die Faltlinien von der Druckwelle der Nova gebrochen wurden. Sobald die Druckwelle dieses System durchlief, bestand das Hypozentrum nicht mehr und der Faltpunkt verschwand. Ein ähnliches Phänomen verursachte die Selbstheilung unseres eigenen Faltpunktes.«

»Haben Sie eine Vorstellung von der Lage des Ryall-Systems, Professor Pianovich?«, fragte Stan Barrett.

»Nein«, antwortete der Astronom. »Wir müssen viel mehr wissen, bevor wir diese Frage beantworten können. Es könnte allerdings möglich sein, einige der Daten, die wir dazu benötigen, aus einem weiteren Studium der Antares-Gaswolke zu deuten. Das heißt, wenn es uns möglich ist, unsere Abreise aus diesem System zu verschieben.«

Mehrere Augenpaare richteten sich fragend auf Richard Drake. Er blickte in die erwartungsvollen Gesichter, bevor er bedauernd die Schultern hob. »Tut mir leid, Professor, aber wir werden dieses System unverzüglich verlassen.«

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir fragen, wohin die Reise gehen soll?«, fragte Alicia Delevan.

»Ganz und gar nicht. Ich habe meine Befehle konsultiert, die mir die Verantwortung übertragen, festzustellen, ob im von Menschen besiedelten Raum gegenwärtig Krieg geführt wird oder nicht. Unsere Untersuchungen auf New Providence sind sehr nützlich gewesen, unglücklicherweise aber nicht ausreichend, um die Frage zu beantworten. Darum habe ich entschieden, als nächstes Ziel Sandarsons Welt aufzusuchen.«

»Ich erhebe Einspruch!«, verkündete Alicia Delevan.

»Erklären Sie Ihren Einwand, Mrs. Delevan.«

Alicia erläuterte rasch die Empfehlung, die sie Bethany an Bord der Alexandria gemacht hatte. Sie hob hervor, dass das Parlament nichts von den Ryall gewusst hatte, als es den Expeditionsauftrag billigte, und dass es nun die Pflicht der Expeditionsleitung sei, in die Heimat zurückzukehren und neue Befehle einzuholen. Nach annähernd fünfzehn Minuten leidenschaftlichen Plädoyers schloss sie mit den Worten: »Sie haben nicht das Recht, diese Entscheidung in Ihre eigenen Hände zu nehmen, Captain Drake.«

Drake bedachte Alicia Delevan mit einem langen Blick, dann sagte er: »Ich habe jedes Recht, Mrs. Delevan. Ich leistete einen Eid, der mich unter anderem verpflichtet, meine Befehle auszuführen. Das kann ich am besten tun, wenn ich Sandarsons Welt aufsuche, um mich über die dortigen Verhältnisse zu informieren. Deshalb werden wir diesen Weg gehen.«

Alicia Delevan wandte sich an Bethany. »Sie müssen ihn daran hindern!«

Bethany blickte von Alicias beschwörender Miene zu Drakes strengem Gesicht und fühlte die Last der Verantwortung auf sich. Obwohl sie ihre Entscheidung bereits getroffen hatte, dachte sie eine lange Minute über ihre verzwickte Lage nach, bevor sie den Blick zu Alicia hob.

»Ich bedaure, Mrs. Delevan«, sagte sie steif. »Auch ich habe einen Eid auf mich genommen. Ich versprach meinem Onkel, dass ich seine Sendungen einem diplomatischen Vertreter der Erde übergeben würde. Ich stimme Captain Drake darin zu, dass die einzige Möglichkeit, das zu tun, auf Sandarsons Welt bestehen dürfte.«