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Für uns Menschen wird die Erde, gesehen aus niedriger Umlaufbahn, wahrscheinlich zu den schönsten und bewegendsten Bildern zählen, die es im Universum gibt. Sicherlich existieren Planeten, die bei weitem größer und farbenfroher sind, und andere, die eindrucksvolle Ringstrukturen oder zahlreiche Monde ihr Eigen nennen können. Es gibt sogar Welten in der terrestrischen Klassifikation, die ein leuchtenderes Blau, ein satteres Grün und ein Weiß wie von frisch gefallenem Schnee vorweisen können. Trotzdem ist die Erde für menschliche Augen noch immer die schönste aller Welten. Denn nirgendwo sonst kann man auf die Wiege der Menschheit hinabblicken. Nirgendwo sonst läßt die Grenze von Tag und Nacht die Umrisse sechstausend Jahre alter Pyramiden und die Schlangenlinie einer tausend Kilometer langen Steinmauer hervortreten. Auf keiner anderen Welt kann der Reisende die primitiven Konstruktionen aus Beton und Stahl sehen, von denen seine Vorfahren die ersten Flüge in den Weltraum unternahmen. Besonders für die Altaner brachte die Betrachtung der Welt ihrer Vorväter aus der Höhe ein Gefühl von Verehrung und stiller Freude mit sich. Dennoch hatte sich der größte Teil der Besatzung am Ende des zweiten Tages in der Umlaufbahn am Anblick der Erde satt gesehen. Sie konnten es nicht erwarten, wieder auf festem Boden zu stehen, Luft einzuatmen, die frei vom metallischen, antiseptischen Geruch der Wiederaufbereitungsanlagen war, an der einzigen natürlichen Umgebung im Universum teilzuhaben, der die Menschheit von Natur aus angepasst ist.
Die Discovery und die City of Alexandria waren mehr als vierzig Stunden in der Umlaufbahn, als Gregory Oldfield endlich bekanntgab, dass ein Raumtransporter unterwegs sei, um die offizielle Verhandlungsdelegation am folgenden Tag zur Erdoberfläche zu bringen.
Als er nach den Gründen der Verzögerung gefragt wurde, nannte er Schwierigkeiten bei der Vorbereitung einer angemessenen Begrüßungsfeier. Admiral Gower scheute sich indessen nicht, den Verdacht auszusprechen, ob der Grund nicht viel mehr in den Schwierigkeiten der Zentralregierung zu suchen sei, sich auf eine Politik gegenüber ihren neu entdeckten Kolonien festzulegen.
Die Liste derjenigen, die der ersten Reisegruppe angehören sollten, war schon vorbereitet worden, als die verkleinerte Expeditionsflotte Goddard verlassen hatte. Die Verhandlungsdelegation würde aus Admiral Gower, Richard Drake, Phillip Walkirk und einem halben Dutzend Stabsoffizieren und Beratern bestehen. Richard Drakes Berater war Argos Cristobal, der Navigator der Discovery. Cristobal hatte die erbeuteten Navigationsdaten der Ryall gründlich studiert und würde ein wertvoller Sachkenner sein, wenn mit dem Interstellaren Rat ein Vertrag ausgehandelt wurde. Von der City of Alexandria nahmen Stanislaw Barrett, Graf Husanic, ihre beiden Berater, sechs Wissenschaftler und zwei Wirtschaftsfachleute teil. Auch Bethany Lindquist wurde der Delegation als Repräsentantin ihres Onkels beigeordnet, und Botschaftssekretär Oldfield übernahm die Rolle ihres irdischen Verbindungsoffiziers.
Als sie am nächsten Tag den Raumtransporter bestiegen, sorgte Richard Drake dafür, dass er und Bethany benachbarte Sitze erhielten. Sie sprachen sehr wenig während des Fluges zur City of Alexandria, wo ein Zwischenaufenthalt eingelegt und die restlichen Delegationsmitglieder an Bord genommen wurden. Schließlich, als sie vom Schiff abgelegt hatten und den langen Abstieg zur Erde begannen, wandte Drake sich an Bethany und sagte: »Sollten wir nicht für die Dauer unseres Aufenthalts einen Waffenstillstand schließen?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest, Richard«, erwiderte sie steif.
»Du weißt verdammt gut, wovon ich rede, meine Liebe. Du bist immer noch wütend, weil Admiral Gower drohte, dich in den Bunker zu werfen.«
»Habe ich nicht ein Recht, zornig zu sein?«
»Damals hattest du es«, erwiderte er, »aber das war vor zehn Tagen. Gower tat, was er tun musste, und du machtest dabei das denkbar beste Geschäft. Inzwischen solltest du damit fertig geworden sein. Dieses Schmollen ist kindisch.«
Er bemerkte die Anzeichen einer drohenden Explosion und war überrascht, als sie nicht kam. Stattdessen lehnte Bethany sich zurück und betrachtete ihn mit mehr Ruhe und Gelassenheit, als sie es seit Tagen getan hatte. »Ich bin Admiral Gower nicht mehr böse. Wie du sagst, er tat, was er tun musste.«
»Wem bist du dann böse?«
»Dir.«
»Mir? Was habe ich getan?«
»Du schicktest mich hinüber, ohne auch nur anzudeuten, was Gower vorhatte.«
Drakes Blick suchte Gregory Oldfield. Der Erste Sekretär saß drei Reihen vor ihnen auf der anderen Seite des Mittelganges. Er war in ein angeregtes Gespräch mit seinem Sitznachbarn vertieft und schien nicht zu bemerken, was sonst noch um ihn herum vorging. Trotzdem dämpfte Drake seine Stimme zum Flüsterton, der vom Pfeifen der hohen Atmosphäre außerhalb des Rumpfes fast ausgelöscht wurde.
»Verdammt noch mal, ich konnte dich nicht warnen. Ich hatte meine Befehle. Außerdem war Gower absolut korrekt in seinem Verhalten dir gegenüber. Dieses Datenmaterial gehört uns. Wenn wir es der Zentralregierung überlassen, haben wir das Recht, einen fairen Preis dafür zu verlangen.«
»Was bringt dich auf den Gedanken, dass ihr diese Daten als Handelsware brauchen werdet?«, flüsterte Bethany zurück.
»Woher weißt du, dass die Zentralregierung euch nicht alles geben wird, was ihr erbittet? Vielleicht gibt es keine Notwendigkeit, die Daten gegen Lösegeld zurückzuhalten.«
Drake zuckte die Achseln. »In diesem Fall werden wir das Material ohne Zögern der Zentralregierung aushändigen.«
»Und wenn über einen Plan, die Ryall aus dem Aezer-System zu vertreiben, keine Einigkeit gefunden werden kann?«
»Dann werden wir uns etwas anderes ausdenken. Niemand von uns hält dieses Datenmaterial für so wichtig, dass wir es länger als notwendig geheim halten müssten.«
Sie sah ihn scharf von der Seite an. »Ist das wirklich dein Ernst, Richard?«
»Selbstverständlich.«
Sie lächelte. »In diesem Fall sei dir vergeben.«
»Wollen wir das mit einem Kuss besiegeln?«
Ihr Lächeln gewann an Wärme. »Wenn es das richtige Protokoll ist...«
»Glaub mir, es ist das einzig richtige.«
Sie umarmten einander lange Sekunden, ohne auf die Mitpassagiere zu achten. Dann lehnten sie sich zurück und sahen, wie Mutter Erde sich unter ihnen ausbreitete. Vor dem Fenster tanzte der geisterhafte Schein erhitzter Gase, als der Raumtransporter wie ein Meteor durch die obere Atmosphäre raste. Tief unten lagen die menschenleeren Weiten der innerasiatischen Steppen und Wüsten in tiefer Dunkelheit. Da und dort nur verriet der matte Schimmer winziger Ansammlungen von Lichtern die Lage einer Stadt. Der Raumtransporter kreuzte den Terminator, rasch stieg die Sonne im Osten auf, und schon leuchtete unter weißen Wolkenwirbeln das Blau des Stillen Ozeans. Eine Inselkette zeigte sich in der ozeanischen Leere, und östlich davon markierten winzige Gevierte helleren grünblauen Wassers die Position schwimmender Meeresfarmen.
Der Raumtransporter verlor stetig an Höhe, und bald schob sich eine lange Küstenlinie aus dem Dunst voraus auf sie zu. Drake hatte die Flugroute des Raumtransporters studiert und wusste, dass er die Westküste des nordamerikanischen Kontinents vor sich hatte. Über einer weiten Bucht, um die sich krakenartig ein riesiger städtischer Ballungsraum ausbreitete, kreuzten sie die Küstenlinie.
Der Raumtransporter legte sich in eine Rechtskurve und hielt auf einen entfernten hellbraunen Schmutzflecken am Horizont zu. Zehn Minuten später war dieser zu einem Wüstengebiet angewachsen, in dessen Mitte sich die weitläufigen Anlagen eines Raumhafens erstreckten. Die Maschine ging in weiten Spiralen nieder, und der Boden näherte sich mit beängstigender Schnelligkeit. Dann wurde das Braun der Wüste zum schmutzigen Schwarz der Landebahn, und der Raumtransporter setzte mit dem Quietschen und Rumpeln von Niederdruckreifen auf, das seit einem halben Jahrtausend die Rückkehr zur Erde begleitete.
Sobald der Raumtransporter so weit verlangsamt hatte, dass er von der Landebahn abbiegen konnte, stand Gregory Oldfield auf und ging nach vorn, bevor er sich zu den anderen Fluggästen umwandte. »Willkommen im Mojave-Raumhafen. Im Abfertigungsgebäude wird es eine kurze Zeremonie geben. Danach werden wir eine Maschine nach Mexico City besteigen. Einstweilen bitte ich Sie, sitzen zu bleiben. Wir werden in ein paar Minuten vor dem Abfertigungsgebäude halten.«
Ciudad de Mexico war die größte Metropole, die Bethany Lindquist je gesehen hatte. Von ihrem Zimmer in einem der Hochhäuser, die das Bild der inneren Stadt beherrschten, konnte sie über die uferlose Stadtlandschaft zu den Vulkanen Istacihuatl und Popocatepetl sehen. Viel näher und dadurch ähnlich eindrucksvoll, ragte das von Menschen errichtete Gebirge aus Beton und Glas, welches das Wirtschaftsministerium mit der internationalen Handelskammer und dem Rat für Interstellare Wirtschaftsbeziehungen und Zusammenarbeit beherbergte. Mit einem Lächeln erinnerte sich Bethany, wie ihr ein ehrfurchtsvoller Schauer über den Rücken gegangen war, als sie zuerst diese archaischen, in den Marmor über dem Haupteingang gemeißelten Worte gelesen hatte. Hier schlug das eigentliche Herz des ganzen, von Menschen bewohnten Raums. Sie hatte immer gewusst, dass die Zentralregierung aus einer Handelsvereinigung hervorgegangen war. Die Ereignisse, durch welche diese Organisation den Rang einer internationalen Körperschaft und schließlich den einer souveränen Regierung erlangt hatte, waren Legende. An Ort und Stelle aber nahm sich alles ganz anders aus und prägte sich dem Gedächtnis nachhaltiger ein, als wenn man an einem Computerbildschirm darüber las.
Bethany blieb drei Tage in Mexico City. Der erste Tag brachte einen Auftritt vor dem Rat für Interstellare Wirtschaftsbeziehungen. Sie und die anderen Kolonisten saßen in der zentralen Rotunde des Rates, während ein Redner nach dem anderen die Besucher aus den verlorenen Systemen des Antares-Haufens begrüßte und pries. Doch spätestens nach einer halben Stunde fiel Bethany auf, dass die Reden voll von wohltönenden Phrasen und unverbindlichen Absichtserklärungen waren, aber bar aller konkreten Vorschläge oder Angebote.
Nach der allgemeinen Sitzung wurden die leitenden Persönlichkeiten der Helldiver-Expedition zu einem Regierungsempfang gebeten. Bethany versuchte in die Gruppe miteinbezogen zu werden, aber Admiral Gower weigerte sich mit dem nicht unfreundlich vorgebrachten Hinweis, dass sie nach eigenem Bekenntnis eine Interessenvertreterin der anderen Seite sei.
Während die Militärs, Wissenschaftler und Wirtschaftsexperten sich aufmachten, mit den jeweils zuständigen Ministern und ihren Beratern zusammenzutreffen, suchte Bethany die Bibliothek der Universidad de Mexico auf, wo sie Zusammenfassungen des Geschichtsablaufs seit der Eroberung Aezers durch die Ryall abrief. Einigermaßen entmutigt musste sie feststellen, dass sich nicht viel geändert hatte, seit die Sandarer vom Rest der Menschheitshegemonie abgeschnitten worden waren. Der Krieg gegen die Ryall nahm seinen Fortgang, ohne dass ein Ende in Sicht wäre, und die militärische Lage hatte sich merklich verschlechtert.
Das war nicht ihre einzige beunruhigende Entdeckung. Zwei Stunden lang hatte sie Verlautbarungen der amtlichen Nachrichtenagentur überflogen, die bis in die Tage der Antares-Supernova zurückreichten. Dabei war sie auf eine beklagenswerte Tendenz gestoßen, die dem Laien leicht entgehen konnte, nicht aber dem geschärften Blick des Historikers. Als die ersten Nachrichten von Angriffen und Verwüstungen durch die Ryall die Erde erreicht hatten, war ein gewaltiges Kriegsfieber ausgebrochen. Enorme Geldsummen waren ausgegeben worden, um die Offensivkraft und die Verteidigungsbereitschaft zu verbessern. In weniger als einem Jahrzehnt war der von Menschen besiedelte Raum zu einem reibungslos funktionierendem Mechanismus zur Führung eines interstellaren Krieges organisiert worden. In dieser Periode waren die Faltpunkt-Verteidigungsanlagen des Sonnensystems konstruiert worden. Nahezu alle Systeme, die weniger als vier Faltpunktübergänge von der Ryall-Hegemonie entfernt waren, hatte man mit ähnlichen Verteidigungsanlagen versehen. Und drei Generationen lang hatte die Menschheit unermüdlich gearbeitet, um die Ryall zu bezwingen.
Dann, vor vierzig Jahren, hatte die Entschlossenheit der Menschheit erste Sprünge bekommen. Andeutungen nachlassenden Willens waren erkennbar geworden, als die Presse aufgehört hatte, vom Sieg zu sprechen und stattdessen in einer Art stillschweigender Gleichschaltung die Wendung ›Eindämmung der Zentauren‹ zu gebrauchen begann. Im Laufe der nächsten zwanzig Jahre kamen die Angriffsoperationen praktisch zum Stillstand, und noch mehr Mittel flossen in den Bau von Faltpunkt-Verteidigungsanlagen. Gegen Ende dieses Zeitabschnitts wurde es schon schwierig, Mittel für die defensive Kriegführung bewilligt zu bekommen.
Ungefähr zu der Zeit, als die Ryall das System Aezer eroberten, wurden defätistische Stimmen laut, und größere Gruppen, die sich zunächst als ›Friedensfreunde‹ tarnten, versuchten in den Entscheidungsgremien Fuß zu fassen und weitere Mittel für die Kriegführung zu blockieren. Das erste System, welches sich in einer kriegswichtigen Frage offen gegen die Zentralregierung stellte, war Scuylers Stern gewesen. Die Scuylerier erklärten sich für neutral und weigerten sich, ihre Quote an Schiffen und Personal für die jährliche Flottenaushebung zur Verfügung zu stellen. Die Rebellion war von der Großen Flotte, die Scuyler in einer unblutigen Operation besetzt hatte, niedergeschlagen worden, aber das Beispiel war von starker Wirkung auf andere Pazifisten.
Die Friedensbewegung ging nun in den Untergrund. Dabei war es nicht überraschend, dass die Erde selbst eines der stärksten Zentren der Bewegung war, hatte die Bevölkerung doch bis dahin die Hauptlast der Kriegsanstrengungen getragen. Hinzu kam, dass der Krieg für den durchschnittlichen Erdenbewohner weit entfernt war. Um das Sonnensystem zu erreichen, würden die Zentauren vier Faltpunktübergänge hinter sich bringen und ein Dutzend Flotten und vier Serien von Faltpunktverteidigungen überwinden müssen. Hinter dieser sicheren Barriere mehrfacher Verteidigungslinien sah der durchschnittliche Erdenbewohner nicht ein, warum er bis ans Ende seiner Tage eine erdrückende Steuer- und Abgabenlast tragen sollte, um »ein paar Kolonialwelten zu schützen, die selbst mehr zu ihrem Schutz beitragen sollten«. Diese Einstellung gewann immer mehr Anhänger, besonders in einigen größeren Nationalstaaten, die hartnäckig daran festhielten, dass sie de jure dem Interstellaren Rat gleichgestellt und je nach ihrer Bedeutung an der Zentralregierung beteiligt waren. Im Laufe der letzten zehn Jahre hatten die meisten Regierungen der Nationalstaaten unter dem Druck der allgemeinen Stimmung Resolutionen verabschiedet, die eine Verringerung der Kriegslasten verlangten.
Leicht deprimiert kehrte Bethany in ihr Hotel zurück. Es war eine vertraute Stimmung, hervorgerufen von einer allzu konzentrierten Dosis Geschichte, die sie sich in zu kurzer Zeit verabreicht hatte. Denn ebenso wie die Tagesnachrichten sich überwiegend aus schlechten Meldungen zusammensetzten, bestand die Geschichte aus Ereignissen und Entwicklungen, die sich in der Rückschau zumeist negativ ausnahmen. Bethany hatte die Weisheit jener alten chinesischen Verwünschung: »Mögest du in interessanten Zeiten leben!« schon während ihres ersten Studienjahres gelernt. Oft hatte sie gedacht, dass nur ein Historiker die subtile Tiefe dieser Erkenntnis wahrhaft würdigen konnte.
Als sie in ihr Zimmer kam, fand sie dort eine Botschaft vor, nach der sie zu einer Stadtbesichtigung von Ciudad de Mexico eingeladen sei, und wenn sie daran interessiert sei, werde sie ein Fremdenführer am folgenden Morgen um sieben in der Hotelhalle erwarten.
Der Fremdenführer war eine selbstbewusste Blondine namens Ryssa Blenham, die nicht ganz zufällig auch die Tochter des Zweiten Koordinators für den Interstellaren Rat war. Beim Frühstück erfuhr Bethany, dass Ryssa von Galleria stammte, aber schon seit vielen Jahren in Mexico City lebte. Die beiden verbrachten den Vormittag mit dem Besuch von Museen, Kirchen des 16. Jahrhunderts im spanischen Kolonialstil und verschiedenen Bauwerken aus der Vergangenheit der Stadt. Mittags führte Ryssa sie zu einem der Straßencafes, die beide Seiten eines breiten Boulevards schmückten. Die beiden Frauen aßen ein leichtes Mittagessen aus Gazpacho und Salat und erzählten einander von ihrer Kindheit. Dann wandte sich die Unterhaltung unausweichlich Bethanys Stellung in der Helldiver-Expedition zu.
»Ich hörte, dass Sie Diplomatin sind«, sagte Ryssa. Bethany stellte das Weinglas auf den Tisch zurück und lachte. »Nur im weitesten Sinne.« Sie erklärte Ryssa die Geschichte ihrer Familie, aus der sich ihre Ernennung zur offiziellen Vertreterin des irdischen Botschafters auf Alta ergab. Sie habe, erläuterte sie, an der Expedition nur teilgenommen, um die angesammelten Depeschen und Berichte der Botschaft der zuständigen Persönlichkeit im Außenministerium zu übergeben.
»Aber diese Depeschen und Berichte sind über ein Jahrhundert alt, nicht wahr?«, fragte Ryssa.
Bethany nickte. »Einige davon.«
»Dann müssen sie viele Geheimnisse enthalten, um nach all dieser Zeit noch wichtig zu sein.«
»Im Gegenteil, die meisten betreffen alltägliche Angelegenheiten. Die Jahresabrechnungen irdischer Liegenschaften auf Alta, Berichte über politische Aktivitäten der Botschaft, Listen von Passerneuerungen, Berichtigungen von Einwanderungspapieren, standesamtliche Urkunden, solche Dinge.«
»Aber sicherlich werden Sie all diese Mühe nicht bloß auf sich genommen haben, um Akten des routinemäßigen Geschäftsgangs abzuliefern? Wenn es ist, wie Sie sagen, wer wird das Zeug lesen wollen?«
Bethany zuckte die Achseln. »Ich bezweifle, dass jemand sich die Mühe machen wird. Bis auf den Begleitbrief meines Onkels ist alles ziemlich trockene Materie.«
Ryssa schüttelte den Kopf. »Dann scheint mir, dass Sie einen langen Weg umsonst gemacht haben.«
Bethany lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihre Begleiterin aus schmalen Augen. Etwas an der Frage verursachte ihr Unbehagen, und sie suchte nach den rechten Worten, um Ryssa den tieferen Sinn zu erklären.
»Nicht der Inhalt der Depeschen und Berichte meines Onkels ist wichtig, Ryssa. Wichtig ist vielmehr das Prinzip, das sie verkörpern.
Granville Whitlow leistete einen Eid, mit dem er sich verpflichtete, die Interessen der Erde auf Alta wahrzunehmen. Er verbrachte sein Leben damit, diesem Eid gerecht zu werden. Seine Nachkommen haben über sechs Generationen das Gleiche getan. Die Berichte und Papiere, die ich bei mir habe, sind das Produkt dieser sechs Lebensspannen. Wenn ich sie den zuständigen Autoritäten übergebe, werde ich sagen können, dass diese sechs Leben etwas zählten.«
»Es hört sich so an, als wäre es Ihnen sehr wichtig.«
»So ist es. Sehr wichtig.«
»In diesem Fall kann ich vielleicht mit meinem Vater darüber sprechen.«
Am nächsten Morgen erhielt Bethany einen Anruf von einer freundlichen jungen Frau mit spanischem Akzent, die ihr mitteilte, dass sie um zehn Uhr im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten erwartet werde, und ob das der Señorita Lindquist angenehm sein würde. Nachdem sie der Anruferin versichert hatte, dass sie kommen würde, verbrachte Bethany den Rest des Morgens mit Vorbereitungen auf die Audienz.
Sir Joshua Blenham, Staatssekretär im Außenministerium und Delegierter beim Interstellaren Rat, war ein schwerer, massiger Mann mit bedächtigen Bewegungen, einem buschigen Schnurrbart und Runzeln um die Augen. Seine Stimme neigte zum Dröhnen, wenn er sprach, aber Bethany fühlte sich in seiner Gegenwart sofort entspannt. Mit Blenham waren drei weitere Männer im getäfelten Büro. Zwei von ihnen erkannte sie als Beamte, die Richard Drake und die anderen leitenden Mitglieder der Helldiver-Expedition nach dem Empfang am ersten Tag weggeführt hatten. Der dritte Mann war ihr unbekannt.
»Miss Bethany Lindquist, darf ich Ihnen Raoul Letterier, Alphonse Grast und Kelton Dalwood vorstellen?«, sagte Blenham und wies nacheinander auf die drei Anwesenden.
»Ich werde Sie nicht mit ihren überlangen Titeln und Geschäftsbereichen langweilen. Sagen wir nur, dass sie die für Ihre Kolonie und die der Sandarer zuständigen Ressortleiter sind. Meine Herren, Miss Lindquist ist eine Loyalistin, die manchem zum Vorbild gereichen kann.«
»Das entnahm ich dem Bericht des Ersten Botschaftssekretärs Oldfield«, sagte Letterier. »Offen gesagt, Miss Lindquist, ich bin erstaunt, dass es auf Alta noch Menschen wie Sie und Ihren Onkel gibt.«
»Wieso, Mr. Letterier?«
»Seit dem Ausbruch der Antares-Supernova ist viel Zeit vergangen. Um ehrlich zu sein, wir hatten Sie beinahe vergessen. Und wir hatten angenommen, dass Sie auch uns vergessen haben. Kolonisten zu finden, die nach all dieser Zeit der alten Heimat und der Zentralregierung in Treue verbunden sind, ist erstaunlich.«
»Vielleicht missverstehen Sie«, erwiderte Bethany. »Mein Onkel ist dieser gegenwärtigen Zentralregierung und dem derzeitigen Interstellaren Rat nicht treuer verbunden als Sie der Regierung, die in der Zeit herrschte, als Granville Whitlow die Erde verließ, um seinen Dienst in Alta anzutreten. Mein Onkel ist der Erde als Heimat und verbindendem Element aller Menschen loyal, als dem ideellen und kulturellen Mittelpunkt der Menschheit, ohne den der Zusammenhalt verloren gehen würde.«
»Sie haben Recht, Miss Lindquist. Ich hatte das wohl nicht richtig verstanden.«
»Auf Alta, meine Herren, ist die Erde wie eine Legende. Sie ist wie ein Märchenland, wo die Städte mit Gold gepflastert sind und die Gerechtigkeit immer triumphiert. Ihre Führer sind die weisesten, ihre Gerichtshöfe die gerechtesten, ihre Freiheiten die größten. Sie ist ein Idealbild, dem alle anderen nachstreben müssen. Das ist die Erde, deren loyaler Diener mein Onkel ist.«
»Sie scheinen andeuten zu wollen, dass wir hinter dem Idealbild zurückbleiben«, meinte Blenham.
»Vorgestern verbrachte ich einige Zeit in der Universitätsbibliothek. Nach dem, was ich dort feststellte, habe ich allerdings meine Zweifel.«
»Sicherlich erwarteten Sie nicht, dass diese Welt das legendäre Märchenland sein würde, das Sie beschrieben haben«, sagte Letterier.
»Nein, gewiss nicht«, erwiderte Bethany. »Aber ich erwartete nicht, eine Welt zu finden, die der Bedrohung durch die Ryall in Resignation und Apathie gegenübersteht.«
»Und das glauben Sie festgestellt zu haben?«
»Nach meinem – zugegebenermaßen flüchtigen – Studium der Ereignisse und Entwicklungen der vergangenen hundert Jahre gewann ich diesen Eindruck.«
»Nun, dann können wir Sie vielleicht vom Gegenteil überzeugen«, sagte Blenham. »Kehren wir einstweilen zum Nächstliegenden zurück. Ich hörte, Sie haben diplomatische Depeschen und Berichte für mich. Haben Sie das Material bei sich?«
»Ja, Sir«, sagte Bethany. Sie griff in ihre Handtasche und nahm die Datentafel heraus, auf der die administrativen Einzelheiten von 127 Jahren Botschaftstätigkeit festgehalten waren. Sie übergab sie Blenham.
Sir Joshua hielt die Tafel zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete das Farbenspiel der holographischen Interferenzmuster, bevor er sie auf den Schreibtisch legte. Auf ein Zeichen von ihm standen die drei anderen mit ihm auf. Ratlos tat Bethany es ihnen nach.
Blenham kam mit einem kleinen Etui in den Händen um den Schreibtisch. Er machte vor Bethany halt und nahm etwas aus dem Etui. Dann räusperte er sich und sagte in förmlichem Ton: »Bethany Lindquist, kraft meines Amtes und im Namen des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten verleihe ich Ihnen für Botschafter Clarence Whitlow, Chef der Mission auf Valeria IV, den Verdienstorden Erster Klasse des diplomatischen Dienstes, mit allen Rechten und Privilegien, die dazugehören. Des weiteren danke ich Ihnen im Namen meiner Regierung und des Interstellaren Rates für Ihre und Ihrer Familie Loyalität während der vielen Jahre unbelohnten und aufopfernden Dienstes.«
Bethany traten Tränen in die Augen, als Blenham die goldene Medaille an ihrem regenbogenfarbenen Seidenband über ihren Kopf hob und ihr um den Hals hängte. Dann küsste er sie auf beide Wangen, und die drei anderen schüttelten ihr feierlich die Hand.
»Was, nichts zu sagen?«, fragte Blenham nach der Zeremonie.
»Ich danke Ihnen im Namen meines Onkels«, sagte Bethany und schniefte verhalten. »Diese Auszeichnung wird meinen Onkel all die Jahre des Gespötts vergessen machen.«
Letterier lächelte. »Sie mögen es nicht wissen, Miss Lindquist, aber mit dieser Auszeichnung ist eine Ehrenrente von jährlich einhunderttausend Stellaren verbunden. Ihr Onkel ist ein reicher Mann.«
»Können wir weitermachen, Sir Joshua?«, fragte der Mann, der als Alphonse Grast vorgestellt worden war.
»Sie sind so ungeduldig, Alphonse.« Blenham seufzte. »Aber es lässt sich leider nicht leugnen, dass wir einen vollen Terminplan haben. Miss Lindquist, wenn es Ihnen recht ist, würde Mr. Grast Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Welche Fragen?«, fragte Bethany, als sie wieder an den Stuhl trat, wo sie gesessen hatte.
»Ich bin Mitglied des Admiralsstabs der Großen Flotte, Miss Lindquist. Ich stehe im Rang eines Fregattenkapitäns bzw. Commanders und bin dem militärischen Nachrichtendienst zugeordnet. Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie mir einige Fragen beantworten könnten.«
»Natürlich, wenn es mir möglich ist.«
Grast blickte ihr fest in die Augen. »Bitte sagen Sie uns, wie es kommt, dass Sie einen gefangenen Ryall an Bord Ihres Schiffes haben.«
»Sie lügt!«
Sir Joshua Blenham, der eben Bethany Lindquist zur Tür begleitet und seinen Sekretär angewiesen hatte, sie aus dem Gebäude zu geleiten, wandte sich um und musterte Commander Grast mit einem Ausdruck äußersten Missvergnügens. »Müssen Sie immer so direkt in Ihren Behauptungen sein, Alphonse? Kaum ist unser Gast gegangen, da ziehen Sie ihren Charakter schon in den Schmutz.«
»Ich stelle bloß eine Tatsache fest, Sir Joshua. Sie belügen uns alle. Wir brauchen keinen Fachmann in Stressanalyse, um das zu erkennen. Haben Sie gesehen, wie ihr ganzer Körper sich anspannte, als wir den gefangenen Ryall an Bord ihres Flaggschiffes erwähnten? Sie zuckte zusammen, als hätte ich sie mit einer Nadel gestochen.«
»Ich muss zustimmen, Sir Joshua«, sagte Raoul Letterier. »Ich beobachtete die junge Dame sehr genau. Es ging wie ein elektrischer Schlag durch ihren Körper, als Alphonse sie nach dem Ryall fragte.«
»Vielleicht hing es mit dieser Forschung zusammen, die sie angeblich betreibt«, meinte Blenham. »Was halten Sie davon, Mr. Dalwood?«
Der Mann, der als Kelton Dalwood vorgestellt worden war, war in Wirklichkeit ein Techniker und Spezialist für die Analyse von Stressfaktoren in der Stimme und ihrer Ausdeutung. Während die drei anderen mit Bethany gesprochen hatten, hatte er heimlich ihre Stimme aufgezeichnet. Nun studierte er die Aufzeichnung. Blenhams Frage ließ ihn aufblicken.
»Verzeihen Sie, Sir Joshua, was sagten Sie eben?«
»Die Frage ist, Mr. Dalwood, ob Miss Lindquist überempfindlich auf Fragen nach dieser Forschung reagiert, die sie an dem Ryall an Bord ihres Schiffes durchführt.«
»Nein, Sir. Ihr Stressniveau war während der Zeit, als sie ihre Forschung erläuterte, relativ niedrig. Es scheint mehr die Tatsache zu sein, dass wir von diesem bestimmten Ryall wissen, die sie verschreckt hat.«
»Können Sie den Grund daraus folgern, Mr. Dalwood?«, fragte Grast.
»Nein, Sir. Es wurden nicht genug Fragen gestellt, um das zu bestimmen.«
»Beschränken wir unsere Diskussion nicht auf diese Frau, meine Herren«, sagte Letterier. »Haben Sie eine Erklärung für diese anomalen Ablesungen, die wir bei allen Kolonisten zu bekommen scheinen, Mr. Dalwood?«
»Nein, Sir. Ich kann nur sagen, dass die Spannungsebene dieser Leute steil über die Skala hinaus ansteigt, wenn wir sie entweder nach ihrem Flug durch den Ringnebel oder nach den Ryall fragen.«
»Mein Gott! Könnte es sein, dass die Ryall auch herausgebracht haben, wie sie unbeschadet durch die Reststrahlung der Novaexplosion fliegen können?«, fragte Letterier.
»Unwahrscheinlich«, sagte Commander Grast. »In diesem Fall wären wir schon in mindestens einem halben Dutzend Systemen angegriffen worden.«
»Könnte es diese strahlungsabweisende Technik sein, deren Geheimnis sie zu schützen suchen?«
Der Stress-Spezialist schüttelte den Kopf. »Wir haben inzwischen ein knappes Dutzend getestet, und sie zeigen alle eine sehr freimütige Reaktion, wenn jemand Fragen nach ihrer strahlungsabweisenden Technik stellt. Sie erklären dem Fragesteller, dass sie uns diese Technik herzlich gern zur Verfügung stellen würden, zuvor aber ein förmliches Abkommen unterzeichnet werden müsse. Ihre Reaktion ist die eines aufgeklärten Eigeninteresses, nicht eines sublimen Schuldgefühls, das zuerst den Verdacht in uns weckte, dass sie etwas vor uns verbergen.«
»Nun, meine Herren, wir werden der Sache nicht näher kommen, wenn wir in diesem Büro beisammensitzen«, erklärte Blenham. »Ich schlage vor, wir hören uns weiterhin an, was sie uns sagen, und halten Augen und Ohren offen. Inzwischen wird Miss Lindquist vielleicht auf unser Angebot eingehen, ihr bei der Ryall-Forschung zu helfen.«
Grast nickte befriedigt. »Wenn es uns gelingt, die Bestie in unsere Vernehmungsräume zu bekommen, werden wir alles erfahren können, was sie weiß.«
»Einstweilen wollen wir unsere Gäste weiterhin als Gäste behandeln. Vielleicht werden sie uns ihr Geheimnis schließlich aus eigenem Antrieb verraten.«
»Und wenn nicht?«, fragte Raoul Letterier.
»Dann werden wir einen anderen Weg finden müssen, nicht wahr?«