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Zweiundachtzig Stunden nach dem Erscheinen der Conqueror im neuerdings wiedererstandenen Faltpunkt waren alle drei großen astronomischen Fernrohre im System Valeria auf das Drama konzentriert, das eine halbe Milliarde Kilometer über der Ekliptik stattfand. Die Astronomen beobachteten mit gespannter Aufmerksamkeit, wie die winzige Konstellation weißlich-violetter Sterne sich mit 1.500 km/sec vom Zentralstern entfernte. Dann erlosch zu ihrer Verwunderung der hellste dieser Sterne. Sie waren in ihrer Sorge nicht allein. Richard Drake beschäftigten die gleichen Überlegungen. Sechs Stunden lang hatten die Discovery und ihre drei Aufklärer mit dem Wrack Schritt gehalten und sich bemüht, seine Geheimnisse aufzudecken. Sie hatten das Schiff in einem Dutzend Wellenlängen sichtbaren Lichts fotografiert, seine Flanken mit Seitenradar und stereooptischen Lasern gescannt und mit thermographischen und ultravioletten Detektoren untersucht. Während dieser Studien setzten sie ihre Kommunikationsversuche fort und deckten das Wrack der Conqueror mit scharf gebündelten Strahlen elektromagnetischer Strahlung ein, zusammengesetzt aus jeder Frequenz, die das Nachrichtensystem der Discovery erzeugen konnte. Sie stellten sogar einen Mann im Schutzanzug und mit einem Jagdgewehr in die offene Luftschleuse eines der Aufklärungsboote und brachten ihn bis auf hundert Meter an das Wrack heran. Er verbrachte eine fruchtlose Stunde damit, dass er in der Hoffnung, die metallischen Aufschläge würden durch direkte Leitung zu etwa überlebenden Besatzungsmitgliedern irgendwo im Wrack getragen, mit Hochgeschwindigkeitsprojektilen auf verschiedene Partien des Schiffes feuerte.
Und während eine Gruppe sich bemühte, die Besatzung des Raumschiffes zu wecken, gingen andere an Bord des Kreuzers von der Annahme aus, dass die Conqueror tatsächlich verlassen war. Unmittelbar nach Abschluss der thermographischen Untersuchungen berief Drake seinen Stab zu einer Sitzung in die Offiziersmesse ein, um die Strategie zu besprechen. Drake, Bela Marston, Argos Cristobal und der zweite Ingenieur Aliman Grandstaff inspizierten bereits die ersten der grellfarbenen Thermographien, als Stan Barrett eintraf.
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte der Sonderbeauftragte. »Ich habe mit Regierungsleuten zu Hause gesprochen. Haben Sie schon mal versucht, ein Gespräch zu führen, wenn es zwischen Frage und Antwort eine einstündige Verzögerung gibt?«
»Ja«, sagte Drake. »Es funktioniert nicht sehr gut, nicht wahr?«
Barrett setzte sich und seufzte. »Es funktioniert überhaupt nicht, wenn Sie mich fragen. Immerhin konnte ich einiges erfahren. Die Situation zu Hause verschlechtert sich rasch. Die Nachricht vom Erscheinen unseres Besuchers wird offiziell noch immer geheim gehalten, aber das wird nicht mehr lange Bestand haben. Seit unserer Abreise rumort es im Parlamentsgebäude von Gerüchten. Praktisch die ganze Geschichte ist inzwischen durchgesickert. Mehrere Abgeordnete haben mit einer offenen Anfrage gedroht. Jonathan Carstairs hat sogar für den Fall, dass die Regierung weiterhin jede Auskunft verweigert, eine Pressekonferenz angekündigt.«
»Wie verhält sich die Admiralität?«, fragte Drake.
Barrett lächelte. »Komisch, dass Sie danach fragen. Verschiedene Nachrichtenagenturen und andere Medien haben Nachforschungen über den Verbleib eines gewissen Kreuzers angestellt, der angeblich sehr eilig seine Parkumlaufbahn verlassen hat.«
»War zu erwarten«, bemerkte Drake.
»Wenn ich klüger wäre, würde ich eine Farm auf dem Ostkontinent kaufen und die Politik aufgeben«, seufzte Barrett. Er blickte zur Projektion. »Was haben wir hier?«
»Wir sind eben im Begriff, die Thermographien zu untersuchen.«
»Sieht wie moderne Kunst aus. Was können Sie daraus entnehmen?«
Drake zeigte auf die Projektion. »Wenn es um die grundlegenden Operationsprinzipien geht, Mr. Barrett, unterscheidet sich die Conqueror nicht so sehr von der Discovery. Sie hat eine Menge evolutionärer Verbesserungen eingebaut, aber bedeutende wissenschaftlich-technische Durchbrüche sucht man vergebens – zumindest sind gegenwärtig keine zu erkennen. Beide Schiffe verwenden Photonenantriebe für die Navigation im normalen Raum; und beide haben vermutlich ähnliche Systeme für interstellare Reisen. Das Herz eines jeden Raumschiffs ist der Masseumwandler. Schaltet man ihn aus, so schaltet man den Antrieb aus. Normalerweise geschieht dies durch die Unterbrechung der Treibstoffzufuhr in den Umwandler. Da wir keine Ahnung haben, wo dieser besondere Mechanismus an Bord der Conqueror zu finden ist, werden wir es mit einer weniger sauberen Methode versuchen.
Der Treibstoff für den Masseumwandler ist mit Deuterium angereicherter Wasserstoff, das unter Tieftemperaturbedingungen gelagert wird. An Bord der Discovery ist das Cryogen in Tanks in unserem Zentralzylinder gelagert. Die Konstruktion der Conqueror legt den Schluss nahe, dass wir die Tanks achtern finden werden. Sobald wir das getan haben, werden wir mit Lasern ein paar Löcher bohren, das Cryogen tritt unter dem Druck der Schiffsbeschleunigung aus, die Treibstofftanks werden geleert und die Masseumwandler sollten sich wegen Treibstoffmangels automatisch ausschalten.«
»Hoffen Sie«, sagte Barrett.
»Die Theorie ist vernünftig«, erwiderte Drake.
»Und was tun wir mit diesen thermographischen Aufzeichnungen?«, fragte Barrett.
»Cryogen wird bei Temperaturen gelagert, die dem absoluten Nullpunkt so nahe sind, wie die Ingenieure es erreichen können. Ganz gleich, wie wirkungsvoll die Isolierung der Treibstofftanks der Conqueror ist, es wird eine Kühlung der benachbarten Strukturen feststellbar sein. Findet man die kalten Stellen, so findet man die Treibstofftanks.«
»Wir haben einen Tank, Sir!«, sagte Grandstaff.
»Wo?« Drake beobachtete die holographische Wiedergabe. Das Spektrum der Farben reichte von Scharlachrot (heiß) im Bereich des arbeitenden Haupttriebwerks über Hellblau (Außentemperatur) auf den meisten Teilen des Rumpfes bis zu Indigo (sehr kalt) an einigen wenigen Stellen. Der Techniker hatte eine gestrichelte leuchtende Linie um einen der indigofarbenen Abschnitte gezogen.
»Ich vermute, dass es sich um einen zylindrischen Tank handelt, der sich ungefähr bis zur Mitte des Schiffes erstreckt, Captain.«
Drake nickte. »Ungefähr zu dreißig Prozent voll, würde ich sagen.«
»Ja, Sir.«
»Wie können Sie das erkennen?«, wollte Barrett wissen.
»Ich schließe es aus dem Temperaturprofil«, antwortete Grandstaff. »Nur der Teil des Tanks, der mit dem flüssigen Treibstoff tatsächlich in Berührung ist, erscheint indigofarben. Wenn dreißig Prozent der Tanklänge Tieftemperatur anzeigen, dann ist das der Prozentsatz des noch vorhandenen Treibstoffs.«
»Verstehe«, sagte Barrett in einem Ton, der Drake bezweifeln ließ, dass er es wirklich verstand.
»Habe ich Ihre Erlaubnis, die anderen Aufnahmen zu überprüfen, Captain?«, fragte Grandstaff.
»Machen Sie nur weiter.«
Es gab insgesamt sechs Treibstofftanks. Zwei davon waren an ihren vorderen Enden aufgerissen, doch hielt die Beschleunigung der Conqueror den flüssigen Wasserstoff von diesen potenziellen Lecks fern. Die Temperaturprofile ließen erkennen, dass das Raumschiff noch etwa 25 Prozent seines ursprünglichen Treibstoffvorrats besaß.
»Damit ist die Sache klar«, sagte Drake, als Grandstaff seine Schätzung vorgelegt hatte. »Wir wissen, dass unser Treibstoffvorrat nicht so lange reichen wird.«
»Wir werden eine der Schiffsbatterien einsetzen müssen, Captain«, sagte Bela Marston von seinem Platz zu Drakes Rechten. »Die Aufklärer sind unbewaffnet, und selbst wenn sie ihre Bewaffnung hätten, könnten sie diese Panzerung nicht in vertretbarer Zeit durchbohren.«
»Einverstanden, Mr. Marston. Sehen Sie ein Problem, wenn die Discovery die Arbeit übernimmt?«
»Ich dachte daran, was ich tun würde, wenn ich an Bord dieses havarierten Schiffes wäre, und irgendein fremder Kreuzer käme daher und würde anfangen, seine Initialen in meine Flanken zu schneiden, Captain. Ich glaube, ich würde mich nach Kräften zur Wehr setzen. Und selbst wenn das verdammte Ding ein aufgegebenes Wrack ist, könnte es an Bord noch jede Menge automatischer Abwehrwaffen geben.«
»Also ich sehe keine Möglichkeit, wie wir das Risiko umgehen könnten. Wenn wir den Antrieb der Conqueror nicht in den nächsten ...« – Drakes Blick wanderte zum Chronometer der Offiziersmesse – »zwei Stunden ausschalten können, werden wir gezwungen sein, die Verfolgung abzubrechen.«
»Ich habe keine Lösung des Problems, Captain. Dachte nur, ich sollte es erwähnen.«
»Mr. Cristobal, haben Sie eine Anregung?«
»Keine, Captain.«
»In diesem Fall werden wir es einfach riskieren müssen. Meine Herren, ich danke Ihnen. Bitte kehren Sie zu Ihren Stationen zurück. In fünf Minuten gehen wir in Alarmbereitschaft.«
Die luftdichten Türen geschlossen, die Besatzung in Schutzanzügen und auf Gefechtsstationen, hielt die Discovery auf das Wrack zu. Während der Kreuzer den 100.000Kilometer-Abstand zum Raumschiff verringerte, zogen sich die Aufklärer in eine Entfernung zurück, die Drake für sicher hielt.
Wieder stieß die Discovery in die glühende Plasmawolke vom Antrieb der Conqueror vor. Drake sah den Nebel auf dem Bildschirm dichter und heller werden, dann löste er sich so plötzlich auf wie beim letzten Mal. Die Filter stellten sich um und ließen weniger als ein Dutzend Kilometer voraus den gewaltigen Rumpf der Conqueror deutlich hervortreten.
»Erster Offizier, halten Sie die zweite Laserbatterie in Feuerbereitschaft.«
»Laserbatterie mit Energie versorgt und feuerbereit, Captain.«
Der Kreuzer verringerte die Distanz, bis sie weniger als einen Kilometer betrug. Lieutenant Cristobal manövrierte das Schiff so in Position, bis der zerschossene Rumpf der Conqueror querab stand und den Bildschirm im Brückenraum füllte.
»In Position«, meldete Cristobal.
»Haben Sie Zielansprache, Nummer Eins?«, fragte Drake. Er war sehr bemüht, sich die wachsende Spannung nicht anmerken zu lassen.
»Zielansprache durchgeführt, Captain«, kam Marstons Stimme aus Drakes Kopfhörer. Der große Bildschirm schaltete um auf eine taktische Darstellung, die den Zielpunkt der Laserbatterie zeigte. In einer Nahaufnahme des Heckteils der Conqueror lag ein Zielkreis mit Fadenkreuz auf einem intakten Rumpfabschnitt vor dem Triebwerksteil.
Drake umklammerte die Armlehnen seines Sitzes, befeuchtete sich die Lippen und sagte: »Geben Sie Feuerbefehl, Nummer Eins.«
»Feuer frei!«, befahl Marston.
Ein unerträglich blendender Lichtpunkt erschien auf dem Bildschirm. Eine Sekunde lang geschah nichts, dann – so rasch, dass menschliche Reflexe nicht reagieren konnten – war der Lichtpunkt verschwunden, und eine Fontäne flüssigen Wasserstoffs sprühte in den Raum heraus.
»Nächste Feuerposition, Mr. Cristobal«, befahl Drake. Es folgte ein leichter Beschleunigungsdruck, als der Kreuzer für den nächsten Schuss in eine neue Position gebracht wurde.
»In Position, Captain.«
»Sie sind dran, Mr. Marston.«
»Feuer frei!«
Wieder schoss der blendende Lichtpunkt hinaus und wurde vom Computer ausgeschaltet, als die weit heraussprühende Fontäne flüssigen Wasserstoffs erschien.
»Sehen Sie, wie lang es dauert, bis wir mit dem Laser durchkommen?«, fragte Marston, als der Kreuzer in die nächste Schussposition manövriert wurde.
»Länger, als es bei dieser Distanz dauern sollte«, erwiderte Drake.
»Ungefähr zehnmal länger, Captain. Das ist ein zäher alter Knochen!«
»Was den, der ihn so zugerichtet hat, umso gefährlicher macht«, sagte Drake.
»Ja, Sir. Zielansprache beendet, feuerbereit.«
»Dann schießen Sie.«
Die zweite Batterie feuerte ein drittes Mal, und wieder sprühte flüssiger Wasserstoff aus dem Rumpf des Wracks. Drei weitere Male wiederholten sie das schwerfällige Manöver der Positionsveränderung, des Zielens und Feuerns.
»Das wär's«, sagte Drake, als der letzte Treibstofftank der Conqueror seinen Inhalt in den Raum versprühte. »Mr. Cristobal, gehen Sie wieder auf Distanz. Wir wollen sehen, wie unsere Arbeit wirkt.«
»Ja, Sir.«
Aus einer Entfernung von fünf Kilometern war es unmöglich, die Schäden auszumachen, die sie dem Riesenschiff zugefügt hatten. Den einzigen Hinweis lieferte der Triebwerksausstoß, der nun in der dünnen zurückbleibenden Atmosphäre austretenden Treibstoffs heller denn je leuchtete.
»Was nun, Captain?«, fragte Stan Barrett. Da es für ihn keine Gefechtsstation gab, hatte der Sonderbeauftragte des Ministerpräsidenten die Operation als Beobachter im Brückenraum verfolgt.
»Wir warten, Mr. Barrett. Bis die Tanks leer sind.«
Eine Stunde später warteten sie noch immer. Die Aufzeichnungen der Thermographen zeigten, dass die Tanks nahezu leer waren, aber das Haupttriebwerk des Raumschiffs setzte nicht aus. Es beschleunigte die verlassene Conqueror gleichmäßig weiter auf ihrem Kurs, unbekümmert um die Nähe des altanischen Kreuzers.
»Warum hat der Antrieb nicht ausgeschaltet?«, fragte Barrett schließlich.
»Es muss irgendwo im Innern einen Zusatztank geben«, knurrte Drake. »Wenn dieser verdammte Saurier nicht bald abschaltet, werden wir ein echtes Problem am Hals haben. Es könnte sogar sein, dass wir ...«
»Was ist los?«, rief Barrett plötzlich.
Das riesige Schlachtschiff, eben noch an der Spitze einer weiß glühenden Plasmawolke, war plötzlich dunkel geworden. Das helle Nachglühen der Antriebsteile schien vergleichsweise matt.
Der Conqueror war endlich der Treibstoff ausgegangen!
Irgendwo in den Tiefen des Schiffes hatten Sicherheitssysteme das beginnende Versiegen des Treibstoffs festgestellt und den Antrieb ausgeschaltet, um seine Beschädigung zu verhüten. Der Computer der Discovery, von den Sensoren über die Veränderung unterrichtet, war dem Beispiel der Conqueror gefolgt und hatte ebenso abrupt den Antrieb ausgeschaltet. Obwohl nun beide Schiffe nicht weiter beschleunigten, entfernten sie sich mit enormer Geschwindigkeit weiter von Valeria ins Nichts; aber wenigstens steigerten sie ihre Geschwindigkeit nicht mehr. Eine unmögliche Situation war dadurch nur noch »schwierig« geworden.
Eine Woche später saß Richard Drake in der Pilotenkabine des Landungsbootes Molière und sah durch die Windschutzscheibe die Masse des Wracks vor sich wachsen. Die bläulich weißen, Funken sprühenden Lichter von Schweißgeräten zeigten, wo am Schließen der Löcher gearbeitet wurde, die von der Laserbatterie der Discovery in die Treibstofftanks geschmolzen worden waren. Unmittelbar vor dem Landungsboot waren Luken, aus denen das Licht provisorischer Bogenlampen drang. Gestalten in Schutzanzügen bewegten sich zielbewusst im Innern des riesigen Rumpfes. Das Landungsboot glitt bis auf zehn Meter an sein Ziel heran, dann betätigte der Pilot die Düsen zur Kontrolle der Fluglage, um vor einer der beleuchteten Öffnungen zum Stillstand zu kommen.
»Näher wage ich nicht heranzugehen, Captain«, sagte der Pilot des Landungsbootes. »Sie werden sich Hand über Hand hineinziehen müssen.«
»In Ordnung.« Drake verließ seinen Sitz und schwebte zurück in die Passagierkabine, wo er seinen Helm aus einem Ablagefach unter der Decke nahm. Der Bordingenieur des Landungsbootes half ihm beim Aufsetzen und Versiegeln. Nachdem Drake seinen Schutzanzug der Druckprüfung unterzogen hatte, sagte er: »Gehen Sie voran, Mr. Mayer.«
»Ja, Sir.« Gordon Mayers Stimme klang blechern, weil sie durch die äußeren auditiven Sensoren von Drakes Anzug kamen. Mayer zog Drake zur Luftschleuse, half seinem Kapitän hinein und wartete auf das traditionelle Zeichen des emporgereckten Daumens, bevor er die Tür schloss.
»Fertig, Sir?«, hörte Drake über sein Funksprechgerät.
»Sie können die Dekompression einleiten, Mr. Mayer.«
»Dekompression eingeschaltet. Viel Glück, Captain.«
»Danke.«
Drakes Anzug blähte sich um ihn auf, als der Druck in der Luftschleuse auf Null sank. Er stand in der leicht gebeugten, breitbeinigen Haltung, die für einen Mann in einem Schutzanzug typisch war, und lauschte aufmerksam, ob seine Ohren das Geräusch wahrnehmen würden, das jeder Raumfahrer am meisten fürchtet – das Zischen eines Luftlecks. Doch er hörte nichts als sein eigenes Atmen und das leise Summen des Luftumwälzers in seinem Traggestell.
»Die Tür wird jetzt geöffnet, Captain.«
»Verstanden.« Drake wandte sich der äußeren Tür der Luftschleuse zu. Die Innenbeleuchtung ging aus, als ein heller Spalt am Rand der Tür erschien. Er weitete sich, bis ein Mann zu sehen war, der unmittelbar vor der Schleuse schwebte und sich mit einer behandschuhten Hand an der Sicherheitsleine festhielt, die mit einem Karabinerhaken am Rumpf des Landungsbootes befestigt war. Sie führte durch die zehn Quadratmeter große Öffnung in den Rumpf des Schlachtschiffes.
»Bootsmann Coos, Captain. Der Erste Offizier erwartet Sie drinnen.« Drake machte die Armbewegung, die in einem Schutzanzug das Kopfnicken ersetzte. »Einen Augenblick, Bootsmann. Ich möchte mir dieses Ungetüm aus der Nähe ansehen.«
»Ja, Sir«, sagte Coos. Er hatte den singenden Tonfall der Leute vom Ostkontinent. »Die meisten möchten das, wenn ich sie begrüße.«
Drake wandte sich nach vorn, um am Rumpf des Schiffes entlangsehen zu können. Aus diesem Blickwinkel in der Nähe des Hecks sahen die Schäden nicht ganz so schlimm aus. Wenn er nicht allzu scharf hinsah, konnte er sich vorstellen, dass der Behemoth heil und intakt war. Nicht weit vor ihm war die Kuppel einer Gefechtsstation, aus der die hässliche Schnauze eines Partikelstrahlprojektors ragte. Die Kuppel hob sich in ihrer Silhouette vom sternübersäten Schwarz ab und widerspiegelte matt den Lichtschein der Bogenlampen voraus.
»Geht einem irgendwie unter die Haut, nicht wahr, Sir?«, meinte Coos nach einer kleinen Weile.
»Das kann man wohl sagen«, meinte Drake, dem kurz zuvor ein ungebetener Schauer über den Rücken gelaufen war. »Nun bringen Sie mich zu Mr. Marston, Bootsmann.«
»Ja, Sir.«
Die Abteilung innerhalb der offenen Luke schien ein Lagerraum zu sein – jedenfalls war er angefüllt mit einem Haufen sechseckiger Verpackungsbehälter, die in verschiedenen Farben gestrichen waren.
»Willkommen an Bord der Conqueror, Sir«, sagte eine der sechs Gestalten in Schutzanzügen mit Bela Marstons Stimme. Die eingeschalteten Helmlampen der Männer blendeten Drake und verbargen ihre Identitäten, bis sich eine Gestalt von der Gruppe löste und näher kam.
»Danke, Nummer Eins. Ich hatte es satt, immer nur Ihre Berichte zu hören. Darum dachte ich, ich sollte einmal herüberkommen und die Dinge mit eigenen Augen sehen.«
»Ja, Sir. Wir haben einen kurzen Rundgang vorbereitet. Fähnrich Symes wird uns begleiten.«
»Hallo, Sir«, sagte eine weitere Gestalt und kam zu ihnen.
»Hallo, Mr. Symes. Gehen Sie nur voran. Zuerst möchte ich die Toten sehen.«
Sofort nach Abschalten des Antriebs hatte Drake alle nicht unbedingt auf ihren Plätzen benötigten Besatzungsmitglieder an Bord der Conqueror geschickt, um das Wrack zu erkunden. Die Suchtrupps hatten aus jeweils vier Mann bestanden, und jeder von ihnen hatte den Auftrag erhalten, einen bestimmten Sektor zu durchsuchen. Sinn der Aktion war in erster Linie die Suche nach Überlebenden gewesen; man hatte keine gefunden. Der größte Teil des durchlöcherten Rumpfes war dem offenen Vakuum des Raumes ausgesetzt, und in den vereinzelten Räumen und Abschnitten, die noch Atmosphäre enthielten, war die Luft gesättigt mit giftigen Gasen und dem Geruch verbrannter elektrischer Isolierungen.
Aber sehr bald hatten die Suchtrupps Spuren der Schiffsbesatzung gefunden. Ihre persönlichen Habseligkeiten lagen in den Wohnquartieren verstreut. Nach der Größe dieser Quartiere schätzte Marston, dass die Besatzung der Conqueror mehr als tausend Mann betragen haben musste. Reste einer hastig unterbrochenen Mahlzeit trieben überall in der Kombüse und den Räumen der Offiziers- und Mannschaftsmesse.
Nach den ersten zwanzig Stunden an Bord hatten die Suchtrupps der Discovery dreiundsechzig Besatzungsmitglieder des Schlachtschiffes gefunden, deren Überreste dort trieben, wo sie im Kampf gefallen waren. Die meisten Toten waren in gepanzerten Schutzanzügen unbekannter Konstruktion gefunden worden, die von den altanischen Ingenieuren im Vergleich zu den eigenen rasch als erheblich fortgeschrittener erkannt worden waren. Trotzdem war die Panzerung in allen Fällen durch Explosionssplitter oder Laserstrahlen durchlöchert worden. Diejenigen, die nicht sofort den Tod gefunden hatten, waren bald darauf gestorben. In Räumen, die noch Atmosphäre enthielten, wurden Leichen gefunden, die anscheinend als Verletzte noch während des Gefechts dorthin gebracht worden waren. Viele von diesen wiesen Schrapnellwunden auf. Es fanden sich auch zahlreiche Gliedmaßen und Körperteile. Große Abschnitte des Schiffes waren jedoch infolge der schweren Schäden unzugänglich. Richard Drake hatte nie an einem Gefecht im Raum teilgenommen, doch hatte er die historischen Berichte gelesen und wusste, wie verheerend die Kombination von Explosivstoffen und Vakuum sein konnte. Er hatte auch Aufnahmen gesehen, die seine Leute über Bildfunk aus dem Wrack gesendet hatten. Beides ging ihm durch den Sinn, als Marston und Symes ihn zu den Gefallenen der Conqueror führten. Sie traten durch eine instand gesetzte Luftschleuse in eine Abteilung, die von den Bergungsmannschaften in ein Leichenschauhaus umgewandelt worden war.
Sobald sie drinnen waren, nahm Marston seinen Helm ab; Drake und der junge Fähnrich folgten seinem Beispiel. Die Luft im Abteil war ein Kälteschock, als Drake den Helm von den Schultern hob. Der weiße Dampf seines Atems umgab ihn, als er den Helm unter den Arm klemmte und sich der Doppelreihe von Leichensäcken zuwandte, die auf das Deck geschnallt waren.
»Wenn Sie mir folgen wollen, Captain«, sagte Symes.
Er führte Drake an einer Sicherheitsleine, die durch die Abteilung gespannt war, zu einem der nächsten Leichensäcke. Drake betrachtete die sterblichen Überreste darin durch das transparente Plastikmaterial.
Er schüttelte den Kopf, dann ging er zum nächsten Sack auf der rechten Seite, dann zu einem dritten. »Ein Schiff von der Erde, ganz recht!«
»Ja, Sir.«
Auf ungefähr der Hälfte der von Menschen bewohnten Welten zählte die überwältigende Mehrzahl der Siedler zu einem einheitlichen rassischen Typ. Alta war ein Beispiel solch einer Kolonie. Die ursprünglichen Bewohner waren zu 95 Prozent Weiße gewesen – eine Folgeerscheinung des Umstands, dass New Providence zweihundert Jahre früher fast ausschließlich von ausgewanderten Nordamerikanern und Westeuropäern kolonisiert worden war. Andere Planeten waren von anderen Rassen besiedelt worden. Die meisten Siedler der ›Garten der Harmonie‹ genannten Welt waren aus den Bergen, Steppen und Tälern Chinas gekommen; die meisten Bewohner N'domos stammten aus den Wäldern, Savannen und Industriezonen Mittel- und Südafrikas, während die Mehrzahl der Bewohner Noumoleas von den Inseln und Völkern des Großen Pazifischen Beckens gekommen waren. Anthropologen und Soziologen auf der Suche nach Dissertationsthemen hatten auf diesen Welten mit ihren homogenen Bevölkerungen wenig von Interesse gefunden. Viel faszinierender waren für sie die anderen Welten, für die Skorzen, Cinco de Mayo und Roughneck Beispiele waren. Diese Welten waren von einer zusammengewürfelten Bevölkerung aus den verschiedensten Weltgegenden besiedelt worden, so gründlich durchmischt und verschiedensprachig, als hätten die für Auswanderungsvisa zuständigen Computer sich einen mutwilligen Scherz erlaubt.
Aber noch immer in der Geschichte hat es die Menschen verschiedener Herkunft zu ihresgleichen gezogen, haben sie der Geborgenheit gemeinsamer Sprache und Volkskultur gegenüber der entwurzelten Massenzivilisation den Vorzug gegeben, und wenn es auch vielfach gegen die Wünsche, Sitten, Traditionen oder Vorurteile der Alteren zu Vermischungen unter den Jungen kam, bildeten sich doch überall, wo die Zahl der Individuen ausreichte, immer wieder räumlich abgegrenzte Ethnien rassischer und nationaler Eigenart, die innerhalb größerer politischer Ordnungen ihr Eigenleben führten und dadurch die reiche kulturelle Vielfalt der Erde in ihre Kolonien verpflanzten. Gleichwohl bildeten sich auf den meisten von Menschen bewohnten Welten allmählich homogene Bevölkerungen eines einzigen dominierenden rassischen Typs heraus. Diese Typen konnten von einer Welt zur anderen variieren, zeigten aber ein jeweils relativ einheitliches Bild.
Auf der Erde war es niemals zu einem Verschmelzungsprozess großen Umfangs gekommen. Die genetischen Reservoire der verschiedenen Rassen waren groß und tief verwurzelt, ihre Verteilung ungleichmäßig, da sie sich in fünfzigtausend Jahren unter sehr verschiedenen Umweltbedingungen isoliert voneinander entwickelt hatten. Diese Isolation hatte mit dem Aufkommen des weltweiten Verkehrsnetzes im zwanzigsten Jahrhundert aufgehört. Auch auf der Erde war ein Vermischungsprozess von Ethnien und Rassen in Gang gekommen, blieb aber eine Randerscheinung, denn die hohen Bevölkerungszahlen, die Bindungen gemeinsamer Sprache und Kultur und die an überschaubaren Gemeinschaften Gleichartiger orientierte menschliche Natur sorgten dafür, dass die Vielfalt menschlicher Stämme, Völker und Rassen noch lange Bestand haben würde.
Als Richard Drake den Lichtkegel seiner Helmlampe auf das erste tote Besatzungsmitglied der Conqueror richtete, sah er ein schwarzes Gesicht, auf dem der entspannte Friede des Todes lag. Der nächste Tote war weiß, und die offenen braunen Augen des dritten waren eingerahmt von auffallenden Lidfalten. Solche Verschiedenartigkeit innerhalb einer Schiffsbesatzung konnte nur bedeuten, dass die Conqueror mit Bewohnern der Mutter Erde bemannt gewesen war.
»Sind meine Befehle ausgeführt worden?«, fragte Drake mit einer Kopfbewegung zu den Toten.
»Ja, Sir«, sagte Symes. »Wir haben sie nicht mehr als unbedingt nötig in ihrer Ruhe gestört, die Erkennungsmarken eingesammelt, und der Schiffsgeistliche hat die Sterbegebete für sie gesprochen.«
»Gut, Mr. Symes. Sorgen Sie dafür, dass alle hier an Bord verstehen, weshalb die Toten mit Ehrfurcht behandelt werden müssen.«
»Ich werde es noch einmal allen Arbeitstrupps sagen.«
»Ich glaube, Sie sollten sich dies ansehen, Captain«, meldete sich Marston und führte ihn zu einem Leichensack am Ende der Reihe. »Unsere Suchtrupps fanden ihn erst vor zwei Stunden. Ich hatte noch keine Zeit, Meldung davon zu machen.«
Drake zog sich Hand über Hand zu der vom Ersten Offizier bezeichneten Stelle. Er beugte sich über den Kunststoffsack und seinen Inhalt, bis der Lichtkegel der Helmlampe ins transparente Fenster schien. Dann richtete er sich rasch auf.
»Eine Frau!«
»Ja, Sir. Wir fanden sie in einem der Räume, die unter innerem Druck standen, so dass wir die Tür nicht aufbrachten. Alles deutet darauf hin, dass sie zur gleichen Zeit wie die anderen getötet wurde. Fällt Ihnen etwas auf?«
Drake leuchtete wieder auf den Leichnam. Die Frau war eine hübsche Blondine gewesen und trug eine blaue Uniform, die er bereits bei mehreren von den anderen gesehen hatte. Bis auf eine große blutunterlaufene Prellung an der Stirn waren keine äußeren Zeichen von Verletzungen zu sehen.
»Was soll ich bemerken?«
»Wir fanden sie in einer Abteilung, die noch eine Sauerstoffatmosphäre bei ungefähr dreißig Grad Celsius enthielt. Inzwischen hätten Anzeichen von Verwesung sichtbar sein müssen. Ich sehe keine.«
Drake runzelte die Stirn, beugte sich näher und betrachtete eingehend die gebräunte, aber im Tod gebleichte Haut. Schließlich blickte er zu Marston auf. »Sie haben Recht. Es ist nichts zu sehen. Was kann das bedeuten?«
»Wenn Sie mich fragen, bedeutet es, dass etwas alle Bakterien an Bord dieses Schiffes abgetötet hat, einschließlich der Bakterien, die von Natur aus im menschlichen Körper leben! Abgesehen von dem Umstand, dass alle Rettungsboote fehlen, würde ich daraus schließen, die Conqueror hat einen Volltreffer von einer Neutronenwaffe erhalten. Aber bei einer so starken, unmittelbaren Neutronenstrahlung hätten wir alle tot auf ihren Gefechtsstationen und alle Rettungsboote an ihren Plätzen vorfinden müssen.«
»Ich sehe, was Sie meinen, Nummer Eins. Tragen Sie Ihre Beobachtung ins Logbuch ein. Wir werden sie mit der nächsten Meldung an die Admiralität weiterleiten.«
»Ja, Sir.«
Drake richtete sich auf. »Nun möchte ich den Maschinenraum sehen.«
»Folgen Sie mir bitte, Sir«, sagte Symes.
Sie bewegten sich zwischen den gewaltigen Generatoren, die Energie für Laserbatterien erzeugt hatten, als ein Signalmaat der Besatzung hereingeeilt kam.
»Was gibt es, Murphy?«
»Eine Botschaft mit Priorität eins kam soeben von der Admiralität, Captain!«, berichtete der Signalmaat außer Atem.
»Geheim?«, fragte Drake.
»Nein, Sir.«
»Dann lesen Sie.«
»Ich habe den Ausdruck nicht, Sir. Der Zweite Offizier befahl mir nur, Sie zu suchen und persönlich Meldung zu machen.«
»Sie haben mich gefunden. Melden Sie.«
»Ja, Sir. Der Admiral hat Dagger und einen Cryogentanker zum Rendezvous mit Conqueror entsandt, um das Schiff abzubremsen und auf die Rückkehr nach Alta vorzubereiten. Sie werden in einem Monat hier sein.«
»Das ist kaum eine Neuigkeit, Murphy«, erwiderte Drake.
»Ich habe die ganze Woche mit dem Admiral über den Bergungsplan gesprochen.«
»Das war nicht die ganze Botschaft, Captain. Admiral Dardan hat uns die Rückreise befohlen.«
»Nach Hause?«
»Ja, Sir. Wir sollen die Conqueror verlassen und innerhalb der nächsten zwölf Stunden einen Kurs maximaler Effizienz auf Alta nehmen.«
»Aber verdammt noch mal, wir sind gerade erst gekommen!
Gibt der Befehl einen Grund an?«
»Nein, Sir. Es heißt nur, dass wir auf Heimatkurs gehen sollen, schnellstens!«