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»Faltraumtransit beendet!«, kam die Ankündigung über die Bordsprechanlage.
Varlan von den Duftenden Wassern hörte sie undeutlich, wie durch ein weites, tiefes Wasser; sie achtete kaum darauf. Wie gebannt blickte sie auf den Bildschirm am vorderen Schott der ausgeräumten Feuerleitzentrale der Queen Julia, ohne ihre Umgebung zu beachten. Es war, als hätten sich die zwei Menschen, die zu beiden Seiten in ihren Sitzen angeschnallt lagen, in einen jedes Geräusch verschluckenden Dunst aufgelöst, so sehr zog es Varlan mit allen Sinnen zum Bildschirm.
Dass dieser gegenwärtig nur ein Sternenmeer zeigte, das äußerlich nicht anders war als das, welches sie zuvor noch gesehen hatte, war unwichtig. Der Weltraum ist einförmig. Er sieht im Wesentlichen gleich aus, egal wo in der Galaxis der Betrachter sich aufhält. Solange nicht der Zentralstern des Systems in Sicht ist, gibt es nichts weiter zu sehen als eine schwarze Weite, gesprenkelt von willkürlich verstreuten strahlenden Punkten. Was diese schwarze Weite davon unterschied, war, dass dies nicht irgendwelche Sterne waren. Es waren die Sterne der Heimat, Sterne, die seit den Tagen der Großen Jagd den Nachthimmel von Darthan geschmückt hatten. Dieses Wissen erfüllte Varlan mit tiefer Sehnsucht. Zum ersten Mal, seit die zweibeinigen Ungeheuer Corlis überrannt hatten, war sie der Heimat nahe!
»Varlan ...!«
»Ja?«
»Ich brauche eine Übersetzung.«
»Entschuldigung. Ich war überwältigt von dem Eindruck, wieder unter den Heimatsternen zu sein.«
Drake spielte die Aufzeichnung der Sendung ab, die vor Sekunden aufgefangen worden war.
»Die Krieger haben gebeten, dass Sie sich Fernsucher anschließen und ihm aus dem Faltpunkt folgen. Sie werden zu einem Schiff der ersten Klasse geführt, wo ein Kommando an Bord gehen und die Queen Julia durchsuchen wird. Sie werden gebeten zu bestätigen, dass Sie verstanden haben.«
»Sagen Sie ihnen, dass wir verstanden haben.«
Während Varlan die Botschaft weitergab, hörte sie Richard Drake mit der Zentrale sprechen. Sie hatte ihre Botschaft kaum beendet, als plötzlich Gewicht unter ihren Füßen war und sie sanft auf das Deck gedrückt wurde. Es war gut, wieder Schwere zu haben. Doch noch besser war es, daheim zu sein. Queen Julia kam auf der anderen Seite des Faltpunkts hinaus und nahm Kurs auf Fernsucher. Dann verließen beide Schiffe langsam den Faltpunkt und passierten einen Verteidigungsring, der jenen, den sie gerade hinter sich gelassen hatten, in nichts nachstand. Es dauerte fast eine Stunde, um den Punkt im Raum zu erreichen, wo sie von einem großen Ryall-Schiff erwartet wurden. Dies war das »Schiff der ersten Klasse«, von dem Varlan gesprochen hatte. Dem Typ nach war es ein Kriegsschiff von der Größe eines Schlachtschiffes, ungefähr gleich stark wie Drakes Conqueror II.
Was nun?, fragte sich Phillip, als der Fernsucher bei dem größeren Schiff andockte. Bald darauf öffnete sich an Bord des Letzteren ein Hangartor, und drei kleine Kurierboote kamen heraus und nahmen Kurs auf Queen Julia.
Die drei Kurierboote waren kaum unterwegs, als Richard Drakes Stimme sich über die Sprechanlage bei Phillip meldete.
»Kapitän, bitte kommen Sie mit uns zur Luftschleuse im Hangardeck.«
»Bin schon unterwegs, Admiral«, erwiderte Phillip. Er wollte die Zentrale nicht verlassen, solange sein Schiff in feindlichem Raum war, doch musste er sich eingestehen, dass er wenig tun konnte, falls die Ryall tatsächlich angreifen sollten. Richard und Bethany Drake sowie Varlan erwarteten ihn an der inneren Schleusentür zum Hangardeck, dessen Tor geöffnet war und das Innere in natürliches Sonnenlicht tauchte. Phillip sah, dass Varlan sich eine Stelle gesucht hatte, wo die Strahlen ihrer Heimatsonne sie beschienen. Er erinnerte sich nicht, die Ryall jemals so entspannt gesehen zu haben, wie sie in diesem Augenblick zu sein schien.
Hand über Hand zog er sich zum Admiral und seiner Frau.
»Gut, dass Sie gekommen sind, Phillip«, sagte Richard. »Wo ist die Ehrenwache der Marine?«
»Auf dem Weg hierher, Sir.«
»Keine Seitengewehre oder Waffen, nicht wahr?«
»Selbstverständlich, Sir. Das sind die Befehle, die ich ausgab.«
»Gut.« Er wandte sich um, blickte zum Fenster hinaus und sah, dass eines der Kurierboote bereits das Hangartor des Kreuzers ansteuerte. Da die Luftschleusenkonstruktionen nicht kompatibel waren, konnte ein Transfer zwischen Ryall und menschlichen Schiffen nur in einem unter Druck stehenden Hangar erfolgen. Doch in mehr als einem Jahrhundert Krieg gab es nach Phillips Kenntnis keinen anderen Fall, dass ein Fahrzeug der Ryall von einem Schiff der Menschen aufgenommen worden wäre. Umgekehrt verhielt es sich genauso.
Als er Geräusche hinter sich hörte, drehte er sich um und sah Sergeant Singh und ein halbes Dutzend Soldaten des königlich sandarischen Marinekorps antreten. Nach einer knappen Ehrenbezeigung wandte er sich wieder dem Aussichtsfenster zu. Das Kurierboot der Ryall war neben den Booten der Queen Julia angekommen. Die zwei anderen folgten und landeten neben dem ersten. Es gab nur noch wenig freien Raum, aber das äußere Tor begann sich schwerfällig zu schließen. Im Hangar leuchteten Flutlichtlampen auf, als das natürliche Sonnenlicht von dem sich schließenden Tor ausgesperrt wurde. Eine Minute später gab es gedämpfte metallische Geräusche, und das Abteil hinter dem Glas füllte sich mit Expansionsnebel. Er verschwand so rasch wie er gekommen war und zeigte damit an, dass der Luftdruck im Hangar sich dem im Rest des Schiffes angeglichen hatte. Einen Augenblick später schaltete die Leuchtanzeige der Luftschleuse von Rot auf Grün, und die doppelten Türen öffneten sich automatisch.
»Zeit für Ihre Show, Sergeant«, murmelte er Singh zu.
»Jawohl, Sir«, antwortete dieser und befahl seine Männer durch die Luftschleuse in den Hangar. Als sie durchgegangen waren, bedeutete Phillip dem Admiral und seiner Frau, ihnen zu folgen, dann Varlan. Er selbst bildete den Schluss. Im Hangar erforderte es einige Sekunden, aufrechte Haltung anzunehmen und die Stiefelschlösser in die sechseckigen Öffnungen des Metallrostes zu stecken, das in das Deck eingelassen war.
Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, standen sie einander in zwei parallelen Reihen gegenüber – sieben Marinesoldaten auf einer Seite, der Admiral, Bethany, Varlan und Phillip Walkirk auf der anderen. Varlan verankerte sich mit vier ihrer sechs Beine am Gitterrost und teilte so mit den anderen die Illusion von Schwere.
Der schwarze Rumpf des nächsten Kurierbootes zeigte plötzlich einen gekrümmten Lichtstreif in der Oberfläche, der sich rasch verbreiterte, als eine Luke geöffnet wurde. Im Inneren konnte Phillip die Silhouetten sechsbeiniger Wesen mit langen Hälsen sehen, deren Ohren in höchster Aufmerksamkeit seitwärts nach vorn gestellt waren. Die Schnauzen schnüffelten die Luft wie Jagdhunde, die eine Witterung suchen. Vielleicht, dachte er, war ihnen der kalte metallische Geschmack von Luft vertraut, die lange in Druckluftspeichern aufbewahrt worden war. Oder vielleicht witterten sie den Geruch von zu vielen Menschen in zu großer Nähe. Die Ryall schienen sich unschlüssig in der offenen Luftschleuse hin und her zu bewegen, dann machten sie Platz, und eine einzelne Gestalt kam aus dem Boot und begann sich am Leitkabel entlang zu den Menschen zu ziehen.
Als die Gestalt näher kam, sah Phillip, dass es ein Ryall vorgerückten Alters war, und erkannte ihn als Tarsanau, den er in der Aufzeichnung seines Gesprächs mit Drake gesehen hatte. Damit war klar, warum Fernsucher an das Schlachtschiff angedockt hatte. Sie hatten den Unterhändler der Ryall zum Kurierboot gebracht, um ihn zur Queen Julia zu transportieren. Seine Begleiter mussten die Inspektoren sein.
»Tarsanau von den Inseln im Kleineren Meer«, rief Drake aus, als der Alte auf fünf Schritte herangekommen war. »Es ist gut, dass wir uns in natura begegnen.«
Varlan dolmetschte und bekam eine Antwort.
»Ich komme an Bord deines Schiffes, um mit dir zu sprechen«, dolmetschte Varlan, dann setzte sie hinzu: »Es ist eine formale Begrüßung. Der Berater wird uns nach Darthan begleiten.«
»Bitte drücken Sie Tarsanau meine Anerkennung dafür aus, dass er zugestimmt hat, mit uns zu sprechen, und sagen Sie ihm, wir seien geehrt, ihn in unserem Schiff bei uns zu haben.«
Varlan dolmetschte, worauf Tarsanau eine kurze Antwort gab, mit der er anscheinend gleich zur Sache kam.
»Es ist Zeit zur Inspektion«, sagte Varlan. Sie machte eine Handbewegung zu den anderen, die noch im Kurierboot warteten. »Dies sind Krieger-Spezialisten in fremder Technologie. Sie werden ihnen alles zeigen. Wenn Sie die Inspektoren nicht überzeugen können, dass dieses Schiff harmlos ist, wird es keine weitere Diskussionen geben.«
»Verstanden. Phillip, lassen Sie Ihre Begleiter so rasch wie möglich kommen, damit wir die Führung beginnen können.«
Phillip hob das Funksprechgerät an seinem Handgelenk an den Mund und gab einen Befehl. Dann lauschte er einen Moment und sagte: »Sie sind unterwegs hierher, Admiral.«
»Gut.« Drake wandte sich an Tarsanau. »Du magst jetzt deine Krieger herbeirufen, dann werden wir sie mit Führern versehen. Ich fürchte, wir sind knapp an Leuten, die Ryall sprechen, also wird Varlan über ein Funksprechgerät dolmetschen.«
»Dies sind die Führer?«, fragte Tarsanau und deutete auf die Marinesoldaten.
»Nein«, antwortete Drake. »Es sind die Marinesoldaten unseres Schiffes, Bodenkrieger, die angetreten sind, unsere Besucher zu ehren.«
»Sie scheinen bereit, deine Besucher zu fangen«, sagte der alte Ryall.
Phillip verbiss sich ein Lächeln und überlegte, ob der Brauch, wichtige Besucher mit einer Ehrenkompanie oder Abordnung zu begrüßen, seinen Ursprung in einer Schaustellung von Stärke haben mochte, um feindliche Unterhändler einzuschüchtern.
Eine überraschende Einsicht aus dem Mund eines Außerirdischen ...
Die Ryall benötigten zwanzig Stunden, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass Queen Julia nichts weiter als ein unbewaffnetes Gesandtenschiff war. Selbst nachdem sie ihre Arbeit beendet hatten und Queen Julia ihre Triebwerke in Gang setzte, um dem fremden Schlachtschiff zur Heimatwelt der Ryall zu folgen, waren sie ständig auf der Hut, als erwarteten sie Verrat. Während der Inspektion hatte jedes Besatzungsmitglied an Bord reichlich Gelegenheit, Mitglieder der Kriegerkaste aus der Nähe zu betrachten, und die meisten waren von ihren Feinden stark beeindruckt.
Ihre harten Obsidianaugen sahen alles, und ihre steife, angespannte Haltung ließ sie bereit erscheinen, bei der geringsten Provokation anzugreifen. Sie glitten durch das Schiff, steckten ihre Schnauzen in alles und waren an jeder Aktivität der Menschen interessiert, einschließlich jener, die in den kleinen Abteilungen stattfanden, wo Wasserleitungen vorherrschten. Um den Ryall-Inspektoren zu zeigen, dass nichts Verstecktes geschah, wenn sie nicht hinschauten, hatte Drake angeordnet, alle Türen offen zu halten. Während der Reise sollten alle Abteilungen an Bord der Queen Julia frei zugänglich bleiben.
Nachdem sie den Kreuzer einer Inspektion unterzogen hatten, die den altanischen Generalinspekteur der Marine stolz gemacht hätte, bildeten die zwanzig Ryall-Krieger zwei Gruppen. Eine Gruppe hatte bestimmte Stationen, wo sie sich aufstellten und still wie Statuen verharrten, während sie die Aktivitäten im Umkreis beobachteten. Zu ihren Wachstationen gehörten die Zentrale, die Maschinenräume und aus einem unbekannten Grund die Kurierboote im Hangar. Jede Wache tat vierzehn Stunden Dienst und demonstrierte ein Durchhaltevermögen, das die Besatzungsmitglieder beeindruckte.
Die zweite Gruppe der Ryall-Wachen patrouillierte ständig durch das Schiff. Man konnte damit rechnen, dass ungefähr alle zwanzig Minuten ein Ryall den Kopf zur Tür hereinsteckte. Die Patrouillen gingen nicht schematisch vor, sondern schienen das Schiff wahllos zu durchstreifen. So konnte man nie wissen, wann und wo sie auftauchen würden. Die minimale Zeit zwischen Inspektionen lag unter neunzig Sekunden, während das Maximum 43 Minuten betrug.
Allmählich nahm das Leben an Bord der Queen Julia eine Art Routine an. Ryall-Inspektoren steckten ihre Schnauzen durch offene Kabinentüren, während die Mannschaft sich bemühte, nicht in die Wohnräume anderer zu blicken, wenn sie in den Korridoren ihren Pflichten nachgingen. Mensch und Ryall akzeptierten die Anwesenheit des jeweils anderen, wenn sie sich begegneten, aber es gab keine Wechselwirkung, kein aufeinander Einwirken. In den dienstfreien Stunden ihrer Freiwachen blieben beide Gruppen in ihren jeweiligen Teilen des Schiffes; der Teil der Ryall war der Frachtraum 2, den sie zum Wohnquartier umgewandelt hatten.
Nach einwöchigem Flug zum Zentralgestirn des Systems erschien auf den Bildschirmen der Queen Julia ein halb vom Sonnenlicht beschienener Globus. Wie alle erdähnlichen Welten war Darthan eine blaue Murmel von einem Planeten, wo Ozeane und Kontinente unter den Wirbeln von Wolkenformationen hervorlugten. Unter der menschlichen Besatzung gab es eine deutliche Zunahme von Erregung und Anspannung, als das Ziel in Sicht kam. Die größte Veränderung ging jedoch in Varlan vor. Sie nahm die Gewohnheit an, stundenlang in der ausgeräumten Feuerleitzentrale vor dem Bildschirm zu sitzen und mit zuckendem Schwanz die wechselnden Konfigurationen von weißen Wolken und blauen Ozeanen zu beobachten.
»Das also ist deine Heimatwelt«, sagte Bethany einen Tag nachdem Darthan auf dem Bildschirm erschienen war, als sie Varlan wie hypnotisiert sitzen sah. Keine Frage: Sie und Varlan hatten ausführlich über ihre Jugendzeit und das Heranwachsen auf Darthan gesprochen.
»Ja«, erwiderte Varlan. In einer Geste, die sie von den Menschen gelernt hatte, streckte sie einen Arm aus und zeigte mit dem Finger. »Dort auf dem größeren Kontinent, wo die weite Bucht in die Küste des Südens einschneidet. Siehst du sie?«
Bethany spähte mit zusammengekniffenen Augen auf das Bild und den Punkt, auf den Varlan zeigte, war aber nicht sicher, ob sie die erwähnten Kennzeichen ausmachen konnte.
»Das ist das Territorium der Sippe von den Duftenden Wassern, meine Heimat.«
Darthan war tatsächlich eine schöne Welt. Wie alle erdähnlichen Planeten hatte sie eine auffallende Ähnlichkeit sowohl mit Alta wie auch mit der Erde. Vielerorts waren die Ozeane mehr aquamarin als blau, was auf geringere Wassertiefen hindeutete als die der Meere auf Alta. Auch hatte diese Welt drei Monde. Der größte übertraf den Erdmond um einiges und drehte sich um seine Welt in einem kleineren Umkreis. Das deutete daraufhin, dass Darthans Gezeiten wesentlich stärker ausgeprägt waren als die der Erde. Die beiden kleineren Monde waren nicht viel mehr als große Asteroiden. Sie kreisten nur ein paar planetarische Durchmesser über Darthan und erinnerten Bethany an ein Gedicht, dass sie einmal gelesen hatte: »... die eiligen Monde des roten Mars, geflügelten Walküren gleich am düsteren Himmel, zu bergen die Gefallenen am Tag von Ragnarök ...«
Da sie Gelegenheit gehabt hatte, auf ihrer bisher einzigen Reise zur Erde Bilder vom Mars zu sehen und nicht sonderlich beeindruckt gewesen war, fragte sie sich, ob der Dichter nicht an eine andere Welt gedacht hatte.
»Darthan ist sehr schön«, stimmte Bethany zu. »Es wird noch schöner sein, denke ich, wenn wir morgen in eine Umlaufbahn kommen.«
»Ja«, bekräftigte Varlan. »Und am Tag danach, wenn wir zur Oberfläche hinuntergehen!«
Die Gesandtschaft sollte klein sein und nur aus Bethany, Richard und Phillip bestehen, dazu dem Piloten und Kopiloten des Raumtransporters, der sie beförderte. Tarsanau würde sie selbstverständlich begleiten, dazu ein paar seiner gegenwärtigen Inspektoren als ›Leibwache‹, und Varlan als Dolmetscherin.
Die Mitglieder der Gesandtschaft waren nicht nach Gesichtspunkten wie Intelligenz, Bildung oder Wissen ausgewählt worden, sondern nach ihrem wahrgenommenen Status in den Augen der Ryall. Richard Drake würde natürlich an der Spitze stehen. Bethany ging mit, weil sie Richards Frau und eine Kennerin der Kultur und Psychologie von Ryall war. Phillip ging mit, weil er Thronfolger von Sandar war. Varlan musste als Dolmetscherin dabei sein, obwohl Bethany den Eindruck gewonnen hatte, dass Tarsanau sie lieber nicht dabei gehabt hätte. Nach seiner Reaktion auf die erste Begegnung mit Varlan vermutete Bethany, dass er eine »vermenschlichte« Ryall beunruhigend fand. Dennoch war Varlan ein entscheidendes Mitglied der Gesandtschaft, schließlich würde sie ihr Sprachrohr sein.
Verspätet war entschieden worden, dass auch Periskay an der Reise zur Oberfläche teilnehmen sollte, obwohl seine Beherrschung der Standardsprache für ernste Verhandlungen nicht ausreichte. Er sollte verfügbar sein, um Varlan während Perioden »gesellschaftlicher Interaktion« zu entlasten. Was Tarsanau meinte, wenn er von »gesellschaftlicher Interaktion« sprach, war nicht klar. Bethany hoffte nur, dass die Ryall das Äquivalent eines Sektfrühstücks mit ihren Freunden nicht darin sehen würden, dass sie gemeinsam um ein kaltes Sumpfloch lagerten.
Im Lauf der Zeit hatte Bethany Hunderte von Stunden damit verbracht, sich von Varlan über die Gesellschaftsstruktur der Ryall und ihre Wertvorstellungen unterrichten zu lassen. Sie glaubte viel gelernt zu haben, doch nun, als sie mit den Ryall in ihrem Heimatsystem in Verbindung trat, war sie sich ihres Wissens nicht mehr so sicher. So gab es auf allen Gebieten zahlreiche Feinheiten, die ein Fremder niemals verstehen konnte. Umgekehrt verhielt es sich genauso, wenn Bethany versuchte, Varlan menschliche Sitten, Traditionen und Denkweisen zu erklären. Sie wusste, dass die Gesellschaft der Ryall um die Sippe organisiert war – deren nächste menschliche Analogie die Clans der Hochlandschotten im Mittelalter darstellten –, und der Wohlfahrt der Gemeinschaft wie der gesamten Art diente. Das war ungefähr der Umfang dessen, was sie mit Sicherheit zu wissen glaubte. Wenn es darüber hinaus Loyalitäten gab, konnte Bethany sie nicht erkennen. Was Menschen die Ryall-Hegemonie nannten, war tatsächlich eine Serie miteinander verflochtener Allianzen zwischen erweiterten Familien, die von dem Begriff der Sippenehre zusammengehalten wurden.
Sippenehre diktierte das Erscheinungsbild der Gesandtschaft. Tarsanau betonte, dass Jene Die Herrschen nicht mit »geringeren Wesen« verhandeln würden, und Varlan erläuterte dazu, dass der Berater durchaus nicht snobistisch sei. Vielmehr sei der wahrgenommene Status der menschlichen Gesandtschaft ein integraler Bestandteil der Sippenehre und des Eides, unter denen ihnen sicheres Geleit gewährt worden sei. Eine Gesandtschaft von geringerem wahrgenommenem Status zu entsenden, um für die Menschheit zu verhandeln, wäre als eine Beleidigung angesehen worden und hätte ihren einzigen Schutz in diesem feindlichen Sternsystem entwerten können.
Es war nicht schwierig zu verstehen, dass die Ryall die Zahl der Menschen, die ihre Welt besuchten, niedrig halten wollten. Je weniger »Gesandte«, desto weniger Augenpaare, die Dinge von militärischer Bedeutung sehen könnten.
Richard Drake hatte seine eigenen Gründe, die Gesandtschaft klein zu halten. Hier ging es nicht um ein Handelsabkommen, wo nach langen und zähen Verhandlungen Kompromisse geschlossen wurden. Ihre Mission war einfach: Es galt, den Herrschern der Ryall gegenüberzutreten und das Ultimatum mitzuteilen: Kapitulation oder Tod.
Als sie erkennen musste, dass ihre Freundin nicht gerade die Mitteilsamste war, verließ Bethany die Feuerleitzentrale. Für die Gesprächsaufzeichnung musste sie auch Aufnahmegerät und Speicherkarten bereitlegen.