23

Das akustische Signal der Bordsprechanlage brachte Drake augenblicklich zu sich. Er setzte sich im Bett auf und schaltete das Gerät auf dem Nachttisch neben sich ein. Der kleine Bildschirm leuchtete auf und zeigte Karl Slater, der als Wachoffizier Dienst tat.

»Was gibt es, Mr. Slater?«, murrte Drake nach einem Blick auf die Uhr: 3 Uhr 28.

»Sie sollten auf die Brücke kommen, Captain. Im Faltpunkt ist der Teufel los!«

»Ich bin gleich oben.«

Drake schlüpfte in einen Overall und ein Paar Bordschuhe, dann eilte er im Laufschritt zur Brücke. Als er anlangte, war die übrige Mannschaft bereits an ihren Stationen. »Melden Sie!«

»Ja, Sir«, sagte Karl Slater. »Wir haben befehlsgemäß den Faltpunkt Hellsgate-Aezer auf Anzeichen von Aktivität überwacht. Bis auf den normalen sandarischen Funkverkehr war bis vor drei Minuten alles ruhig. Dann beobachteten wir eine enorme Explosion innerhalb des Faltpunktes.«

»Wie stark?«

»Um mehrere Größenordnungen stärker als das, was wir vor sechs Tagen während der Schlacht beobachteten, Sir. Seit der Explosion haben wir auch Entladungen von Fusionssprengköpfen und eine große Zahl von Laserfeuer beobachtet.«

»Haben Sie eine Aufzeichnung?«

»Ja, Sir.«

Wie Slater gemeldet hatte, hatte die zweite Schlacht um den Hellsgate-Aezer-Faltpunkt mit einer titanischen Explosion aus dem Innern des Faltpunkts begonnen. Drake sah, wie die ewige Nacht des Raums plötzlich in Tag verwandelt wurde. Zuerst gab es nur einen einzigen Lichtpunkt in der Mitte eines kleinen Sternenfelds. Der Punkt wurde heller und wuchs, bis er eine winzige Scheibe von der Farbe eines Schweißbrenners war. Die Scheibe expandierte rasch und veränderte dabei die Farbe. Das aktinische Bläulichweiß ging langsam in Grün und dann in Gelb über. Orangefarbene Flecken erschienen, und die Kugel wurde vollständig orange, bevor sie in Rot überging. So blieb sie lange Sekunden, bis sie schließlich verschwand. Inzwischen waren weitere Lichter erschienen. Dies waren die vertrauten weißen Blitze, wie sie von den Detonationen nuklearer Sprengköpfe ausgelöst wurden, und die hellvioletten Funken von militärischen Hochenergielasern in Aktion.

Drake spielte die Aufzeichnung noch einmal ab. Als er das Geschehen zweimal beobachtet hatte, wandte er sich an seinen Nachrichtenoffizier. »Ich möchte wetten, dass alle sandarischen Schiffe und Gefechtsstationen in der Nähe des Faltpunkts gerade die Hälfte ihrer Sensoren durch Ausbrennen verloren haben! Mr. Cristobal!«

»Ja, Captain?«

»Was haben Sie festgestellt?«

»Ich habe Schwierigkeiten, die Energie dieses ersten großen Knalls zu extrapolieren, Sir. Das Spektrum deutet darauf hin, dass es eine Materie-Antimaterie-Vernichtungsreaktion war, doch wo jemand so viel Antimaterie finden sollte, übersteigt mein Vorstellungsvermögen.«

»Sie brauchten das Zeug nicht zu finden, Mr. Cristobal. Sie stellten es her.«

»Ein paar hundert Kilogramm? Das würde doch Jahre erfordern!«

Drake nickte. »Und für alle Beteiligten äußerst gefährlich sein. Meine Herren, ich glaube, unsere sandarischen Vettern sind gerade Hals über Kopf in eine Falle der Ryall gelaufen.«

»Das verstehe ich nicht, Captain.«

»Stellen Sie sich vor, dass Sie der Ryall-Kommandeur sind, Mr. Slater. Sie sind beauftragt, dieses System anzugreifen. Was ist Ihre größte Schwierigkeit?«

»Den Verteidigungsring um den Faltpunkt zu durchbrechen.«

»Keineswegs. Sie bewiesen schon vor sechs Tagen, dass sie das konnten. Nein, die Hauptschwierigkeit besteht darin, die Aufstellung der Verteidiger im Voraus zu wissen. Bedenken Sie, Sie haben keine Aufklärungsmöglichkeit. Dennoch müssen Sie wissen, wo die sandarische Flotte ist, wenn Sie eine Chance haben wollen.

Das war der Zweck des ersten Angriffs. Die Ryall setzten ihre übliche Angriffstaktik ein. Sie verleiteten die Sandarer, mit weiteren, ähnlichen Angriffen gegen den Verteidigungsring um den Faltpunkt zu rechnen. Die Sandarer reagierten, wie sie es normalerweise tun würden, indem sie den Faltpunkt massiv verstärkten. Damit konzentrierten sie einen bedeutenden Teil ihrer Streitkräfte an einem einzigen Punkt. Und vergessen wir nicht, dass einige der angreifenden Ryall die Verteidigung durchbrachen. Was taten sie darauf?

Sie verstreuten sich sofort über den halben Himmel, zwangen die Sandarer zur Verfolgung und verringerten ihre einsatzbereiten Streitkräfte damit weiter.

Sechs Tage später können Sie als Kommandeur der Streitkräfte der Ryall-Hegemonie mit einiger Zuversicht voraussagen, wo Sie einen großen Teil der sandarischen Flotte antreffen werden. Zur rechten Zeit schicken Sie Ihre Höllenmaschine durch den Faltpunkt und bringen sie zur Explosion. Die Verteidiger werden vorübergehend geblendet, und da es sich um eine Antimateriereaktion handelt, werden nur Hochenergiephotonen freigesetzt. Mit anderen Worten, die Explosion erzeugt eine hohle Strahlungsschale, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnt und keinen unangenehmen Feuerball elektrisch aufgeladenen Plasmas zurückläßt! Eine Sekunde nach der Explosion vollzieht Ihre Invasionsflotte den Übergang durch einen Faltpunkt, der frei von Energierückständen ist, und durchbricht sofort die umschließende Kugelstellung menschlicher Kriegsschiffe und Gefechtsstationen. Es wird gar nicht entscheidend sein, wie viele menschliche Schiffe Ihren Angriff überleben. Wenn Sie eine halbe Stunde vor ihnen nach Sandar gelangen können, ist Ihre Mission ein voller Erfolg. In gewisser Weise ist es eine Ironie.«

»Was meinen Sie, Captain?«

»Wir sagen uns immer wieder, dass hundert Jahre Kriegführung die Sandarer alles über die Ryall gelehrt haben sollten, was es zu lernen gibt. Es kam uns nie in den Sinn, dass umgekehrt das Gleiche gelten muss!«

Drake starrte auf den großen Projektionsschirm, wo das Funkeln von Glühwürmchen weiter vom Tod vieler Menschen kündete. Nach längerem Schweigen wandte er sich zu Slater.

»Verschaffen Sie mir eine Verbindung mit der Befehlszentrale unten, Mr. Slater, und verbinden Sie mich mit dem kommandierenden Offizier.«

»Jawohl, Sir!«

Kaum zwei Minuten später blickte Drake in das Gesicht eines Mannes mit den Kragenspiegeln eines Admirals der sandarischen Raumstreitkräfte.

»Es tut mir leid, Sie zu stören, Admiral«, begann Drake, »aber wir haben die Ereignisse im Faltpunkt beobachtet und einiges daraus gefolgert, was wir Ihnen nicht vorenthalten möchten.«

»Sprechen Sie.«

Drake erläuterte seine Befürchtungen in bezug auf die Möglichkeit, dass die Dritte Flotte durch eine List des Feindes verleitet worden sei, die Gefechtsstationen um den Faltpunkt zu verstärken. Als er geendet hatte, nickte der sandarische Admiral reumütig.

»Wir sind hier zu der gleichen Schlussfolgerung gekommen.«

»Ich an Ihrer Stelle«, sagte Drake, »würde die Erste und die Zweite Flotte gefechtsbereit machen.«

»Danke für Ihren Rat, Captain Drake. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen, ich habe Vorbereitungen zu treffen.«

Sobald die Verbindung unterbrochen war, wandte Drake sich an Slater. »Wir werden die weitere Entwicklung bis zum Morgen überwachen. Bis dahin sollten wir wissen, ob mein Verdacht gerechtfertigt ist.«

»Jawohl, Sir.«

Drei Stunden später schien der Kampf um den Faltpunkt beendet zu sein. Wo er getobt hatte, beobachteten Teleskope und Sensoren der Discovery die expandierenden Plasmastreifen zahlreicher Schiffe. Alle beschleunigten zum Planeten. Die enormen Distanzen machten eine Identifikation unmöglich, aber Drake bezweifelte sehr, dass er die siegreiche Dritte Flotte auf dem Heimflug sah – nicht mit fünf g Beschleunigung!

»Haben Sie einen Vorschlag, Mr. Marston?«, fragte Drake seinen Ersten Offizier. Marston war an seinem Platz in der Feuerleitzentrale.

»Nur einen, Sir. Ich schlage vor, dass wir uns schleunigst aus dem Staub machen!«

Drake nickte. »Ganz meiner Meinung. Geben Sie allgemeinen Bereitschaftsalarm, Nummer Eins. Es sind alle Startvorbereitungen zu treffen.«

»Ja, Sir.«

Das Läuten der Alarmglocken hallte durch das Schiff und erzeugte hektische Aktivität. Drake bemerkte nicht ohne Stolz, dass seine Konsole nach weniger als einer Viertelstunde die Startbereitschaft meldete. Offensichtlich hatten viele Besatzungsmitglieder des Kreuzers von der Schlacht gehört und in Erwartung des Befehls ihre Stationen aufgesucht.

»Verständigen Sie Captain Fallan an Bord der City of Alexandria, Mr. Slater.«

»Ja, Sir.«

Dreißig Sekunden später blickte Fallans Gesicht aus Drakes Bildschirm. »Wir sind jederzeit startbereit, Captain. Aber es tut mir leid, die Sandarer in der Klemme zurückzulassen.«

»Sie sind große Jungen, Kenil. Sie haben den Rest ihrer Flotte, um die Ryall abzuwehren. Unser Datenmaterial ist zu wichtig, um zu riskieren, dass wir ins Kreuzfeuer geraten. Außerdem werden ihnen ein weiterer Kreuzer und ein unbewaffnetes Passagierschiff keine große Hilfe sein.«

»Ja, Sir. Alexandria Ende.«

»Discovery Ende.« Drake räumte seinen Bildschirm leer und drückte die Nummer des Maschinenraums. »Chefingenieur Arnam, bitte.«

»Hier, Sir.«

»Sie können die Rotation anhalten, Gavin.«

»Wird gemacht, Captain. In zehn Minuten werden wir Schwerelosigkeit haben.«

»Gut. Mr. Cristobal, legen Sie einen Kurs zum Hellsgate-Napier-Faltpunkt fest.«

»Schon programmiert, Captain.«

»Mr. Slater, verständigen Sie bitte die sandarische Raumüberwachung, dass wir bereit sind, die Umlaufbahn zu verlassen. Empfehlen Sie eine Startzeit in ...« Drake blickte auf das Chronometer – »sagen wir, fünfzehn Minuten.«

»Zu Befehl, Sir.«

Nachdem er seine Befehle erteilt hatte, wandte Drake sich wieder den Informationen zu, die von den Langstreckensensoren eingingen.

Die Zahl der Schiffe, deren Kurs eindeutig auf Sandar gerichtet war, wuchs weiter an. Drake hoffte, dass die Sandarer ihre Sperrriegel rechtzeitig in Position bringen würden. Wenn nicht, stand ihrer Welt Schlimmes bevor. Fünf Minuten vergingen. Nachrichtenoffizier Slater meldete sich.

»Was gibt es, Lieutenant?«

»Sir, die Verkehrskontrolle verweigert uns die Starterlaubnis.«

»Was?«

»Sie weigert sich, uns aus der Umlaufbahn starten zu lassen, Captain.«

»Haben Sie den Leuten gesagt, dass unsere Anfrage nur eine Höflichkeit war, und dass wir jederzeit starten werden, wenn wir bereit sind und es für richtig halten?«

»Ja, Sir. Der Leiter sagt, er verstehe vollkommen, aber die Erlaubnis werde trotzdem verweigert. Warten Sie einen Moment, Captain. Eine neue Botschaft geht ein – sie ist für Sie. Commodore Bardak.«

»Stellen Sie ihn durch.«

Drakes Bildschirm wurde leer geräumt, dann erschienen Bardaks inzwischen vertraute Züge. »Ihre Leute haben mir gesagt, dass ich die Umlaufbahn nicht verlassen kann, Commodore.«

»Sie taten es auf meinen Befehl, Fleet Captain«, antwortete Bardak. »Ich ersuche Sie, Ihre Abreise um weitere vier Stunden zu verschieben. Nach Ablauf dieser Zeit werden Sie starten können.«

»Warum vier Stunden?«

»Weil ich so lange benötigen werde, um Ihr Schiff zu erreichen. Ich muss Sie in einer Angelegenheit sprechen, die über eine offene Radioverbindung nicht praktiziert werden kann.«

Drake nickte nach kurzem Zögern. »Gut, Sie haben also vier Stunden. Nach Ablauf dieser Frist werden wir die Heimreise antreten, ob wir Ihre Erlaubnis haben oder nicht.«

»Sie werden nicht nur meine Erlaubnis haben, Captain Drake. Sie werden meinen Segen haben.«

Drake wartete, als Bardak aus der Luftschleuse der Hangarbucht kam. Der Sandarer schüttelte ihm die Hand. Sein Gesichtsausdruck war ernst. »Ich danke Ihnen, dass Sie Ihre Abreise aufgeschoben haben, Captain.«

»Gern geschehen, denke ich. Haben Sie Nachricht vom Faltpunkt?«

Bardak klopfte mit den Fingerspitzen auf die Brusttaschen seines Uniformrocks. »Kurz bevor ich die Hauptstadt verließ, erhielten wir einen Bericht von der Dritten Flotte. Können wir irgendwo sprechen? Ich werde ein Lesegerät brauchen.«

»Wir werden in der Offiziersmesse zusammenkommen. Stan Barrett, Alicia Delevan und Bethany Lindquist haben darum gebeten, dass ihnen die Teilnahme erlaubt wird. Mehrere meiner Offiziere werden auch dort sein. Gibt es Einwände?«

»Nein, keine, Captain. Die Zeit für politische Manöver ist vorbei. Je mehr Leute meine Geschichte hören, desto besser.«

»Politische Manöver?«

»Ich werde es später erklären. Darf ich Sie bitten, dass wir uns jetzt beeilen? Meine Zeit an Bord Ihres Schiffes ist knapp bemessen. Es gibt viel zu tun und wenig Zeit, die dafür zur Verfügung steht.«

»Selbstverständlich, kommen Sie mit.«

Drake zog sich Hand über Hand die Führungsleinen entlang durch die Schwerelosigkeit des Schiffes, Bardak folgte ihm in der gleichen Weise. Außer den erwähnten Personen waren Bela Marston und Argos Cristobal in die Offiziersmesse gekommen. Bardak zog sich zu einem Stuhl und schnallte sich an. Dann griff er in die Brusttasche, zog eine Speichertafel hervor und reichte sie Drake.

Drake steckte sie in ein Lesegerät, das für den Anlass am Tisch der Offiziersmesse befestigt worden war. Der Bildschirm an der Stirnwand des Raums leuchtete auf und zeigte eine schematische Darstellung des Hellsgate-Systems. Sie ähnelte jener, die John-Phillip seinem Besucher in der Befehlszentrale unter dem Schloss gezeigt hatte. Mit Hilfe der Fernbedienung aktivierte Bardak einen kleinen goldenen Cursor, der auf dem Bildschirm die Position des Faltpunktes anzeigte.

»Vor einigen Stunden, Captain Drake, unterrichteten Sie einen diensthabenden Offizier im Hauptquartier von Ihrem Verdacht, dass wir einer Kriegslist der Ryall zum Opfer fielen und in eine Falle tappten. Es schmerzt mich sagen zu müssen, dass ich Ihnen zustimme. Offenbar kennen die Ryall uns weit besser, als wir ahnten. Aus Gründen, die ich Ihnen gleich erklären werde, war die Zeitwahl ihres Angriffs und seine Ausführung ein Meisterstück.

Der Angriff begann mit der Detonation einer sehr großen Antimateriebombe. Zwei von unseren Schiffen, die zu dem Zeitpunkt innerhalb des Faltpunktes patrouillierten, wurden sofort vernichtet. Der Rest unserer Flotte einschließlich der Gefechtsstationen wurden von der Explosion geblendet. Etwa die Hälfte unserer Sensoren und siebzig Prozent unserer Nachrichtenverbindungen wurden durch die Druckwelle der Explosion vorübergehend außer Betrieb gesetzt.

Eine halbe Sekunde nach der Antimaterie-Explosion erschienen fünfundsechzig Kriegsschiffe der Ryall im Faltpunkt. Unsere Streitkräfte begannen sofort, sie mit Laserkanonen, Antimaterieprojektoren und Raketen ins Kreuzfeuer zu nehmen. Wir erzielten viele Treffer, doch waren die Verluste des Feindes nicht annähernd so hoch, wie sie es gewesen wären, wenn wir unsere Verteidigung besser hätten koordinieren können. Die Ryall setzten die gleiche Taktik ein, die sie vor sechs Tagen verfolgten. Sie konzentrierten ihr Feuer auf einen Abschnitt der Abwehrsphäre, und es gelang ihnen, eine Bresche freizuschießen, durch die sie eindringen konnten. Das letzte Ryall-Schiff durchbrach die Absperrung um den Faltpunkt acht Minuten und siebzehn Sekunden nach der anfänglichen Explosion.«

»Was ist mit dem König?«, fragte Stan Barrett. »Ist er in Sicherheit?«

Bardak nickte. »Durch Gottes Gnade war sein Flaggschiff auf der entgegengesetzten Seite der Abwehrsphäre, als der Durchbruch erfolgte.« Er wandte sich zum Bildschirm und bewegte den Cursor, um die Ryall-Schiffe zu markieren. »Von fünfundsechzig Feindschiffen durchbrachen sechsunddreißig unsere Abwehr um den Faltpunkt. Sie formierten sich in guter Ordnung und begannen sofort gegen Sandar zu beschleunigen. Die Dritte Flotte verfolgt sie und verfügt tatsächlich über die größere Zahl und höhere Feuerkraft. Unglücklicherweise hat sich die Ryall-Flotte aber in den letzten paar Stunden in zwei verschiedene Gruppen aufgeteilt.«

»Warum ›unglücklicherweise‹?«, fragte Barrett. »Ich denke, es würde Ihnen lieber sein, sie in kleinen Gruppen anzugreifen.«

»Unglücklicherweise, weil wir ihre Strategie zu verstehen beginnen. Eine Vorausabteilung von acht Schiffen hat die Masse der Angreifer hinter sich gelassen. Sie beschleunigt weiter mit fünf Komma zwei g. Die übrigen achtundzwanzig Schiffe haben ihre Beschleunigung auf vier Komma fünf g reduziert. Die größere Gruppe fungiert offensichtlich als Rückendeckung, um die Vorausabteilung gegen die Dritte Flotte abzuschirmen. Wir werden jedes der Schiffe der Hauptabteilung bezwingen müssen, bevor wir die Vorausabteilung einholen können. Eine andere Vorgehensweise würde die Dritte Flotte in ein gefährliches Kreuzfeuer bringen.«

»Wie können sie die Beschleunigung von fünf g aufrechterhalten?«, fragte Bela Marston. »Ihre Treibstofftanks werden trocken sein, bevor sie Sandar erreichen.«

»Oder kurz danach«, sagte Bardak.

»Aber sie werden nicht verlangsamen können. Sobald ihr Treibstoff verbraucht ist, sind sie ohne Rückfahrkarte auf einer Reise in die Unendlichkeit.«

»Die Ryall sind entschlossen, einen von Menschen bewohnten Planeten zu zerstören, Commander Marston. Für ihre Begriffe ist der Tausch von fünfundsechzig Schiffen gegen Sandar ein gutes Geschäft.«

»Haben Sie eine Vorstellung, welche Schiffe in der Vorausabteilung sind?«, fragte Drake.

Bardak manipulierte wieder die Fernbedienung, und die Szene wurde herangeholt, bis die Vorausabteilung der Ryall zu sehen war. Die Markierungen von drei Schiffen in der Mitte der Abteilung begannen zu blinken. »Diese drei bereiten uns die größte Sorge. Sie sind die eigentliche Kampfgruppe. Die anderen Schiffe sind hauptsächlich bewaffnete Begleiter.«

»Kennen Sie den Typ?«

»Wir halten sie für Angriffsträger.«

Es wurde plötzlich still im Raum. Nur die beiden Botschafter blickten verwirrt.

»Können Sie mir verraten, was ein Angriffsträger ist?«, fragte Alicia Delevan.

Richard Drake wandte den Kopf und sagte: »Ein Angriffsträger ist ein großer umgebauter Frachter, der bis zu den Platten der Rumpfverkleidung mit Raketen und Nuklearsprengköpfen vollgestopft ist. In Anbetracht der Zahl und Feuerkraft der planetarischen Verteidigungszentren Sandars würden die Ryall bei einem konventionellen Angriff, wie sie ihn am Faltpunkt führten, mit hoher Wahrscheinlichkeit vernichtet, bevor sie in Schussweite kommen könnten.

Hier kommen die Angriffsträger ins Spiel. Weil eine Rakete klein ist, bleibt ihre Reichweite begrenzt. Andererseits ist es möglich, sehr viele Raketen in einem Angriffsträger zu transportieren. Die Ryall-Träger werden ihre Raketen wahrscheinlich abfeuern, kurz bevor sie in Reichweite der Planetarischen Verteidigungszentren kommen. Jede einzelne dieser Raketen bedeutet mindestens eine ausgelöschte sandarische Stadt, so dass die Verteidigungszentren sie nicht werden ignorieren können. Statt auf acht Ziele zu feuern, werden sie es mit dreihunderttausend zu tun haben! Das Ziel der Ryall ist die Lähmung des Computernetzes der PVZs durch Überladung.«

»An Ihrer Stelle, Admiral«, sagte Alicia Delevan, »würde ich die Erste und die Zweite Flotte auf den Weg bringen, um diese Angriffsträger abzufangen!«

Bardak machte ein schmerzliches Gesicht und seufzte. »Das ist ein ausgezeichneter Rat, Mrs. Delevan. Ich wünschte, ich könnte ihn befolgen. Unglücklicherweise besitzen wir keine anderen Flotten. Mit Ausnahme meines eigenen Geschwaders von Abfangjägern und ein paar Dutzend Schiffen hohen Alters und zweifelhaften Gefechtswerts gibt es in der Umlaufbahn um Sandar keine Kriegsschiffe mehr.«

Lange Sekunden blieb es still in der Offiziersmesse. Die Altaner starrten Bardak an.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Drake. »Sie entsandten Ihre gesamten Raumstreitkräfte, um den Faltpunkt zu bewachen?«

»Bedauerlicherweise ist genau das der Fall, Captain.«

»Aber wie konnte das geschehen«, fragte Stan Barrett. »Man sagte uns, Ihre Raumstreitkräfte verfügten über fünfhundert Schiffe!«

»Ich fürchte, wir sind nicht ganz aufrichtig zu Ihnen gewesen, Botschafter. Wir fürchteten, dass Sie eine Allianz mit uns vermeiden würden, wenn Sie den wahren Zustand unserer Streitkräfte entdeckten. Als die Ryall den Faltpunkt angriffen und wir gezwungen waren, unsere gesamte Flotte zur Stärkung der Verteidigung zu entsenden, nannten wir sie die Dritte Flotte in der Hoffnung, dass Sie daraus die Folgerung ziehen würden, es gäbe weitere.«

»Aber Botschafter Cartier bestätigte mir gegenüber Ihre Stärke«, warf Bethany ein.

»Er ist kein Botschafter, Miss Lindquist. Ambrose Cartier wanderte vor etwa dreißig Jahren von der Erde ein. Wir wählten ihn aus, die Rolle des Botschafters der Erde zu spielen, als Sie um eine Audienz nachsuchten.

Die Wahrheit ist, dass wir von der Erde abgeschnitten sind, seit die Ryall vor fünfzehn Jahren mit starken Streitkräften ins Aezer-System vordrangen. Seit jener Zeit haben wir dreimal Versuche unternommen, uns zum Aezer-Hermes-Faltpunkt durchzukämpfen und zur Erde durchzubrechen. Die letzte derartige Anstrengung fand vor sechs Monaten statt. Sie kostete uns dreiundachtzig Schiffe und zwölftausend gute Männer. Das ist der Grund, weshalb wir gegenwärtig so schwach sind. Und zweifellos war es ein Faktor in den Überlegungen der Ryall, diesen Zeitpunkt für ihren Großangriff zu wählen.«

»Und Sie glauben nicht, dass Sie diese Angriffsträger aufhalten können, bevor sie in Schussweite kommen?«, fragte Drake.

»Ich glaube es nicht«, antwortete Bardak. »Realistisch gesehen ist unsere Chance, alle drei zu vernichten, weniger als eins zu zehn.«

»Das ist eine pessimistische Einschätzung«, sagte Barrett.

»Nicht pessimistisch, Botschafter. Realistisch. Sie ist auch der Grund dafür, weshalb ich Captain Drake bat, seine Reise aufzuschieben. Wir haben eine Gefälligkeit von Ihnen zu erbitten.«

»Was für eine Gefälligkeit?«, fragte Drake.

»Königin Felicia, Kronprinz Phillip und beide Prinzessinnen sind an Bord meiner Fähre. Ich werde ewig in Ihrer Schuld stehen, wenn Sie die Güte haben, sie mit sich nach Alta zu nehmen.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Drake. »Sie können in der City of Alexandria unterkommen.«

Bardak machte ein unglückliches Gesicht. Sorgfältig wählte er seine nächsten Worte. »Ich danke Ihnen, Captain, wäre aber sehr viel glücklicher, wenn sie an Bord der Discovery reisen könnten. Der Kreuzer ist besser imstande, sich im Falle von Schwierigkeiten zu verteidigen.«

Drake schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.«

»Aber warum nicht? Welchen möglichen Unterschied kann es machen?«

»Einen großen«, sagte Drake. »Die Discovery wird nicht die Heimreise antreten. Sobald wir die Umlaufbahn verlassen, wird es geschehen, um die Angriffsträger der Ryall an Ihrer Seite abzuwehren.«

» Was? «

Der Ausruf kam von beiden Botschaftern gleichzeitig. Stan Barrett sah aus, als hätte er einen Herzanfall, und Alicia Delevan sperrte Mund und Augen auf.

»Das können Sie nicht machen, Captain!«, sagte Barrett, als er sich wieder gefasst hatte. »Sie sind der Regierung und dem Parlament verantwortlich, dass diese Expedition sicher heimkehrt. Die Expedition hat ihren Auftrag erfüllt. Jetzt unsere Schiffe zu riskieren, ist mit unserem Auftrag nicht zu vereinbaren.«

»Ich muss dem zustimmen, Captain Drake«, sagte Bardak.

»So sehr wir die Hilfe benötigen, ein weiteres Schiff wird sehr wenig bewirken können. Es mag durchaus ein hoffnungsloses Unterfangen sein.«

»Hoffnungslos oder nicht, wir müssen es versuchen, verdammt noch mal!«, rief Drake aus. »Ihre Welt ist in Gefahr, pulverisiert zu werden, Mann! Hunderte von Millionen werden sterben.«

»Auf die Gefahr hin, hartherzig zu scheinen«, sagte Barrett, »die Menschen werden sterben, ob Sie diese ritterliche Geste machen oder nicht. Wir haben eine Fürsorgepflicht gegen unsere eigenen Leute. Wir brauchen Sie, um uns sicher aus dem System zu bringen. Alta muss vor der Bedrohung gewarnt werden!«

»Ich denke an unsere Leute, Mr. Barrett. Diese Ryall-Flotte wird unsere Schiffe ausmachen, wenn sie Sandar über den Hellsgate-Napier-Faltpunkt verlassen. Sicherlich wissen sie, dass Napier eine Sackgasse ist. Ist es nicht wahrscheinlich, dass sie nachforschen werden, wohin wir gegangen sind?«

»Ich sage, dass sie es nicht tun werden. Wir sind nur drei kleine Schiffe, und sie haben Wichtigeres im Sinn.«

»Dann bedenken Sie, was geschieht, wenn Sandar zerstört wird! Ein Teil der sandarischen Flotte wird überleben, ebenso wie einige Millionen Menschen an der Oberfläche. Wohin, meinen Sie, werden diese Flüchtlinge gehen? Wie viele Schiffe werden die Ryall im Hellsgate-Napier-Faltpunkt verschwinden sehen, bevor sie misstrauisch werden?

Nein, Mr. Barrett. Wenn die Sandarer diese Schlacht verlieren, werden die Ryall bald den Weg nach Alta finden. Wollen wir unser Geheimnis bewahren, müssen wir sie hier und jetzt besiegen.«

Drake sah Barretts Zügen an, wie die Erkenntnis dämmerte. Der zornige Ausdruck des Botschafters verlor sich in Verwirrung, und wenige Augenblicke später blieb von dieser nur quälende Sorge übrig. Er hob den Blick zu Drake und sagte so leise, dass seine Stimme beinahe tonlos war: »Gut, Sie haben mich überzeugt! Wir müssen sie jetzt aufhalten, wenn wir vermeiden wollen, die Ryall auf uns selbst zu ziehen.«

Drake wandte sich an Alicia. »Mrs. Delevan?«

Sie starrte mit hartem Blick zurück. »Ich würde sagen, dass Sie unseren Missionsbefehl eben über Bord geworfen haben, Captain.«

Er zuckte die Achseln. »Ich sehe keinen anderen Ausweg.«

»Ich auch nicht. Aber ich sage auch, dass es Zeit ist, Paragraph sieben ebenso zu vergessen.«

Nach einem verständnislosen Blick begriff Drake, nickte und wandte sich wieder an Bardak. »Sie sagten vorhin, dass die Zeit für politische Manöver vorbei sei, Commodore. In diesem Fall möchten wir Ihnen eine Frage stellen ...« Darauf schilderte er die Ereignisse, die auf die Ankunft der Conqueror im System Valeria gefolgt waren. Als er geendet hatte, war es an Bardak, ein schockiertes Gesicht zu machen.

»Und Sie dachten, dieses Wrack sei aus unserem System gekommen?«

»Woher sonst? Von New Providence kam es sicherlich nicht.«

»Captain Drake, seit mehr als fünfzehn Jahren ist kein Schiff von der Erde in diesem System gewesen. Glauben Sie mir, wir hätten es bemerkt!«