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Phillip Walkirk, Kapitän des leichten Kreuzers Queen Julia, zog sich an den Armen aus der Luke, hinter der er die letzten vier Stunden verbracht hatte. Rings um ihn her war das millionenfache Funkeln im Inneren eines Photonenrechners, das an eine Ansammlung besonders dichter, mikroskopischer Sternhaufen gemahnte. Als er in den beleuchteten Axialgang Nr. 4 hinauskam, blinzelte er geblendet in das grelle Licht der Deckenbeleuchtung. Dann stieß er sich sanft mit den Händen ab und drehte sich zugleich in eine aufrechte Position. Das Manöver wurde mit der kaum bewussten Selbstverständlichkeit ausgeführt, die ein monatelanger Aufenthalt unter minimalen Schwereverhältnissen mit sich bringt.
Unter der hellen Korridorbeleuchtung glich Phillip weniger dem Thronfolger als einem jener Unglücklichen, die sich allabendlich in der Hauptstadt versammelten, um neben den warmen Abluftschächten des königlichen Terrariums zu schlafen. Seine Latzhose war nicht nur stark fleckig, sondern in mehreren Schichten dekoriert mit nicht identifizierbaren Substanzen, die seine Aktivitäten seit seiner letzten Gelegenheit, die Kleider zu wechseln, widerspiegelten. Wenn auch für Phillips Ungeduld nicht schnell genug, waren die Reparaturarbeiten an der Queen Julia mit überraschender Schnelligkeit vorangekommen, nachdem die Schlepper den schwer beschädigten Kreuzer in den Kokon des großen Reparaturdocks manövriert hatten. Wie Kapitän Andrejew, der Leiter der Reparaturwerft, erwähnt hatte, erleichterte der Typ des Kreuzers, der baugleich mit den Kriegsschiffen der Klasse Illustrious III war, die Reparaturarbeiten, weil die beschädigten und zerstörten Teile durch Standardmodule ersetzt werden konnten.
Insgesamt verbrachte die Queen Julia 22 Tage in der Reparaturwerft, umgeben von Gerüsten, Kränen und beweglichen Montagebühnen. Am Ende dieser Zeit, als das Schiff wieder vakuumdicht war, ließ Kapitän Andrejew das Reparaturdock räumen, um die Arbeiten an einem weiteren Opfer des andauernden Kampfes um die Herrschaft über das System Spica zu beginnen. Phillip hatte Gelegenheit gehabt, von außen zu beobachten, wie die massiven Flügel des Tores sich öffneten und sein Schiff wieder von Eulystas wärmenden gelben Lichtstrahlen beschienen wurde.
Trotz zu langer Arbeitstage und zu kurzer Schlafperioden konnte Phillip sich rückblickend nicht an eine Zeit erinnern, in der er glücklicher gewesen wäre ...
»Commander«, rief eine Stimme. Phillip drehte sich in der Luft um seine Achse und sah den Ersten Offizier, der Hand über Hand den Korridor entlang auf ihn zu hangelte.
»Was gibt es, Mr. Weintraub?«
»Kapitän Andrejew lässt Sie grüßen, Sir, und bittet Sie, sich um 16:00 Uhr in seinem Büro einzufinden.«
Phillip sah auf seinen Chronometer, »Das ist in zwanzig Minuten.«
»Ja, Sir. Ihr Anschluss war unbesetzt, also machte ich mich auf die Suche nach Ihnen. Sie haben kaum noch Zeit, sich umzuziehen, bevor Sie an der Luftschleuse sein müssen. Kaminski hat das Boot schon startbereit.«
Phillip befühlte schuldbewusst die Tasche seiner Latzhose. Ein Druck, und das vertraute Piepen zeigte, dass sein Anschluss funktionierte. Er hatte ihn ausgeschaltet, weil die Schaltungen des photonischen Rechners zwar immun gegen elektromagnetische Interferenzen waren, einige der Diagnosegeräte an seinem Werkzeuggürtel aber nicht.
»Sagte Kapitän Andrejew, was er will?«
»Nein, Sir. Nur dass Sie sich um 16:00 Uhr bei ihm einfinden möchten.«
»Gut. Melden Sie Kaminski, dass ich in sieben Minuten dort sein und in zehn unterwegs sein möchte.«
Damit stieß Phillip sich ab und glitt vorwärts zur Kreuzung, wo der Axialgang 4 auf den Umfangskorridor Beta stieß. Seine Kajüte war eine Vierteldrehung um das Schiff und zwei Decks vorwärts.
Wenn er seine Bartstoppeln abrasieren und sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzen wollte, würde ihm nicht genug Zeit bleiben, seine Uniform anzuziehen. Er würde also seine saubere Uniform aus dem Spind nehmen und sich in der Enge des Bootes umziehen müssen.
Er vermutete, dass Gefreiter Kaminski, der eine Frau war, ihren Enkeln die Geschichte von dem Tag erzählen würde, als sie mit dem künftigen König von Sandar in einer kleinen Bootskabine in der Größe einer Telefonzelle zusammengepfercht war, und wie der Thronfolger sich in der Enge bis auf die Unterhosen ausgezogen hatte. Das setzte natürlich voraus, dass Gefreiter Kaminski lange genug lebte, um Enkelkinder zu haben, und er lange genug lebte, um König zu werden.
Die digitale Zeitanzeige in Kapitän Andrejews Büro stand auf 16:02:36 Uhr, als Phillip durch die Türöffnung schwebte. Der Marinesoldat im Vorzimmer blickte von seiner Arbeit auf und sagte: »Der Kapitän erwartet Sie, Commander. Ich werde Sie anmelden, und Sie können dann gleich hineingehen.«
Phillip zog sich zur inneren Tür, die halb offen stand, klopfte einmal, wie das Protokoll verlangte, und zog sich dann durch die Öffnung.
»Commander Phillip Walkirk, Kommandant Queen Julia, meldet sich zur Stelle, Sir«, sagte er. Andrejew, der mit einer Frau gesprochen hatte, die an einen der Besucherstühle vor seinem Schreibtisch angeschnallt saß, nickte ihm zu und sagte:
»Danke, dass Sie gekommen sind, Commander. Ich glaube, Sie kennen meine Besucherin.«
Phillip wandte sich zur Seite und rief überrascht: »Bethany! Was tun Sie hier?«
»Hallo, Hoheit«, sagte sie, drehte sich auf ihrem Platz und streckte ihm die Hand hin, die er mit der freien Hand ergriff.
»Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Ich hatte eine Menge zu tun«, erwiderte er. Dann zog er sich zu dem Platz neben ihrem und schnallte sich an. Als er sicher saß, wandte er ihr das Gesicht zu und sagte: »Das beantwortet meine Frage nicht. Wie sind Sie hierher gekommen?«
»Mit Großadmiral Beltons freundlicher Unterstützung«, antwortete Andrejew. »Mrs. Drake ist, wie es scheint, auf einer Mission. Unglücklicherweise sehe ich nicht, wie sie erfolgreich sein kann, da sie keine Genehmigung hat, Ihre Reise über Eulysta hinaus fortzusetzen.«
»Mission?«, fragte Phillip.
Bethany nickte. »Ich habe Kapitän Andrejew mein Problem erläutert. Da er wusste, dass Sandar und Alta Schwesterkolonien sind, fragte er mich, ob ich Sie kenne.«
»... Und da Sie und Mrs. Drake alte Freunde sind, dachte ich, ich würde sie und ihr Problem an Sie weitergeben, Commander«, sagte Andrejew. »Sie mögen in einer günstigeren Position als ich sein, um Mrs. Drake zu helfen oder ihr wenigstens zu erklären, warum unmöglich ist, was sie wünscht.«
»Das klingt geheimnisvoll.«
»Überhaupt nicht«, antwortete Bethany. »Es dauert bloß zu lange, um es ausführlich zu erklären.«
»Sind Sie hungrig?«, fragte er.
Bethany nickte.
»Gut, dann können Sie es doch bei einem frühen Abendessen erklären ... Wenn Ihnen das recht ist, Sir.«
Andrejew machte eine Geste wie jemand, der einen schweren Frachtbehälter von sich stößt, der sich irgendwie losgerissen hat und ziellos im Raum treibt. »Sie sind herzlich eingeladen, Commander. Ich fürchte nur, dass Mrs. Drakes Bedürfnisse jenseits meines Zuständigkeitsbereichs und meines Ranges sind.«
»Ich verstehe, Sir. Wir werden Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten. Bethany, wie wäre es mit einem kurzen Ausflug zur Offiziersmesse?«
»Danke sehr, Hoheit.«
»Bitte, mein Name ist Phillip. Ich versuche die Leute daran zu gewöhnen, dass sie in mir nichts weiter sehen als einen kolonialen Marineoffizier.«
»Funktioniert es ... äh, Phillip?«
»Überraschend gut«, antwortete er. »Fragen Sie Kapitän Andrejew. Der Versorgungsoffizier der Werft scheint ein besonderes Vergnügen daran zu haben, meine Anforderungen mit dem Stempel ›abgelehnt‹ zurückzuschicken.«
Die Orbitalwerft Delta Sieben war mehr als ein kompakter Komplex von Werftanlagen, Docks, Werkstätten und Materiallagern. Zusätzlich zu ihrer Hauptfunktion verfügte sie über ein vollständig eingerichtetes Krankenhaus, wo Ärzte verletzte und kranke Besatzungsmitglieder behandelten, während das Werftpersonal mit der Reparatur ihrer Schiffe beschäftigt war.
Für jene, die den Kampf ohne körperliche Verletzungen überstanden hatten, gab es eine große Ruhe- und Entspannungszone, um psychische Verletzungen und Stresssymptome zu behandeln. Teil dieser Einrichtung war ein erstklassiges Restaurant, das Besatzungsmitgliedern, die der normalen Bordrationen überdrüssig waren, Delikatessen servierte. Tatsächlich hätte der Chefkoch des Restaurants ohne weiteres für die besten Restaurants in Paris kochen können, wäre er nicht ein Roboter gewesen.
Phillip schlürfte Wein aus einem Trinkballon, als er Bethany in einer kleinen Nische gegenüber saß. Eine gleichmäßige kühle Brise wehte über die beiden hin. Die Luft war von einem sich automatisch einschaltenden Ventilator in der Wandverkleidung der Nische in Bewegung gesetzt worden und vermittelte eine Illusion von Schwere.
»Die lange Reise scheint Sie nicht ermüdet zu haben, Bethany«, sagte er, nachdem er getrunken hatte. »Sie sehen schöner aus als je zuvor.«
Sie merkte, dass sie errötete, und dankte ihm für das Kompliment. »Ich nehme an, dass mein Mann unseren Sohn erwähnt hat?«
Phillip lachte. »Erwähnt? Ich glaube, er hat jedem Offizier der Flotte Bilder von seinem Sohn gezeigt! Danach würde ich vermuten, dass Ihr Sohn der berühmteste Säugling im ganzen System Spica ist.«
Bethany war momentan entsetzt. »Sie machen Witze!«
Phillip lächelte. »Na, vielleicht übertreibe ich ein bisschen. Aber er hat Richard den Zweiten auf einem Bildschirm seiner Befehlszentrale. Ich habe das Bild dort selbst gesehen. Und ich glaube, dass er jede Sendung, die er von Ihnen erhalten hat, abrufbereit eingespeichert hat.«
Mit Phillip zu sprechen, fiel ihr überraschend leicht, und bevor sie sich's versah, hatten sie ihre Trinkballons geleert und sich halbwegs durch zwei Salatteller gearbeitet. Dass die Kunst, zuhören zu können, ihm als König zustatten kommen würde und deshalb schon von Kindheit an systematisch eingeübt worden war, kam ihr nicht in den Sinn.
Als Bethany schließlich geendet hatte, bemerkte sie etwas erstaunt, dass sie während ihres Vortrags beinahe das ganze Hauptgericht Filet Mignon aufgegessen hatte.
»Ich verstehe«, sagte Phillip Walkirk. »Nachdem Sie entschieden hatten, dass mit den Ryall vernünftig geredet werden kann – oder wenigstens mit Varlan –, besorgten Sie sich eine Schiffspassage durch den Nebel nach Eulysta, um uns darüber zu informieren.«
»So ungefähr«, bestätigte Bethany. »Ich muss zu Richard und ihm erklären, was ich gefunden habe. Er ist der Einzige, den ich kenne, der mich wahrscheinlich ernst nehmen wird.«
»Und dies war Ihnen so wichtig, dass Sie Ihren kleinen Sohn zu Haus in der Obhut Ihres Onkels ließen und den Entschluss fassten, Ihr Leben zu riskieren, indem Sie Ihren Mann im Kriegsgebiet besuchten?«
Bethany dachte darüber nach und nickte. »Denken Sie, dass ich eine schlechte Mutter bin, weil ich ihn verlassen habe?«
»Nein. Wenn Ihnen die Sache so wichtig ist, und selbst wenn es nur eine winzige Chance gibt, diesen Krieg zu beenden, dann mussten Sie es tun. Was Ihre Theorie betrifft ...«
»Sie halten sie für verrückt, nicht wahr?«
»Ich will Sie nicht belügen. Ihre Theorie steht im Widerspruch zu meiner Erfahrung und zu den Erfahrungen praktisch aller Leute, die ich kenne, und mein Volk hat von Anfang an gegen die Ryall gekämpft. Welche Beweise haben Sie?«
»Nur die Tatsache, dass Varlan mein Angebot ablehnte, ihr einen männlichen Gefangenen als Partner zu bringen, obwohl ihre Instinkte das Gegenteil verlangten.«
»Vielleicht hat sie gelernt, das zu sagen, was Sie gern hören möchten«, sagte Phillip in einem Versuch, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Zu seiner Überraschung nickte Bethany und sagte: »Es ist möglich, nehme ich an. Trotzdem glaube ich, dass ich sie im Lauf der Zeit, die ich mit ihr verbrachte, gut genug kennen gelernt habe, um das auszuschließen.«
»Vielleicht haben Sie Recht«, meinte er. »Aber warum hat sonst niemand einen Gefangenen bekommen, mit dem vernünftig über das Thema menschlicher Existenz diskutiert werden kann? Wenn Varlan Sie nicht belügt, dann ist dies die erste Konversion eines gefangenen Ryall, von der ich bisher gehört habe.«
»Vielleicht liegt es daran, dass fast alle Gefangenen der militärischen Kaste angehören«, erwiderte Bethany. »Wir haben sehr wenige von den Kasten der Verwalter oder Wissenschaftler, nicht wahr?«
»Nun, das kann ich wahrscheinlich nachprüfen.« Phillip zog seinen mobilen Datenanschluss aus dem Futteral an seinem Gürtel und kritzelte eine Frage auf die Mattscheibe. Gleich darauf leuchtete sie auf, und er studierte die Ausgabe, dann pfiff er leise durch die Zähne.
»Was ist los?«
»Können Sie sich vorstellen, dass es mindestens einen weiteren gefangenen Ryall der Verwalterkaste gibt, und zwar hier auf Corlis?«
Bethany sah ihn verdutzt an, dann wandte sie sich um und starrte die weiße und blaue Welt an, die über dem nahen Fenster hing. »Corlis? Hier auf unserem Corlis?«
»Genau so. Ich entnehme Ihrem Gesichtsausdruck, dass diese Nachricht Ihr Interesse weckt.«
Bethany hörte ihn kaum. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Endlich sah sie Phillip an und sagte: » Ich würde gern Ihre ehrliche Meinung hören. Bitte schonen Sie nicht meine Gefühle. Wenn Sie glauben, ich sei durchgedreht, sagen Sie es mir bitte.«
»Selbstverständlich.«
»Sie sind besorgt, dass Varlan mich für einen Einfaltspinsel hält, dem man jeden Bären aufbinden kann, richtig?«
»Ich würde es diplomatischer ausgedrückt haben, aber ja.«
»Sie stimmen der Ansicht zu, dass die Kaste der Wirtschaftsführer und Verwalter anders denkt als die Kaste der Militärs?«
Er nickte. »Das ist anzunehmen.«
»Wie wäre es dann, wenn ich meine Untersuchung auf einen zweiten Ryall ausdehnen würde? Wie, wenn ich diesen anderen Verwalter oder Wirtschaftsfachmann überzeugen kann, dass es unseren beiden Spezies möglich ist, in Frieden zu koexistieren?«
»Dann würde ich sagen, dass Sie ein zweifaches Wunder gewirkt haben.«
»Vielleicht kann ich Varlan bewegen, mir zu helfen«, überlegte Bethany.
»Wie meinen Sie das?«
»Ach, habe ich es Ihnen nicht gesagt? Varlan begleitet mich nach Spica. Das ist ein Grund, warum ich so viele Schwierigkeiten habe. Kein Kriegsschiff lässt einen Ryall an Bord.«
»Ach, da bin ich nicht so sicher. Ich kann mir eins vorstellen, das es tun würde, sobald wir es wieder zusammengebaut haben.«
»Welches Schiff?«
»Queen Julia. Wir werden in einem Monat in die Kampfzone zurückkehren und könnten Raum für eine kleine Menagerie frei machen.«
»Bedeutet das, dass Sie mir glauben?«
»Es bedeutet, dass genug auf dem Spiel steht, um Ihr abenteuerliches Projekt nicht von vornherein abzulehnen.«