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Varlan von den Duftenden Wassern dachte über das Leben nach, als sie vor dem breiten Fenster stand und die sich windende Masse von rosigem Protoplasma in dem sterilen Raum jenseits des Fensters betrachtete. Richard Clarence Drake war ein großes Kind (hatte man ihr erzählt), das bei der Geburt über vier Kilogramm wog. Bethany hatte Varlan erlaubt, den gesamten zehnstündigen Prozess zu beobachten, der im Eintritt des kleinen Richard in die Welt gipfelte, und Varlan konnte nicht entscheiden, ob sie mehr verwirrt oder angewidert war.
Die Menschen nannten Varlan und ihresgleichen »Echsen«, nach einer Gattung von Tieren auf ihrer Heimatwelt, die eine oberflächliche Ähnlichkeit mit den Angehörigen Der Rasse hatten. In Wirklichkeit war das natürlich alles, worin die Ähnlichkeit bestand – oberflächlich. Denn wie sowohl Exobiologen der Menschen wie auch solche der Ryall entdeckt hatten, nachdem sie auf die erste Welt mit fremdem intelligentem Leben gestoßen waren, führten verschiedene Biosphären oft zu radikal verschiedenen Lösungen. So hatte Varlan in ihrem Studium der Erde gelernt, dass verschiedene Spezies dort »Affen« genannt wurden. Diese Verwandten der Menschen hatten ihre Aufmerksamkeit gefunden, weil ihre den Menschen ähnliche Gestalt zu der Folgerung geführt hatte, dass sie Erkenntnisse über die Menschen gewinnen könnte, indem sie ihre nahen Verwandten studiere.
Es stellte sich heraus, dass nur einige der Affen eng mit den Menschen verwandt waren. Das war die Gruppe, die »Altweltaffen« genannt wurde. Diese Affen teilten einen gemeinsamen Vorfahren mit den Menschen, nämlich ein lemurenartiges kleines Tier. Die andere Gruppe, die »Neuweltaffen« – die Unterscheidung zwischen »alt« und »neu« in diesem Zusammenhang entging Varlan vollkommen –, stammte von einem ganz anderen Vorfahren ab, der Spezies der Tarsier. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Arten von Affen war zufällig, ein Resultat ähnlicher Umweltfaktoren, die ähnliche Anordnungen von Form und Funktion erzeugt hatten.
So war es mit Varlan und den Echsen der Erde. Beide besaßen schuppige Haut und ähnliche Färbung, aber die Unterschiede überwogen bei weitem die Ähnlichkeiten. So war Varlan warmblütig und ein Sechsfüßler. Ihre Art hatte halb aquatisch gelebt und erst in einem späten Entwicklungsstadium festes Land bewohnt – wie das irdische Krokodil, das Varlan an ihre eigenen fernen Vorfahren erinnerte.
Die andere Ähnlichkeit zwischen Der Rasse und den Echsen rührte naturgemäß von der Tatsache her, dass beide Eier legten, um sich fortzupflanzen, und das Ausbrüten der Sonnenwärme überließen. Die Menschen hatten Varlan erklärt, dass Säugetiere, eine Gattung, die auf Darthan und den meisten Welten der Hegemonie unbekannt war, ein – manchmal auch zwei oder noch mehr – lebendes Junges zur Welt brachten, und das die Mutter mit den großen Brustdrüsen säugte (eine widerliche Vorstellung), die so stark zur weiblichen Gestalt beitrugen. Eine Beschreibung des Vorganges zu hören und ihn selbst zu beobachten, war jedoch zweierlei.
Zwar fand Varlan den Anblick des schleimigen kleinen Kopfes, der am Ausgang des Geburtskanals erschien, ziemlich abstoßend, doch konnte sie wenigstens intellektuell verstehen, warum der Reproduktionsprozess auf die Menschen eine so tiefe Wirkung hatte. Verstand man, was die Lebendgeburt bei Säugetieren für diese bedeutete, so konnte man viele ihrer Grundeinstellungen verstehen.
An erster Stelle war ihre Sozialstruktur zu nennen, die auf der untersten Ebene von einem Brutpaar und ihren Sprösslingen gebildet wurde. Die menschliche Familie war eine kleinere Einheit als die Sippen Der Rasse. Unter Varlans Artgenossen bestanden die Sippen aus jeweils mehreren Dutzend Individuen, die untereinander blutsverwandt waren, für die solche Verwandtschaftsbeziehungen jedoch weit weniger klar waren als unter Menschen. Das lag daran, dass die weiblichen Ryall ihre Eier ablegten und dann von der Sonnenwärme ausbrüten ließen. Die ausgeschlüpften Jungen wurden gemeinschaftlich erzogen, da es unmöglich zu unterscheiden war, welches das Kind welcher Eltern war. Gewiss, manche Jungen hatten bestimmte Zeichnungen oder besonders lange Schnauzen oder Schwänze, die dem einen oder dem anderen Erwachsenen ähnlich waren. Die tatsächliche Vaterschaft oder Mutterschaft zu beanspruchen, kam unter den Mitgliedern Der Rasse allerdings selten vor. Wenn eine Mutter sich darauf versteifte, herauszufinden, welche von den neu geschlüpften Jungen ihre eigenen waren, gaben die Sippenältesten ihr einen Namen ... und es war kein besonders höflicher Name.
Das menschliche Reproduktionssystem bedeutete, dass Mütter nicht umhin konnten, zu wissen, wer ihre Sprösslinge waren. Zum einen waren sie immer anwesend, wenn das Junge »schlüpfte«, zum anderen war es noch für lange Zeit völlig abhängig von seiner Mutter, was bedeutete, dass die Bindung zwischen Mutter und Kind stark sein musste.
Das Ergebnis dieser ganzen Säugetierbiologie war, dass Menschen in kleineren Verbänden lebten als Ryall. Diese »Familienorientierung« führte sie zu einer mehr individualistischen Lebenseinstellung und mehr Unzufriedenheit mit ihrem Los im Leben. Varlan war Mitglied der Verwalterkaste und wünschte es sich nicht anders. Sie litt weder unter dem Gefühl, dass ihr Leben irgendwie unerfüllt sei, noch unter dem Verlangen zu sein, was sie nicht war. Ihre Beobachtungen der Menschen in ihrem Umkreis hatten sie überzeugt, dass beide Zustände in der menschlichen Psyche weit verbreitet waren.
»Ist er nicht reizend?«, fragte eine Stimme neben ihr. Varlan war so tief in Gedanken versunken, dass sie Dr. Olivia Southington nicht bemerkt hatte. Sie wandte den Kopf und erwiderte: »Ich werde mich auf Ihr Wort verlassen. Schließlich ist dies der erste menschliche Säugling, den ich je gesehen habe. Er ähnelt einigen älteren Männern, denen ich begegnet bin.«
Olivia Southington lachte. »Ich weiß, was Sie meinen. Ohne Haar und mit diesen zerknautschten Gesichtern sehen Neugeborene wie verdrießliche alte Männer aus. Trotzdem finden wir sie hinreißend. Ich nehme an, dass es mit Ihren Kindern genauso ist.«
»Ja. Die frisch ausgeschlüpften Jungen werden sehr ... ich werde das Menschenwort ›geliebt‹ gebrauchen, obwohl die Bedeutung etwas anders ist.«
»Vielleicht ist ›gehegt‹ das Wort, nach dem Sie suchen.«
»Ja, gehegt kommt den wahren Empfindungen, die wir für sie haben, wahrscheinlich näher.«
»Es ist eine Schande, dass die gerade geschlüpften Jungen durch diesen Krieg gefährdet werden.«
Varlan starrte die Exobiologin an. Sie hatte lange genug unter den Menschen gelebt, um den Übergang von höflicher Unterhaltung zur geschäftlichen Angelegenheit zu erkennen, selbst wenn es im leichten Gesprächston geschah.
»Sie möchten unsere Haltung zu diesem Krieg erforschen, Dr. Southington?«
Die Frau lachte. »Ist es so offenkundig?«
»Ihre Absicht ist nicht schwer zu erkennen, selbst für eine Fremde.«
»Gut. Wenn Sie Ihre frisch geschlüpften Jungen so hegen, warum riskieren Sie ihr Leben in der Weise, wie Sie es tun?«
»Sie verstehen das falsch. Wir kämpfen diesen Krieg, weil unsere Erfahrung ist, dass wir sie andernfalls noch mehr in Gefahr bringen würden.«
Olivia Southington nickte. »Die Legende von den Schnellen Essern.«
»Ungeachtet dessen, was Jorge Santiago glaubt, sind die Schnellen Esser keine Legende. Sie existierten und löschten Die Rasse beinahe aus. Wir bekämpften sie eine sehr lange Zeit. Ich bin nicht sicher, dass Sie als Mensch verstehen, wie lange unser Krieg mit den Schnellen Essern dauerte.«
»Generationen.«
»Tausende von Generationen, Dr. Southington. Sie haben keine vergleichbare Erfahrung. Ich habe Ihre gelehrte Literatur über das Thema gelesen und beginne zu verstehen, wie Sie denken. Ihre Soziologen haben diesen immerwährenden Streit über Natur gegen Erziehung, ob genetische Prägung oder äußere Einflüsse die Entwicklung Ihrer Jungen stärker beeinflussen. Glauben Sie mir, Dr. Southington: Über lange Zeiträume betrachtet, entsteht genetische Prägung durch äußere Einflüsse der Lebenswirklichkeit und wird schließlich bestimmend. Aber am Maßstab Der Rasse gemessen, seid ihr Menschen ganz von äußeren Einflüssen bestimmt – außengesteuert, sagt man, glaube ich. Genetisch seid ihr unbeschriebene Blätter? ...«
»Unbeschriebenes Blatt ist der richtige Ausdruck.«
»Der Mensch wird als ein unbeschriebenes Blatt geboren, und seine Eltern und andere Erwachsene programmieren in frühem Alter alles in ihn hinein, was er weiß. Wir auf der anderen Seite kämpften so lange gegen die Schnellen Esser, und mit einer so hohen Mutationsrate, dass wir einen Instinkt entwickelten, sie zu töten. Wir brauchen nicht lernen, sie zu hassen, die Kodierung ist bereits in uns. Sicherlich kennen Sie einzelne Menschen, die sich beim bloßen Anblick eines Tieres fürchten.«
»Ich mag keine Ratten, und sehr viele Menschen haben eine Abneigung gegen Schlangen.«
»Ich habe einen Instinkt, Schnelle Esser zu hassen, und sie sind seit mehr als vier Dutzend Generationen ausgestorben. Es ist Teil meiner Psyche, und ich kann nichts daran ändern.«
»Müssen Sie es an uns Menschen auslassen?«
»Unsere Erfahrung mit den Schnellen Essern lehrte uns die Gefahr, zwei intelligente Arten zu haben, die einander dasselbe Territorium streitig machen. Konflikt ist unausweichlich. Im Gegensatz zu Ihrer Art hypnotisiert Die Rasse sich nicht selbst, um unangenehmen Tatsachen aus dem Weg zu gehen. Auch überlassen wir die Lösung bekannter Probleme nicht der nächsten Generation.«
»Aber Sie bringen diese Generation in wirkliche Gefahr, um ein hypothetisches Risiko in der Zukunft zu vermeiden.«
»Wir glauben nicht, dass das Risiko in der Zukunft hypothetisch sein wird.«
»Nehmen wir einmal theoretisch an, dass Ihre Position zutreffend ist. Warum griffen Sie uns in dem Augenblick an, als Sie sich unserer Existenz bewusst wurden? Warum warteten Sie nicht, bis Sie alles über uns in Erfahrung gebracht hatten, was Ihnen zugänglich war? Dann hätten Sie doch noch genug Zeit gehabt, sich auf den Krieg vorzubereiten, nicht wahr?«
Varlan hatte über diesen Punkt seit ihrer Gefangennahme oft nachgedacht. Wäre es nicht besser gewesen, die Stärke des Feindes auszuspähen, bevor man den Kampf gegen ihn aufnahm?
»Vielleicht wäre es besser gewesen, Freundschaft vorzugeben, bis wir mehr über Sie gelernt hätten, um Sie umso sicherer zu besiegen. Unglücklicherweise sind Sie die erste intelligente Art, der wir begegneten, seit wir der Bedrohung durch die schnellen Esser ein Ende machten, also fehlte uns die Erfahrung in diesen Dingen.«
»Damit sagen Sie, dass der Angriff auf die Flüchtlinge von New Providence ein Fehler war?«
»Es war ... eine instinktive Reaktion. Ob sie ein Fehler war, wird durch das Schicksal Ihrer Invasionsflotte bestimmt.«
»Ich weiß es zu würdigen, dass Sie so aufrichtig zu mir sind.«
»Meine Art sieht keine Notwendigkeit, sich vor unangenehmen Wahrheiten zu verstecken, Dr. Southington. Wir täuschen uns nicht selbst.«
»Unsere beiden Arten haben Fehler, Varlan. Aber wir haben auch Intelligenz. Diese Intelligenz gibt uns Menschen die Fähigkeit, unsere Reaktionen auf Herausforderungen zu modifizieren. Bethany meint, das Gleiche gelte für Ryall.«
»Ja, Bethany hat oft mit mir über diese Vorstellung gesprochen.«
»Besitzen Sie die Fähigkeit, Ihrer Intelligenz Vorrang vor Ihrem Instinkt zu geben?«
»Das zu bestimmen sind Sie hier, nicht wahr, Dr. Southington?«
»Ja, das ist richtig.«
Lieutenant Sean Parker schwamm in einem Behälter mit sauerstoffangereicherter Flüssigkeit und starrte auf die Instrumente im Inneren seines Tanks. Neben ihm strömte blau gefärbtes Blut durch eine farblose Nabelschnur aus seinem Kampfanzug, während hellrotes Blut durch die zweite Schlauchleitung zurückströmte. Beide Leitungen waren an einem Anschluss über seiner linken Hüfte fest gemacht und durch diesen mit seinem Blutkreislauf verbunden. Parker atmete nicht. Er konnte nicht. Seine Lungen enthielten die gleiche schwere Flüssigkeit, in der er untergetaucht war. Tatsächlich waren alle Hohlräume seines Körpers angefüllt von mit Sauerstoff angereicherter Flüssigkeit.
»Gruppe Merkur. Lagemeldungen.«
Die Worte in seinen Ohren wurden in dem klaren Kontraalt gesprochen, der die Stimme, die sie sprach, als Computer synthetisiert kennzeichnete. Wie Parker lag die Sprecherin, sein Geschwader-Commodore, untergetaucht in einem Beschleunigungstank, die Lungen voll von mit Sauerstoff angereichertem Fluorokarbon und unfähig, ein Geräusch hervorzubringen. Ihre Worte wurden von dem kleinen induktiven Aufnahmegerät erzeugt, das hinter ihrem rechten Ohr angebracht war. Es steuerte und verarbeitete die Energieabgabe zahlreicher Elektroden, die unter ihrer Schädeldecke inmitten der Furchen ihres zerebralen Kortex sorgfältig implantiert waren.
Es waren die mikrochirurgisch implantierten Verstärkungen gemeinsam mit dem langen Training zu ihrem richtigen Gebrauch, welche die Elitebesatzungen der Geschwader der Gruppe Merkur auszeichneten, deren Hochleistungsschiffe die Aufgabe der Vorhut übernommen hatten: bewaffnete Aufklärung und handstreichartige Besetzung feindlicher Faltpunkte, bevor die Ryall den Alarm verbreiten konnten.
» Climber sprungbereit«, meldete Parker. Er benutzte seine eigenen Implantate, um aus den aufgezeichneten Antworten die jeweils passende herauszusuchen. Seine persönliche simulierte Stimme hatte er auf einen tiefen Bariton eingestellt, um sie von denen seiner drei Besatzungsmitglieder zu unterscheiden.
Er hörte die Bereitschaftsmeldungen der übrigen zehn Schiffe seines Geschwaders, dann die Meldungen aller drei Geschwader der Gruppe Merkur an die Flotte. Nach dem Transit von Antares nach Eulysta war nur ein Geschwader zur Sicherung des feindlichen Faltpunktes erforderlich gewesen. Eulysta war ein Vorpostensystem, und das Oberkommando hatte entschieden, seine Kräfte nicht zu verzetteln. Das Alpha Geschwader hatte bei der Invasion von Eulysta die Vorhut gebildet, würde aber diesmal zurückbleiben. Der mit höchster Beschleunigung geführte Vorstoß durch das System hatte ihre Maschinen abgenutzt, und bis zur nächsten Überholung taugten die Schiffe nur noch für Sicherungsaufgaben innerhalb des Systems.
Diesmal fielen die Pflicht und die Ehre den restlichen drei Schwadronen der Gruppe Merkur zu. Die Schwadronen Beta, Gamma und Delta hatten nach der beschleunigten Durchquerung des Systems Carratyl den Faltpunkt Carratyl/Spica zu besetzen und zu sichern. Diesmal aber bestand die Vorhut nicht nur aus schnellen bewaffneten Aufklärern. Das Geschwader Gamma verfügte über drei Zerstörer, die für hohe Beschleunigungen umgerüstet waren. Neben verstärkten Maschinen und zusätzlichen Tanks für die vierfache Menge an Reaktionstreibstoff waren die Schiffe der Gruppe Merkur für ihre Klasse ungewöhnlich schwer bewaffnet – ein Beweis, dass Ingenieure Wunder tun können, wenn an die Lebensdauer ihrer Konstruktionen keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden.
»Gruppe Merkur an Flotte. Geschwader Beta, Gamma, Delta einsatzbereit«, kam die Meldung von Captain Danvers an Bord der Rocket.«
»Verstanden, Gruppe Merkur. Vorausabteilung kann Generatoren aufladen.«
»Geschwader Beta, Generatoren aufladen.«
Die Geschwaderführung bestätigte den Befehl und gab ihn an die Schiffsbesatzungen weiter. Parker aktivierte die Bordsprechanlage und sagte: »Es ist so weit. Schnallt euch an, ab jetzt kann es holprig werden.«
Der Scherz wurde mit dem angemessenen (und synthetisierten) Schmunzeln quittiert. Da sie in ihren Beschleunigungstanks schwammen, Lunge und Eingeweide voll übel riechender, scheußlich schmeckender Flüssigkeit, brauchten sie sich nicht anzuschnallen. Die Climber könnte mit Flugzeuggeschwindigkeit auf einen kleinen Himmelskörper prallen, und Parker mit seiner Besatzung würde überleben, vorausgesetzt, die Tanks blieben intakt. Das dämpfende Volumen der Beschleunigungsflüssigkeit würde seine inneren Organe vor Beschleunigungen bis zum Fünfzigfachen der Erdschwere schützen. Bei einem Aufprall konnte sie noch größere Kräfte abfedern.
Er wünschte sich bloß, dass es nicht so unbequem wäre. Schlimmer als die chirurgischen Eingriffe und die endlosen Stunden, die er für Übungen benötigt hatte, um seinen Körper an den Umgang mit den Implantaten zu gewöhnen, war das ständige Gefühl zu ertrinken. Unerfreulich war auch der Ausblick auf die Hustenanfälle, mit denen sich Lunge und Bronchien von der Flüssigkeit reinigen würden, sobald das Geschwader den Faltpunkt gesichert hatte und sie die Beschleunigungstanks verlassen konnten.
»Generatoren aufgeladen«, meldete Parker fast zeitgleich mit den anderen Besatzungen.
»Sie haben Starterlaubnis für den Faltraumtransit«, sendete Captain Danvers.
»Verstanden. Faltraumtransit in zehn ... neun ... fünf ... vier ... drei ... zwei ... eins ... null!«
Drake sah die zehn Echozeichen aus seiner Lagedarstellung verschwinden und wartete mit der gleichen inneren Anspannung, wie er sie beim Verlassen des Nebels gefühlt hatte.
»Zwei Minuten, Admiral.«
»Sehr gut, Nachrichtenoffizier. Bringen Sie die Flotte in Position. Der Rest der Gruppe Merkur wird zuerst den Sprung machen, gefolgt von den anderen Gruppen in der festgelegten Reihenfolge. Alles beschleunigt sofort nach dem Durchbruch. Die Formationen können sich dann unterwegs neu ordnen. Geben Sie diese Befehle zusammen mit dem allgemeinen Signal zur Einsatzbereitschaft durch.«
»Jawohl, Sir.«
Der Chronometer fuhr fort, die kürzeste Zeitspanne abzuzählen, die benötigt wurde, bevor einer der Aufklärer aus dem Faltpunkt zurückkehrte, um Entwarnung und freien Transit für die Flotte zu melden. Wie bei Eulysta, so sorgte sich Drake auch jetzt, was er tun würde, wenn die zwei Minuten verstrichen und keine Nachricht von den Verhältnissen jenseits des Faltpunktes käme. Um sich zu beschäftigen, zählte er seine Herde, die beträchtlich angewachsen war, seit sie den Nebel verlassen hatten. Mehr als einhundert Schiffe hatten am Durchbruch von Antares nach Eulysta teilgenommen. Von diesen war ein Dutzend abgezweigt, um den Planeten Corlis zu besetzen. Angeführt von Admiral Beltons Victory nahmen seine alten Bekannten Dagger und Dreadnought an dieser Aktion teil. Sie waren noch dort und unterstützten Maßnahmen zur Einrichtung eines vorgeschobenen Stützpunktes und Nachschublagers für die Invasionsflotte auf der unbewohnten Welt. Nach der Planung sollten sie sich erst einen Monat später wieder der Flotte anschließen. Drake hoffte, dass die Victory ohne den Admiral schon früher zur Flotte stoßen würde, weil sie die Feuerkraft des großen Schlachtschiffes brauchte.
Um sie zu ersetzen, war die Dritte Terranische Flotte mit vier Schlachtschiffen größer als Conqueror II zu ihm gestoßen. Neben Admiral Sergej Gower von der sandarischen Marine hatte er nun drei Flaggoffiziere unter seinem Kommando, die ihn allesamt an Dienstalter und Rang übertrafen. Zwei von ihnen – Kreuchner und Wu – würden zweifellos glücklich sein, an seine Stelle zu treten, sollte seine Führung nicht den hochgesteckten Erwartungen entsprechen. Der Stress, den das für ihn mit sich brachte, war ihm lästig, aber er hielt ihn in Trab. Seit er Alta verlassen hatte, war sein Leben eine fortgesetzte Gedächtnisübung zur Beantwortung der Frage, was er vergessen haben mochte.
Mit den neuen Ersatzeinheiten zählte Drakes Invasionsflotte annähernd vierhundert Kampfschiffe und bewaffnete Hilfsschiffe. Die dreifache Zahl würde schließlich zur Eroberung Spicas benötigt.
Zusätzlich zu den Kampfgruppen gehörten zur Flotte etwa achtzig große Tanker. Sie waren die vergangenen 24 Stunden vollauf beschäftigt gewesen, ein längsseits gehendes Kriegsschiff nach dem anderen zu betanken, denn alle hatten ihren Treibstoff während der forcierten Durchquerung des Systems Eulysta größtenteils verbraucht. Die dritte Kampfgruppe war nur sechs Stunden früher eingetroffen; nach dem Hochgeschwindigkeitsflug durch das System waren ihre Tanks nahezu trocken.
Drake sah den Chronometer gegen null weisen. Gerade als er diese magische Nummer berührte, gab es die Meldung eines Ausbruchs.
»Welches Schiff?«
» Climber von der Gruppe Merkur, Admiral.«
»Stellen Sie mich durch.«
»Jawohl, Sir.«
»Lieutenant Parker, Climber, Admiral«, sagte eine synthetisierte Stimme nach ein paar Sekunden.
»Melden Sie, Lieutenant.«
»Der Faltpunkt ist frei von feindlichen Streitkräften, Sir. Die Flotte kann mit dem Faltraumtransit beginnen, sobald sie bereit ist.«
»Was ist mit dem Feind?«
»Unsere Sensoren nahmen in der kurzen Zeit, die wir hatten, um uns umzusehen, eine Menge Verkehr auf. Der größte Teil davon scheint auf den Planeten konzentriert zu sein. Einige Schiffe befinden sich offenbar im Transit zwischen dem Planeten und dem Faltpunkt Carratyl/Spica, Sir. Wir konnten aber nicht feststellen, ob sie kamen oder gingen.«
»Verstanden«, sagte Drake. Wahrscheinlich würde es mehrerer Stunden genauer Beobachtung bedürfen, um die Schiffe, die unterwegs zum Planeten waren, von jenen zu unterscheiden, die zum Carratyl/Spica-Faltpunkt unterwegs waren. Letztere konnten sie getrost ignorieren. Ihre Geschwindigkeit würde ihnen eine Umkehr außerordentlich erschweren. Wenn einige unterwegs zum Faltpunkt waren, würde die Gruppe Merkur jedoch ein weiteres Wettrennen zu bestehen haben. »Gibt es Erkenntnisse über den Planeten?«
»Nichts als allgemeine Energieabstrahlungen, Admiral. Der Planet ist auf der gegenüberliegenden Seite des Systems, von diesem Faltpunkt aus gesehen, also war eine genauere Beobachtung nicht möglich. Es ist ziemlich sicher, dass sie Zeit haben werden, sich auf den Angriff der Schiffe vorzubereiten, die Auftrag haben, die Marinebasis dort zu neutralisieren.«
Drake nickte. Sie hatten gewusst, dass Carratyls landwirtschaftlich geprägte Welt auf der gegenüberliegenden Seite des Zentralgestirns sein würde, wenn der Durchbruch aus dem Faltpunkt gelang. Tatsächlich hatten sie es als Vorteil in die Rechnung einbezogen, weil die Konstellation ihnen Gelegenheit geben würde, das System einzuschließen, bevor der Alarm verbreitet werden konnte. Andererseits würden die mit der Zerstörung der Marinebasis der Ryall beauftragten Schiffe es mit einem Feind zu tun bekommen, der reichlich Zeit zur Vorbereitung seiner Verteidigung hatte.
»Gibt es sonst etwas zu melden, Lieutenant?«
»Nein, Sir.«
»Sind Ihre Generatoren aufgeladen?«
»Sie werden es in 73 Sekunden sein, Sir.«
»Sehr gut. Das wird dann unser Ausgangspunkt sein. Nachrichtenoffizier, melden Sie der Flotte, dass der Rest der Gruppe Merkur und die Kampfgruppen Darthan und Carratyl mit Climber –« Drake blickte auf den Chronometer – »um 10:27:16 Uhr den Faltpunkt durchstoßen werden. Der Rest der Flotte wird in der vorbestimmten Reihenfolge in einminütigen Intervallen folgen. Alle Schiffe in Bereitschaft für den Faltraumtransit.«
Er hörte zu, wie Nachrichtenoffizier Carey den Befehl ausgab. Von allen Teilen der Flotte kamen knappe Bestätigungen und nichts weiter, doch konnte er die Spannung beinahe fühlen, die sich mit den Faltraumübergangsfeldern aufbaute. Ganze Geschwader bereiteten sich in kompakten Formationen auf den Durchbruch in feindlichen Raum vor. Mit der Ankunft dort würden sie willkürlich über den Faltpunkt verstreut sein, Opfer unberechenbarer Quanteneffekte. Es würde einige Zeit dauern, bis die Geschwader und Kampfgruppen sich wieder formierten.
»Zehn Sekunden, Admiral.«
Wieder echote die computererzeugte Startzählung durch das Schiff. »Zehn ... neun ... acht... sieben ... sechs ... fünf... vier ... drei ... zwei... eins ... null!«